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Viertes Buch.
Das Thal der Erniedrigung

Erster Abschnitt.
Eine Art Protestantismus, von der Bossuet nichts weiß

Wenn ihr an einem Sommertage die Rhone hinabgefahren seid, so habt ihr vielleicht gefühlt, wie der Sonnenschein getrübt wurde von den verfallenen Dörfern, die hie und da die Ufer bedecken und stummen Bericht geben, wie einst der schnelle Strom, ein zürnender Gott der Zerstörung, sich erhoben hat und die schwachen kurzlebigen Geschlechter hinwegraffte und ihre Wohnstätten zur Wüste machte. Seltsamer Gegensatz, mögt ihr gedacht haben, zwischen dem Eindruck dieser trüben Reste alltäglicher Wohnungen, die selbst in ihrer besten Zeit nur von einem schmutzigen Leben zeugten, welches in all seinen Einzelheiten unserm eigenen gewöhnlichen Zeitalter angehörte, und zwischen der Stimmung, in die uns die Ruinen am burgengekrönten Rhein versetzen, welche zu solcher Harmonie mit den grünen Felsenhöhen verwittert und verschmolzen sind, daß sie von Natur dazu zu gehören scheinen wie die Tanne des Gebirges, – ja, die selbst in der Zeit ihrer Erbauung dazu gepaßt haben müssen, als hätte ein erdgebornes Geschlecht sie errichtet, das von seinem gewaltigen Erzeuger einen erhabenen Formensinn ererbt hatte. Das war eine Zeit der Romantik! Mochten diese Raubritter wilde und trunkene Ungeheuer sein, sie hatten etwas von der Größe wilder Thiere, sie waren reißende Waldeber mit mächtigen Hauern, nicht so gemeine zahme Grunzer; sie repräsentirten die dämonischen Gewalten, die unaufhörlich mit Schönheit, Tugend und der zarten Sitte des Lebens in Streit lagen, und in dem Bilde ihrer Zeit gaben sie einen hübschen Gegensatz ab zu dem fahrenden Sänger, dem lieblichen Edelfräulein, der frommen Nonne, dem furchtsamen Juden. Eine farbenglänzende Zeit das, wo das Sonnenlicht auf blankem Stahl und wehenden Bannern spielte, – eine Zeit des Abenteuers und wilden Kampfes, ja der lebendigen religiösen Kunst und religiösen Begeisterung; denn stiegen nicht damals hohe Dome empor und verließen nicht mächtige Herrscher ihre Paläste im Abendlande, um vor den Vesten der Ungläubigen im heiligen Osten zu sterben? Darum durchzucken mich jene Burgen des Rheins mit einem Gefühl von Poesie; sie sind ein Stück des großen historischen Lebens der Menschheit und vergegenwärtigen mir im Kleinen ein ganzes Zeitalter. Aber die eckigen Gerippe von Dörfern an der Rhone mit der Farbe und dem hohlen Auge des Todes bedrücken mich mit dem Gefühle, daß das Menschenleben – zum großen Theil wenigstens – eine kleinliche, häßliche, kriechende Existenz ist, welche selbst das Unglück nicht erhebt, sondern eher noch in ihrer ganzen Gewöhnlichkeit aufdeckt, und ich habe die traurige Ueberzeugung, daß das Leben, dessen Spuren in jenen Trümmern erhalten sind, ein Bruchtheil war von einer großen Summe dunkeln Vegetirens, welches dieselbe Vergessenheit decken wird wie die Geschlechter von Ameisen und Bibern.

Ein ähnlich bedrückendes Gefühl mag wohl auf euch gelastet haben, liebe Leser, als ihr dies altmodische Familienleben an den Ufern des Floß verfolgtet, welches selbst das Unglück kaum über das Niveau des Tragikomischen emporzuheben vermag. Ein schmutziges Leben, sagt ihr vielleicht, was diese Tullivers und Dodsons führen, von keinen erhabenen Gedanken durchleuchtet, keinen romantischen Anflügen, keinem tatkräftigen, opferfreudigen Glauben, von keiner der wilden unbezähmbaren Leidenschaften bewegt, wie sie dem Elend und Verbrechen seinen düstern Schatten geben, und andrerseits auch ohne jene ursprüngliche rohe Einfachheit der Bedürfnisse, jene harte ergebungsvolle schlechtbezahlte Arbeit, jenes kindliche Buchstabiren im Buche der Natur, wodurch das Landleben seine Poesie bekommt. Hier ist nichts als konventionelle weltliche Begriffe und Gewohnheiten ohne jede Bildung, jede Verfeinerung – wahrlich die prosaischste Form des menschlichen Lebens, – nichts als stolze Respektabilität in einer altmodischen Kutsche, Weltlichkeit ohne feine Küche. Sieht man sich diese Leute genauer an, so zeigt sich, selbst nachdem die eiserne Hand des Schicksals sie von ihrer Höhe im Leben gestürzt hat, kaum eine Spur von Religiosität, geschweige denn von ausgesprochener Christlichkeit. Ihr Glauben an den Unsichtbaren, so wert er überhaupt sich geltend macht, scheint ziemlich heidnisch, und ihre sittlichen Begriffe, so zähe sie daran halten, haben augenscheinlich keinen höhern Maßstab als das Herkommen. Ihr könntet nicht leben unter solchen Leuten; ihr erstickt in dieser Luft, wo kein Streben nach Schönem, Großen, Edlen gedeiht; ihr ärgert euch über diese langweiligen Menschen, die so garnicht zu der Erde passen, auf der sie leben – zu dem reichen Landstrich, wo der große Strom unversiegbar dahinströmt und den kleinen Puls der alten englischen Stadt mit dem Schlage des mächtigen Herzens der Welt verbindet. Ein kräftiger Aberglaube, der seine Götter oder den eigenen Rücken schlägt, scheint euch besser zu dem Geheimniß des Menschenlooses zu stimmen, als der Seelenzustand dieser ameisenhaften Dodsons und Tullivers.

