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Als Gretchen schlafen gegangen war, fühlte sich Stephan von der Anstrengung und Aufregung des Tages zwar auch angegriffen, war aber zu ruhelos zum schlafen und ging noch bis spät in die Nacht auf dem Verdeck auf und ab, kaum gewahr der Sterne am Himmel und der dunklen Wellen zu seinen Füßen; er lebte nur in der nahen und fernen Zukunft. Endlich übermannte auch ihn die Müdigkeit, er wickelte sich in ein Stück Segeltuch und lagerte sich zu Gretchens Füßen.
Sie war schon vor neun Uhr eingeschlafen, und als sie die Augen aufschlug, war kaum die leiseste Andeutung von Tagesanbruch zu sehen. Sie erwachte aus einem jener lebhaften Träume, die unsern festesten Schlaf einfassen: Sie war mit Stephan in einem Boote auf weiter offener See, und in der zunehmenden Dunkelheit erschien etwas wie ein Stern, der immer heller und heller wurde, bis sie sahen, es sei die Jungfrau Maria im Nachen des heiligen Ogg, und als es näher und näher kam, war die Jungfrau Lucie und der Fährmann Philipp – und wieder nicht Philipp, sondern ihr Bruder Tom, der an ihr vorbei fuhr, ohne sie anzusehen; sie erhob sich und rief ihm zu und streckte die Arme nach ihm aus, und von der Bewegung schlug ihr eigenes Boot um, und sie begann mit Stephan zu versinken; da glaubte sie vor Angst zu erwachen und fand sich als Kind im Wohnzimmer des elterlichen Hauses; es war Abenddämmerung, und Tom saß bei ihr und war lieb und freundlich. Auf die köstliche Beruhigung dieses geträumten Erwachens folgte das wirkliche Erwachen, wo sie die Wellen gegen das Schiff plätschern hörte und den ahnungsvollen Sternenhimmel über sich sah. Einen Augenblick war sie wie außer sich, ehe ihr Geist sich aus dem wirren Gewebe der Träume zu lösen vermochte, aber bald drängte sich ihr die ganze furchtbare Wahrheit wieder auf. Stephan war jetzt nicht bei ihr; sie war allein mit ihrer Erinnerung und ihrer Qual. Das unwiderrufliche Unrecht, das für immer ihr Leben befleckte, war geschehen; sie hatte andern das Leben verbittert – andern, an die sie durch Vertrauen und Liebe geknüpft war. Eine Leidenschaft von wenigen kurzen Wochen hatte sie in die Sünden gestürzt, vor denen ihre Natur sonst am meisten zurückbebte – Treubruch und grausame Selbstsucht; sie hatte die Bande zerrissen, welche ihrer Pflicht Bedeutung gaben, sie hatte sich selbst geächtet, und nur von der launenhaften Eingebung ihrer eigenen Leidenschaft leiten lassen. Und wohin versprach sie diese zu führen? wohin war sie schon gekommen? Sie hatte gesagt, sie wolle lieber sterben als dieser Versuchung erliegen. Daran dachte sie jetzt, wo die Folgen des Falles eingetreten waren, ehe noch die Handlung selbst sich äußerlich vollzogen hatte. Das jahrelange Ringen nach dem Höchsten und Besten hatte wenigstens die Frucht getragen, daß ihre Seele, obschon verrathen, verführt und umstrickt, nie mit Bewußtsein in etwas Gemeines willigen konnte. Und hier – o Gott! – nicht um Glück handelte es sich hier, sondern um bewußte Grausamkeit und Härte; mußten ihr nicht Lucie und Philipp mit ihrem gemordeten Vertrauen und Hoffen ewig vor der Seele stehen? Ihrem Leben mit Stephan mußte die Weihe fehlen; von unsichern Trieben geleitet ging sie dann ewig in der Irre, im Labyrinth des Lebens ohne den rettenden Faden, an den sie einst in weitentlegenen Jahren, in der Hülfsbedürftigkeit der Jugend sich so fest gehalten hatte. Damals hatte sie allen Freuden entsagt, ehe sie sie kannte, ehe sie ihr erreichbar waren; damals hatte ihr Philipp – wie sie nun einsah, mit Recht – gesagt, sie wisse nichts von Entsagung; sie hatte gemeint, Entsagung sei ruhige Verzückung; jetzt sah sie ihr Aug' in Auge – jener wehmüthigen, geduldigen, lebendigen Kraft, welche den leitenden Faden des Lebens festzuhalten versteht; jetzt sah sie die Dornen, die unablässig die Dulderstirn der Entsagung drücken.
