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Drei Wochen nachher, als die rothe Mühle am hübschesten war im ganzen Jahre, die großen Kastanien in der Blüthe standen, und das üppige Gras ganz mit Maßlieb übersät war, kam Tom Tulliver des Abends früher nach Hause als gewöhnlich, und als er über die Brücke ging, sah er mit der alten, tiefgewurzelten Liebe das stattliche rothe Haus von Ziegelsteinen an, welches ihm von außen immer heiter und einladend aussah, mochten drinnen die Zimmer noch so kahl und die Herzen noch so traurig sein. Ein angenehmes Licht spielt in seinen blaugrauen Augen, als er nach den Fenstern des Hauses blickt; die Falte auf seiner Stirn geht nie ganz fort, aber sie steht ihm nicht schlecht, sie deutet auf einen starken Willen, der möglichen Falls seine rauhen Seiten abstreifen kann, wenn Augen und Mund grade besonders freundlich aussehen. Sein fester Schritt wird schneller und seine Mundwinkel wollen sich das Zusammenziehen nicht recht gefallen lassen, womit er ein Lächeln unterdrücken will.
Die Augen im Wohnzimmer waren um die Zeit nicht gerade auf die Brücke gerichtet, und die Familie Tulliver saß schweigend und trübe bei einander – der Vater im Lehnstuhl, von einem langen Ritt ermüdet und den hohlen Blick nachdenklich auf Gretchen gerichtet, die bei der Arbeit saß und nähte, während die Mutter Thee machte. Alle blickten überrascht auf, als sie draußen den wohlbekannten Schritt hörten.
»I, was ist denn nun los, Tom?« fragte der Vater; »Du kommst ja etwas früher als sonst.«
»O, ich hatte nichts mehr zu thun, darum ging ich weg. Nun, Mutter, wie steht's?«
Damit trat Tom an seine Mutter heran und gab ihr einen Kuß, was bei ihm ein Zeichen ungewöhnlich guter Laune war. Mit Gretchen hatte er in all den drei Wochen kaum ein Wort oder einen Blick gewechselt, aber bei seiner gewöhnlichen Schweigsamkeit zu Hause war das den Eltern nicht weiter aufgefallen.
»Vater«, sagte Tom nach dem Thee, »weißt Du genau, wie viel Geld in dem Blechkasten ist?«
»Blos hundertdreiundneunzig Pfund«, antwortete Tulliver. »In der letzten Zeit hast Du mir weniger gebracht, aber junge Leute behalten ihr Geld gern für sich. Ich freilich durfte mit meinem Gelde nicht thun, was ich wollte, als ich noch nicht großjährig war«. Er war mit Tom in der letzten Zeit nicht ganz zufrieden, wagte sich aber nicht recht damit heraus.
»Weißt Du ganz bestimmt, daß es so viel ist, Vater?« sagte Tom; »ich möchte Dich wohl bitten, den Blechkasten herunter zu holen, wenn's Dir nicht zu viel Mühe macht. Vielleicht hast Du Dich doch versehen.«
»Wie sollte ich mich wohl versehen?« rief der Vater gereizt. »Ich hab's oft genug gezählt, aber wenn Du mir nicht glauben willst, kann ich auch nachsehen.«
Es war nämlich für Tulliver immer ein frohes Ereigniß in seinem traurigen Leben, wenn er den Blechkasten holen und das Geld zählen konnte.
»Geh' nicht fort, Mutter!« sagte Tom, da sie aufstand, als der Vater hinaus war.
»Und darf Gretchen auch nicht fortgehen?« fragte die Mutter; »einer muß doch die Sachen hinausbringen.«
»Das kann sie halten wie sie will«, erwiderte Tom gleichgültig.
Das Wort schnitt Gretchen in's Herz. Sie hatte vor Freude gezittert, weil sie ahnte, Tom würde jetzt dem Vater sagen, er könne seine Schulden abbezahlen, und so etwas konnte Tom sagen wollen, wenn sie nicht dabei war! Aber sie brachte die Sachen hinaus und kam sogleich zurück. In einem solchen Augenblicke mußte das Gefühl eigener Kränkung zurückstehen.
Als der Vater den Blechkasten auf den Tisch stellte und öffnete, setzte sich Tom nahe bei ihm an den Tisch, und in dem rothen Abendlichte trat das abgezehrte, kummervolle Antlitz des schwarzäugigen Vaters und die verhaltene Freude in dem Gesicht des blonden Sohnes neben einander deutlich hervor. Die Mutter und Gretchen saßen am andern Ende des Tisches, jene still und geduldig, diese zitternd vor Erwartung.
Der Vater nahm das Geld heraus, zählte es in Reihen auf den Tisch und sagte dann, indem er Tom scharf ansah:
»Da! siehst Du, daß ich Recht hatte?« Er hielt inne und sah das Geld mit tiefer Niedergeschlagenheit an.
»Fehlen immer noch über dreihundert Pfund und das wird eine gute Zeit dauern, ehe ich so viel sparen kann. Die zweiundvierzig Pfund, die ich am Korn verlor, das war eine böse Geschichte. Es waren ihrer zu viel gegen einen. Vier Jahre hat's gedauert, daß wir dies ersparten, und ich werde wohl keine vier Jahre mehr leben. Du wirst bezahlen müssen, mein Junge«, fuhr er mit zitternder Stimme fort, »und das erwarte ich auch von Dir, wenn Du nach Deiner Großjährigkeit so bleibst. Aber Du wirst mich wohl noch vorher begraben.«
Er blickte zu seinem Sohne auf, als suche er bei ihm Trost und Beruhigung.