Ich theile dies Gefühl erdrückender Beschränktheit, aber wir müssen sie empfinden, wenn wir verstehen wollen, wie sie auf den Lebensgang Tom's und Gretchen's einwirkte, wie sie schon oft auf junge Naturen eingewirkt hat, die in dem Streben der Menschheit nach vorwärts über das geistige Niveau des vorangegangenen Geschlechts sich erhoben, mit dem sie doch durch die stärksten Fasern ihres Innern verknüpft waren. Die Leiden der Märtyrer oder Opfer, die jeden geschichtlichen Fortschritt der Menschheit bezeichnen, treten so in jeder Stadt und in hundert und aber hundert dunklen Hütten zu Tage. Auch brauchen wir diesen Vergleich des Kleinen mit dem Großen nicht zu scheuen; gesteht doch die Wissenschaft, daß ihr höchstes Streben auf die Erfassung einer Einheit geht, welche das Kleinste mit dem Größten verknüpft. In der Naturwissenschaft, sagt man mir, ist nichts kleinlich für einen Geist, der einen weiten Blick für Beziehungen und Wechselwirkungen hat und dem jedes Einzelne eine große Menge von Bedingungen des Naturlebens erschließt. Und mit der Beobachtung des menschlichen Lebens verhält es sich doch sicher ebenso.