Während die Vergangenheit sie so mit festem Griff gepackt hielt, brach der Tag an und im Osten schimmerte das erste Frühroth. Sie erkannte Stephan, der vor ihr auf dem Verdeck im festen Schlafe lag, und bei seinem Anblick entrang sich ihrer Brust vor Jammer und Noth ein lang verhaltenes Schluchzen. Das bitterste Leid der Trennung war der Schmerz, den sie ihm bereiten mußte, und der Gedanke daran preßte ihrer Seele den heftigsten Nothschrei ab. Aber alles überwog doch die Angst, daß sie selbst vielleicht in dem Kampfe erläge, die Furcht, daß ihr Gewissen sich wieder einschläfern ließe und sich nicht zur Thatkraft erhöbe, als bis es zu spät sei. – Zu spät! Schon war es zu spät, andern Schmerz zu ersparen – war vielleicht für alles zu spät, nur nicht zur Umkehr vor dem letzten, verworfensten Schritt – dem Genusse eines Glückes, das gebrochenen Herzen entrissen war.
Die Sonne stieg herauf, und Gretchen erhob sich mit dem Bewußtsein, ein Tag des Widerstandes sei angebrochen. Noch hingen die Thränen an ihren Wimpern; sie zog sich den Shawl über den Kopf und sah in die aufgehende Sonne, die sich langsam rundete. Auch Stephan erwachte; er verließ sein hartes Lager und setzte sich neben sie. Mit dem scharfen Instinkt besorgter Liebe sah er beim ersten Blick etwas, das ihn erschreckte. Er hatte eine stille Angst vor einer Widerstandsfähigkeit in Gretchens Natur, die er nicht würde bemeistern können. Sein unruhiges Gewissen sagte ihm, er habe sie gestern zum Theil ihrer Freiheit beraubt, und er hatte zu viel Ehre, als daß er nicht hätte fühlen sollen, sie habe ein Recht zu Vorwürfen.
Aber Gretchen hielt das nicht für recht; sie war sich der eigenen Schwäche zu bewußt – war zu voll von der Zärtlichkeit, die sich immer regt, wenn man die Nothwendigkeit kommen sieht, andern eine Wunde zu schlagen. Als er sich zu ihr setzte, ließ sie ihm ihre Hand und lächelte ihn an – nur daß ihr Lächeln wehmüthig war; sie mochte ihn mit keinem Worte kränken, bis der Augenblick des Scheidens näher heranrückte. Und so frühstückten sie zusammen und wanderten auf dem Verdeck auf und nieder und ließen sich von dem Kapitän erzählen, um fünf Uhr hoffe er in Mudport zu sein – und jedem lag dabei eine Last auf der Seele; bei ihm war's eine unbestimmte Furcht, welche die kommenden Stunden schon verscheuchen sollten, wie er hoffte; bei ihr war's ein bestimmter Entschluß, den sie schweigend zu befestigen suchte. Den ganzen Morgen sprach Stephan sein Bedauern aus, daß sie so viel Ungemach zu erdulden habe, und wies auf die baldige Landung hin und die angenehme Bewegung und die behagliche Ruhe, die sie im Wagen haben würde; er wollte sich selbst beruhigen, indem er die Ausführung seines Planes als so gewiß voraussetzte. Lange Zeit begnügte sich Gretchen mit der Versicherung, sie habe eine gute Nacht gehabt und aus der Seefahrt mache sie sich nichts; es sei garnicht wie auf der offenen See, es sei nur nicht ganz so angenehm wie in einem Nachen auf dem Floß. Aber ein verhaltener Entschluß verräth sich durch die Augen, und je weiter der Tag vorrückte, desto mehr beunruhigte Stephan die Bemerkung, wie gesammelt und selbständig Gretchen sei. Er wünschte so sehnlichst, und wagte doch nicht von ihrer Heirath zu sprechen, und wo sie nachher hingehen wollten und was er für Schritte zu thun gedenke, um seinen Vater und die andern von allem zu benachrichtigen. Ihn verlangte nach einem Zeichen schweigender Einwilligung von ihr. Aber jedesmal, daß er sie ansah, empfand er eine stärkere Angst vor der ungewohnten, ruhigen Wehmuth in ihren Augen. Und immer tiefer versanken sie in Schweigen.
»Da sind wir vor Mudport«, sagte er endlich. »Jetzt, liebstes Herz« – dabei wandte er sich mit flehendem Blick zu ihr – »jetzt hast Du das schlimmste überstanden. Zu Lande soll's schneller gehn. In anderthalb Stunden sitzen wir zusammen im Wagen – da wirst Du Dich ausruhen.«
Gretchen fühlte, es sei Zeit zu reden; längeres Schweigen sei unfreundlich. Leiser als er selbst, aber fest und entschieden sagte sie:
»Wir bleiben nicht zusammen – wir scheiden.«
Stephan stürzte das Blut in's Gesicht.
»Wir scheiden nicht«, brach er los; »eher sterb' ich.«
Es war so wie er befürchtet hatte; ein Kampf stand bevor. Aber keins von beiden wagte ein Wort weiter zu sprechen, bis sie glücklich am Ufer waren. Am Landungsplatze stand ein dichter Haufen von Gaffern und Reisenden, die auf das Dampfschiff nach St. Ogg warteten. Indem Gretchen an Stephan's Arm hindurch eilte, hatte sie das unbestimmte Gefühl, als käme jemand aus der Menge auf sie zu und wolle sie anreden. Aber es ging zu rasch vorwärts, und sie dachte nur an die schwere Prüfung, die ihrer wartete.
Im nächsten Gasthof bestellte Stephan sofort einen Wagen. Gretchen achtete nicht darauf und sagte nur: »Ich bitte um ein Zimmer, wo wir uns setzen können.«
Stephan führte sie; sein Gesicht hatte den Ausdruck verzweifelter Entschlossenheit; als sie eingetreten waren, setzte Gretchen sich nicht, sondern sagte mit fester Stimme:
»Ich gehe nicht weiter; wir scheiden hier.«
»Gretchen«, erwiderte er im Tone eines Mannes, der einen qualvollen Kampf beginnt, »willst Du mich tödten? Was hilft das jetzt? wir sind zu Ende.«
»Nein, nicht zu Ende«, sagte Gretchen. »Zu weit freilich sind wir gegangen, weiter – Gott sei's geklagt! – als gut ist. Aber nun gehe ich nicht noch weiter. Versuche mich nicht zu bereden. Gestern hatte ich keine Wahl.«
Was sollte er thun? Ihr nahe zu kommen wagte er nicht; ihr Zorn konnte sich regen und eine neue Scheidewand aufrichten. In einer Verwirrung, die an Wahnsinn grenzte, ging er auf und ab.
»Gretchen«, sagte er endlich, indem er vor ihr stehen blieb und im Tone flehenden Jammers sprach; »habe Mitleid mit mir – hör' mich an – vergieb mir, was ich gestern gethan. Jetzt will ich Dir gehorchen – will nichts ohne Deine volle Einwilligung thun. Aber vergifte nicht unser Leben für immer durch einen übereilten und verkehrten Entschluß, der niemandem nutzt – der nur zu neuem Unheil führt. Setz' Dich, Geliebte; warte noch – überlege Dir was Du thun willst. Behandle mich nicht, als könntest Du mir nicht trauen.«
Er hatte das wirksamste Mittel ergriffen, aber unbeirrt blieb Gretchens Wille fest auf das Scheiden gerichtet; sie war entschlossen, zu dulden.