Man wird zugeben, die religiösen und sittlichen Anschauungen der Dodsons und Tullivers waren etwas zu apartes, als daß sie sich aus der einfachen Angabe, sie hätten zu der protestantischen Bevölkerung Altenglands gehört, durch eine bloße Schlußfolgerung ergeben hätten. Wohl hatte ihre Weltanschauung einen gesunden Kern, wie es alle Grundsätze haben müssen, nach denen anständige und angesehene Familien erzogen und im Leben weiter gekommen sind, aber ihre theologische Färbung war möglichst gering. Wenn in der Jugendzeit der Geschwister Dodson ihre Bibeln an gewissen Stellen leichter aufschlugen als an andern, so lag das an den getrockneten Blumen, die sie ganz unparteiisch, ohne besondere Vorliebe für den geschichtlichen, erbaulichen oder dogmatischen Inhalt darin vertheilt hatten. Ihre Religion war höchst einfach, halbheidnisch, aber ohne alle Heresie – wenn man das Wort in seiner eigentlichen Bedeutung als »Wahl« nimmt; sie wußten nämlich garnicht, daß es noch eine andere Religion gäbe, außer etwa die der Dissidenten, und die schien ihnen »in der Familie zu liegen«, grade so wie Engbrüstigkeit oder dergleichen. Wie hätten sie's auch wissen sollen? Der Vikar in ihrem hübschen Dorfe war kein Zelot und predigte nie über die konfessionellen Unterscheidungslehren; er spielte vortrefflich Whist und hatte für hübsche Pfarrkinder immer einen freundlichen Scherz bei der Hand. So bestand denn die Religion der Dodsons in der Verehrung alles dessen, was hergebracht und »anständig« war: getauft mußte der Mensch werden, weil er sonst nicht auf dem Kirchhofe begraben werden konnte, und das Abendmahl auf dem Sterbebette nehmen, weil ihm sonst andere Unannehmlichkeiten drohten, die sich nicht genau angeben ließen; aber die rechten Leichenträger und gutgeräucherte Schinken beim Leichenschmaus zu haben und ein unantastbares Testament zu hinterlassen – das war genau eben so nothwendig. Um alles in der Welt hätte sich ein Dodson nicht nachsagen lassen, er habe gegen etwas verstoßen, was »sich paßte« oder zu jener ewigen Ordnung der Dinge gehörte, die in der Praxis der angesehensten Nachbarn und den Traditionen der eigenen Familie so deutlich festgestellt war – z. B. gegen so etwas wie kindlichen Gehorsam, Verwandtenliebe, Fleiß, strengste Rechtlichkeit, gründliches Scheuern des hölzernen und kupfernen Geräths, sorgfältiges Einsammeln von selten werdenden Münzen, Erzielen der besten Früchte für den Wochenmarkt, und eine allgemeine Vorliebe für alles »Hausmachene«. Die Dodsons waren ein stolzes Geschlecht, und ihr Stolz ging dahin, jede Bemühung zu vereiteln, daß man ihnen einen Bruch herkömmlicher Pflicht oder Sitte vorwerfen könnte. Ein gesunder Stolz das in mancher Beziehung, weil ihm Ehre gleichbedeutend war mit vollkommener Rechtlichkeit, gründlicher Arbeit und Treue gegen anerkannte Regeln, und bei vielen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft haben wir uns für manche ehrenwerthe Eigenschaften bei Müttern von dodson'scher Art zu bedanken, die ihre Butter und ihren Käse gut machten und es für eine Schande gehalten hätten, sie anders zu machen. Ehrlich und arm, war nie der Wahlspruch der Dodsons; reich zu scheinen und arm zu sein, noch weniger; vielmehr waren sie gern ehrlich und reich, und wo möglich noch reicher als die Leute glaubten. Geachtet dazustehen im Leben und anständig begraben zu werden, das war der höchste Lebenszweck, und der wäre vollständig vereitelt, wenn man bei der Verlesung des Testaments in der Achtung der Welt gesunken wäre, sei es dadurch, daß man ärmer befunden wurde, als die Leute erwarteten, oder dadurch, daß man sein Geld nach Laune, ohne die genaueste Rücksicht auf die Grade der Verwandtschaft vertheilt hatte. Gegen Verwandte mußte immer geschehen was »recht« war. Und recht war, sie streng zu tadeln, wenn sie der Familie nicht durchaus Ehre machten, aber nicht recht, wenn man ihnen deshalb das geringste von dem hätte entziehen wollen, was ihnen an den silbernen Schuhschnallen und ähnlichem Familienbesitz zukam. Ein hervorstechender Charakterzug an den Dodsons war ihre Aufrichtigkeit: Laster und Tugenden, beide waren Aeußerungen derselben stolzen ehrlichen Selbstsucht, die gegen alles, was nur ihrem eigenen Ruf und Interesse zuwiderlief, den herzlichsten Widerwillen hatte und gegen einen unbequemen Verwandten rücksichtslos hart mit der Sprache herausging, aber ihn nie preisgab oder verleugnete, es ihm nie an Brod fehlen ließ, aber freilich immer mit – Wermuth.

Den Tullivers lag dieselbe Art herkömmlicher Auffassung im Blut, nur daß sie tiefer gefärbt war und Anflüge von hochherziger Unbesonnenheit, warmer Neigung und heißblütiger Tollkühnheit hatte. Der Großvater unseres Tulliver hatte 'mal gesagt, er stamme von einem Ralph Tulliver, einem wunderbar gescheuten Menschen, der sich ruinirt hatte. Sehr wahrscheinlich hatte dieser gescheute Tulliver auf einem großen Fuße gelebt, feurige Pferde geritten und durchaus seinen eigenen Kopf gehabt. Bon den Dodsons dagegen hatte man niemals gehört, daß sich einer ruinirt hätte; es lag eben nicht in ihrer Familie.

In solchen Anschauungen erzogen, hatten die Dodsons und Tullivers in reiferen Jahren bei dem Zustande der Gesellschaft in St. Ogg keine Schule durchgemacht, in der sie sich besonders verändert hätten; sie fuhren fort, sich für leidlich kirchlich zu halten, und waren doch durchaus nicht frei von Heidenthum; so regelmäßig er die Kirche besuchte, sein Rachegelübde schrieb Tulliver auf das erste Blatt seiner Bibel. Kirche und gesunder Menschenverstand waren für ihn zwei ganz verschiedene Dinge, und was gesunder Menschenverstand sei, das brauchte ihm niemand zu sagen. Gewisse Sorten Samen, die unter ungünstigen Verhältnissen Wurzel schlagen müssen, sind von der Natur mit besonderen Häkchen versehen, mit denen sie sich auch an sehr widerstrebenden Boden anklammern können. Der geistige Samen, der über Tulliver ausgestreut war, hatte augenscheinlich diese Zugabe nicht mitbekommen und war wegen des gänzlichen Mangels an Häkchen wieder in die Lüfte verflogen.


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