»Wir dürfen nicht warten«, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme; »gleich jetzt müssen wir scheiden.«
»Wir können nicht scheiden«, gab Stephan ungestüm zur Antwort. »Ich kann's nicht ertragen. Was hilft es Dir, mich so elend zu machen? Der Schlag ist einmal gefallen. Wem kann es noch frommen, wenn Du mich zur Verzweiflung treibst?!«
»Ich will mich auf keine Bahn begeben, selbst für Dich nicht«, erwiderte Gretchen mit zitternder Stimme, »die mit einem wissentlichen Unrecht anfängt. Was ich Dir in Basset sagte, fühle ich noch: ich wäre lieber gestorben als in diese Versuchung gefallen. Hätten wir uns damals getrennt, es wäre besser gewesen. Aber jetzt müssen wir scheiden.«
»Wir werden uns nicht trennen«, fuhr Stephan heraus und stellte sich mit dem Rücken gegen die Thür, halb unbewußt und ohne zu bedenken, was er noch eben gesagt hatte; »ich leide es nicht. Du treibst mich zur Verzweiflung; ich werde nicht wissen was ich thue.«
Gretchen zitterte; sie fühlte, die Trennung werde nicht so rasch vor sich gehen; dazu bedurfte es einer langsameren Einwirkung auf Stephan's besseres Selbst; sie mußte gefaßt sein, nicht so mit einer raschen Flucht abzukommen, so lange der Entschluß noch frisch war. Sie setzte sich. Verzweiflung und lauernde Angst im Blick, ging Stephan auf sie zu, setzte sich dicht neben sie und faßte sie bei der Hand. Das Herz klopfte ihr wie einem bangen Vögelchen; aber der halbe Zwang, den Stephan ihr anthat, gab ihr Muth und steigerte ihre Entschlossenheit.
»Erinnere Dich, wie's Dir vor Wochen um's Herz war«, fing sie ernst und bittend an, – »erinnere Dich, wie wir beide fühlten, wir gehörten andern an und müßten jede Neigung überwinden, die uns dieser Verpflichtung untreu machen könnte. Wir haben unsern Entschluß nicht gehalten, aber das Unrecht bleibt dasselbe.«
»Nein, nicht dasselbe«, sagte Stephan. »Wir haben bewiesen, daß es unmöglich war, unserm Entschluß treu zu bleiben. Wir haben bewiesen, daß das Gefühl, welches uns zu einander zieht, zu mächtig ist für jeden Widerstand; dies Naturgesetz gilt mehr als jedes andere; wenn's einem andern widerstreitet, dafür können wir nicht.«
»So steht die Sache nicht, Stephan – ich bin gewiß, was Du sagst, ist falsch. Ich habe auch versucht, mich dabei zu beruhigen, oft genug versucht, aber ich sehe ein, diese Ansicht wäre ein Deckmantel für alle Verrätherei und Grausamkeit – eine Rechtfertigung für den Bruch der heiligsten Bande, die es auf Erden giebt. Wenn die Vergangenheit uns nicht bindet, wo bleibt dann die Pflicht? Dann gäbe es kein Gesetz für uns als die Laune des Augenblicks.«
»Aber es giebt Verpflichtungen, die sich nicht durch einen bloßen Entschluß erfüllen lassen«, sagte Stephan, indem er aufsprang und wieder auf und ab ging. »Was heißt äußerliche Treue? Hätten die andern uns gedankt für etwas so hohles, wie Beständigkeit ohne Liebe?«
Gretchen antwortete nicht gleich; sie kämpfte einen innern und äußern Kampf. Endlich sagte sie, ihre Ueberzeugung so gut gegen sich selbst wie gegen ihn leidenschaftlich verfechtend:
»Das scheint wohl recht – auf den ersten Blick, aber sieht man weiter, dann ist's gewiß nicht recht. Treue und Beständigkeit bedeuten ganz was anderes, als daß man thut, was einem im Augenblick am leichtesten und bequemsten ist; sie bedeuten, daß man auf alles verzichtet, was dem Vertrauen zuwiderläuft, welches andre in uns setzen, – auf alles, was denen Kummer macht, die durch den Gang unseres Lebens auf uns angewiesen sind. Wären wir – wäre ich besser, edler gewesen, dann wären mir diese Ansprüche so lebhaft gegenwärtig geblieben – ich hätte sie so unablässig auf der Seele gefühlt, grade wie sie mich jetzt in den Augenblicken drücken, wo mein Gewissen wach ist, – daß das entgegengesetzte Gefühl nie in mir hätte aufkommen können; es wäre sofort erstickt worden – ich hätte so ernstlich um Hilfe gebetet – ich wäre davor geflohen, wie vor einer furchtbaren Gefahr. Ich habe keine Entschuldigung, das weiß ich – keine. Niemals hätte ich mich so gegen Lucie und Philipp vergangen, wäre ich nicht schwach, selbstsüchtig und grausam – wäre ich nicht fähig gewesen, den Gedanken an ihren Schmerz zu ertragen, ohne selbst so zu leiden, daß es jede Versuchung zerstört hätte. O, was muß Lucie empfinden?! Sie glaubte an mich – sie liebte mich – sie war mir so gut. Denke an sie, Stephan …« – und bei diesen Worten erstickte ihr die Stimme.
»Ich kann nicht an sie denken«, sagte Stephan und stampfte krampfhaft mit dem Fuß. »Ich kann nur an Dich denken, Gretchen. Du forderst von einem Mann, was unmöglich ist. Früher hab' ich auch so gefühlt; jetzt kann ich nicht mehr dahin zurück. Und was hilft's Dir, daß Du daran denkst, außer daß Du mich damit quälst? Jetzt kannst Du ihnen keinen Schmerz mehr ersparen; Du kannst Dich blos von mir losreißen und meinem Leben seinen Werth rauben. Und selbst, wenn wir zurück könnten und beide unsere Verpflichtungen erfüllten – selbst wenn das jetzt noch möglich wäre – der Gedanke wäre abscheulich, wäre schrecklich, daß Du je Philipp's Frau würdest – Du die Frau eines Mannes, den Du nicht liebst. Wir sind beide vor einer Verirrung gerettet.«
Eine tiefe Röthe überzog Gretchens Gesicht, und sie konnte kein Wort sagen. Stephan bemerkte das; er setzte sich nieder, nahm ihre Hand und sah sie mit heißflehendem Blicke an.
»Gretchen! Geliebte! wenn Du mich liebst, dann bist Du mein. Wer hat so viel Recht auf Dich als ich? Mein Leben ist Deine Liebe. Die Vergangenheit hat nichts, was unser Recht auf einander aufheben könnte; es ist das erste Mal, daß wir von ganzem Herzen und ganzer Seele lieben.«
Einen Augenblick schwieg Gretchen und blickte zu Boden. Schon fühlte Stephan seine Hoffnung sich neu beleben und glaubte, er habe gesiegt – aber als sie die Augen aufschlug, da lag Jammer und Trauer in ihrem Blick, nicht Nachgiebigkeit.
»Nein, Stephan, nein – nicht von ganzem Herzen und ganzer Seele«, sagte sie mit schüchterner Entschlossenheit. »Niemals bin ich ganz in diese Liebe aufgegangen. Erinnerungen und Neigungen und die Sehnsucht nach Vollkommenheit im Guten haben große Gewalt über mich; nie sind sie lange von mir gewichen; immer kamen sie wieder und mit ihnen Schmerz und Reue. Mein Frieden wäre dahin, wenn ich den Schatten einer wissentlichen Sünde zwischen mich und Gott treten ließe. Schon hab' ich Elend über andere gebracht – das weiß, das fühl' ich, aber nie habe ich wissentlich drein gewilligt, habe nie gesagt: »sie sollen leiden, damit ich Freude habe«. Nie ist es mein Wille gewesen, Dich zu heirathen, und wenn mich ein augenblickliches Gefühl für Dich fortrisse, ich wäre doch nicht Dein von ganzem Herzen und ganzer Seele. Könnte ich das Gestern ungeschehen machen, wieder erwachen zu der Zeit vorher, so wäre meine Wahl entschieden: ich würde meinen ruhigeren Neigungen treu bleiben und auf das Glück der Liebe verzichten.«
Stephan ließ ihre Hand los, stand heftig auf und ging mit unterdrückter Wuth im Zimmer umher.
»Großer Gott!« brach er endlich aus, »wie erbärmlich ist die Liebe des Weibes gegen des Mannes Liebe! Ich könnte für Dich zum Verbrecher werden, und Du sitzest da und wägst ruhig das Für und Wider gegen einander ab. Aber Du liebst mich nicht; wenn Du den zehnten Theil dessen für mich fühltest, was ich für Dich, dann könntest Du unmöglich einen Augenblick daran denken, mich zu opfern. Aber daß Du mir das Glück meines Lebens raubst, hat bei Dir kein Gewicht.«
Fast krampfhaft preßte Gretchen die Finger zusammen, die sie auf dem Schooße verschlungen hielt. Ein großer Schrecken lag auf ihr; es war, als wenn von Zeit zu Zeit mächtige Blitze sie umflammten und sie dann wieder die Hände in's Dunkle strecke.
»Nein – ich opfre Dich nicht – ich könnte Dich nicht opfern«, sagte sie, sobald sie die Sprache wiederfand, »aber ich kann nicht glauben, was ich – was wir beide für Unrecht gegen andere erkennen, das sei für Dich ein Glück. Das Glück können wir weder für uns noch für andere wählen; wir wissen nicht, was es und wo es ist. Wir können nur wählen, ob wir jetzt unserer Leidenschaft folgen oder ihr entsagen wollen, – aus Gehorsam gegen die Stimme Gottes in unserm Innern – aus Treue gegen alles Fühlen und Empfinden, was unser Leben heiligt. Wohl weiß ich, solche Treue ist schwer; oft genug hat sie mich verlassen, aber ich fühle, wenn ich für immer davon ließe, dann hätte ich kein Licht, was mir leuchtete im Dunkel dieses Lebens.«
»Aber, Gretchen«, sagte Stephan und setzte sich wieder zu ihr, »ist es denn möglich, daß Du garnicht einsiehst, wie der gestrige Tag die ganze Lage der Dinge durchaus geändert hat? Welche Verblendung – welche hartnäckige Verstocktheit, das nicht einzusehen! Was wir hätten thun können oder thun müssen, davon ist keine Rede mehr, dazu ist's zu spät. Nehmen wir das Geschehene, so schlimm wir wollen – es ist eine Thatsache, auf der wir weiter fußen müssen; unsere Lage hat sich geändert; was bisher Recht war, ist jetzt nicht mehr Recht. Was wir gethan, bindet uns. Nimm an, wir hätten uns gestern geheirathet – ungefähr ist's dasselbe. Für andere wäre die Wirkung dieselbe. Für uns hätte es nur den Unterschied gemacht«, fügte er bitter hinzu, »daß Du dann vielleicht anerkenntest, Du seiest an mich mit stärkeren Banden geknüpft, als an andre.«
Wiederum überzog eine tiefe Röthe Gretchens Gesicht, und sie saß schweigend. Wiederum glaubte Stephan, endlich winke ihm der Sieg – noch hatte er keinen Augenblick gezweifelt, er werde schließlich gewiß siegen; denn es giebt Möglichkeiten, vor denen wir uns zu sehr fürchten, als daß wir sie eigentlich befürchteten.
»Geliebte«, sagte er in seinem tiefsten, zärtlichsten Tone und schlang den Arm um sie, »Du bist schon mein – in den Augen der Welt bist Du mein – das bindet uns; in wenig Stunden bist Du auch gesetzlich mein, und die sonst Ansprüche auf uns hatten, werden sich fügen – sie werden einsehen, daß es eine Macht gab, die gegen ihr Recht entschied.«
Entsetzt öffnete Gretchen weit die Augen und blaß wie der Tod sprang sie auf.
»O, ich kann's nicht, ich darf's nicht«, sagte sie mit fast ersterbender Stimme, – »Stephan – verlang' das nicht – dränge mich nicht. Streiten kann ich nicht länger – ich weiß nicht, was klug ist und verständig, aber mein Herz sagt nein. Ich sehe, ich fühle ihren Jammer, als wäre er mir in die Seele gebrannt. Ich habe leiden müssen und hatte niemand, der mich bemitleidete, und jetzt habe ich andre in's Leid gebracht. Der Gedanke würde mich nie verlassen, würde mir Deine Liebe verbittern. Ich sorge um Philipp – anders als um Dich; ich erinnere mich an alles, was wir einander sagten; ich weiß, wie er in mir das Glück seines Lebens sah. Er war mir übergeben, daß ich ihm sein Loos erleichtern sollte, und ich habe ihn verlassen. Und Lucie – die habe ich getäuscht – und mir traute sie vor allen andern. Stephan, ich kann Dich nicht heirathen! Ich kann mir kein Gut aneignen, das ihrem Jammer entrissen ist. Was wir für einander fühlen, darf uns nicht beherrschen; es risse mich fort von allem, was mein vergangenes Leben mir theuer und heilig gemacht hat. Ich kann kein neues Leben anfangen und das alte vergessen; in dieses muß ich zurück, an dieses muß ich mich halten, sonst verlöre ich den Boden unter den Füßen.«
»Gretchen, Gretchen!« rief Stephan aufspringend und faßte sie am Arm – »Du rasest. Wie kannst Du zurück, ohne mich zu heirathen? Du bedenkst nicht, was die Welt sagt; Du siehst nichts wie es wirklich ist.«
»Doch, Stephan. Aber man wird mir glauben. Ich will alles gestehen. Lucie wird mir glauben – sie wird Dir vergeben, und – und – etwas gutes kommt gewiß vom Rechtthun. Lieber, lieber Stephan, laß mich fort! stürze mich nicht noch tiefer in Reue und Leid. Von ganzer Seele habe ich nie ja gesagt – kann ich's jetzt nicht sagen.«
Stephan ließ ihren Arm los und sank, halb betäubt vor Verzweiflung, auf den Stuhl zurück. Einige Augenblicke schwieg er und sah sie nicht an, während ihre Blicke sehnsüchtig an ihm hingen und erschrocken diesen plötzlichen Wechsel bemerkten. Endlich sagte er, immer noch ohne sie anzusehen:
»Dann geh' – laß mich – quäl' mich nicht länger – ich kann's nicht ertragen.«
Unwillkürlich neigte sie sich zu ihm und hielt ihm die Hand hin. Aber er zuckte zusammen wie vor einem glühenden Eisen und sagte wieder:
»Geh – laß mich.«
Ohne zu wissen, was sie that, wandte sich Gretchen und verließ das Zimmer; der Körper vollzog, was der Geist nicht mehr wußte. Wie im Traume ging sie die Treppe hinunter – über den Hof – an einer angespannten Kalesche vorbei – auf die Straße – immer weiter, bis sie an eine Postkutsche kam, wo die Reisenden eben einstiegen. Vielleicht fuhr die Post nach der Heimath! Aber fragen konnte sie noch nicht; sie stieg nur ein.
Daheim – wo Mutter und Bruder waren – und Philipp – und Lucie – wo sie ihre Sorgen erlebt, ihre Prüfungen bestanden – das war der Rettungshafen, nach dem ihr der Sinn stand. Der Gedanke an Stephan durchzuckte sie mit heftigem Schmerz und regte all ihr Denken auf; was die Welt sagen würde, daran dachte sie nicht, dazu ließen Liebe und tiefes Erbarmen und reuiger Jammer nicht Raum.
Die Post fuhr nach York, weiter von der Heimath fort, aber sie merkte es erst, als sie um Mitternacht in der alten Stadt ankamen. Auch war's ihr einerlei; ihre kleine Baarschaft hatte sie bei sich; sie konnte die Nacht dort schlafen und am folgenden Tage nach Haus reisen.
Als sie sich schlafen legte in dem öden großen Zimmer, war da ihr Wille immer noch ohne Wanken auf den Pfad reumüthiger Entsagung gerichtet?! – So leicht sind die großen Kämpfe des Lebens nicht, so klar nicht die großen Räthsel des Lebens. Im Dunkel der Nacht sah sie Stephan's Gesicht mit vorwurfsvollem Jammer auf sich gerichtet und durchlebte wieder das Wonnebeben seiner Nähe, bei der ihr das Dasein ein sanftes Wiegen auf einem Strome von Glück war, kein ruhig entschlossenes Dulden und Mühen. Die Liebe, der sie entsagt hatte, kehrte mit grausamem Zauber wieder; sie fühlte, wie sie die Arme öffnete, um sie noch einmal an's Herz zu drücken; da schien sie zu entweichen und zu verschwinden und nur den verhallenden Laut einer tiefen klagenden Stimme zu hinterlassen, welche sprach: »Dahin – für immer dahin!«