»Nein, Vater«, sagte Tom mit nachdrücklicher Bestimmtheit, obschon auch ihm die Stimme etwas bebte; »noch bei Deinen Lebzeiten werden die Schulden alle bezahlt. Mit eigener Hand sollst Du sie bezahlen.«
In seinem Tone lag mehr als bloße Hoffnung oder Entschluß. Ein leises Zucken durchbebte den Vater und er hielt die Augen mit eifrig forschendem Blick auf Tom geheftet, während Gretchen unfähig sich zu halten zu ihrem Vater hinstürzte und neben ihm hinkniete. Tom schwieg eine kleine Weile, ehe er fortfuhr.
»Vor längerer Zeit hat mir Onkel Glegg etwas Geld geliehen; damit habe ich Geschäfte auf eigene Rechnung gemacht und Glück gehabt. Ich habe dreihundertzwanzig Pfund in der Bank.«
Kaum hatte er die letzten Worte geäußert, als die Mutter ihn mit beiden Armen umschlang und halb weinend rief:
»O, mein Junge! das wußte ich vorher, Du machtest alles wieder gut, wenn Du erst groß würdest.«
Aber der Vater sagte kein Wort; seine Bewegung war zu stark, er konnte nicht sprechen. Tom und Gretchen überkam schon die Furcht, ob das Uebermaß der Freude ihm nicht schaden werde. Aber da kam der köstliche Segen der Thränen. Die breite Brust hob sich, die Muskeln des Gesichts verloren ihre krampfhafte Strenge, und der alte Mann mit dem grauen Haar brach in lautes Schluchzen aus. Allmälich ließ die Aufregung nach, er saß wieder ruhig und athmete wie gewöhnlich. Endlich sah er seine Frau an und sagte mit sanfter Stimme:
»Betty, komm und gieb mir einen Kuß. Der Junge hat's für mich mit gut gemacht. Nun siehst Du doch wieder gute Tage.«
Als sie ihn geküßt und er ihre Hand einen Augenblick gehalten hatte, wanderten seine Gedanken wieder nach dem Gelde.
»Ich wollte, Du hättest mir das Geld mitgebracht, Tom, damit ich's ansehen könnte«, sagte er und befühlte die Goldstücke auf dem Tische; »es wäre doch sicherer.«
»Du sollst es morgen sehen«, erwiderte Tom. »Onkel Deane hat die Gläubiger auf morgen in den goldenen Löwen zur Besprechung eingeladen und um zwei Uhr Essen für sie bestellt. Onkel Glegg und er wollen beide hinkommen. Am Sonnabend hat es im Wochenblatt gestanden.«
»Dann hat's Wakem gelesen!« rief der Vater und seine Augen leuchteten vor Freude wie Feuer. »Aha!« fuhr er fort und der Ton kam aus tiefster Brust, »jetzt komme ich doch aus seinen Klauen, wenn ich auch aus meiner alten Mühle weg muß. Ich glaubte, ich könnte es aushalten bis an meinen Tod, aber ich kann's nicht … Hast Du was zu trinken im Hause, Betty?«
»Ja«, antwortete die Frau und holte ihr Schlüsselbund hervor, welches gegen früher sehr mager aussah; »es ist noch etwas Cognac da von Schwester Deane, als ich unwohl war.«
»Hol' mir den, – schnell. Ich fühle mich ein bischen schwach.«
»Mein Junge«, sagte er mit etwas kräftigerer Stimme, nachdem er etwas Cognac mit Wasser getrunken hatte, »Du sollst ihnen eine Rede halten. Ich will ihnen sagen, daß das meiste Geld von Dir kommt. Sie werden sehen, daß ich rechtschaffen bin bis an's Ende und daß ich einen rechtschaffenen Sohn habe«, und dabei nahm er seine Schnupftabacksdose heraus – es war der einzige Luxus, den er sich noch gestattete – und klopfte mit einem Anfluge seines alten Selbstvertrauens darauf. »O, Wakem würde sich freuen, wenn er solchen Sohn hätte wie ich, einen hübschen, schlanken Burschen und nicht so 'nen armseligen, verwachsenen Krüppel. Du wirst vorwärts kommen in der Welt, mein Junge; Du erlebst vielleicht noch den Tag, wo Wakem und sein Junge tief unter Dir sind. Bekommst gewiß bald Deinen Antheil am Geschäft wie Deane in früherer Zeit, – bist ganz auf dem rechten Wege und dann hindert Dich nichts, ein reicher Mann zu werden. Aber wenn Du je reich wirst, dann merke Dir, mein Junge, sieh zu, daß Du die alte Mühle wieder kriegst.«
Tulliver lehnte sich im Stuhle zurück; sein Geist, in welchem so lange nichts als bittre Unzufriedenheit und trübe Ahnungen gehaust hatten, füllte sich plötzlich durch die Zauberkraft der Freude mit herrlichen Bildern von Glück und Reichthum. Aber ein feines Gefühl hielt ihn ab, diese lockenden Bilder auf sich selbst zu beziehen.
»Gieb mir die Hand, mein Junge«, sagte er plötzlich und streckte seine Hand aus. »Es ist etwas großes, wenn einer stolz sein kann auf einen guten Sohn. Und das Glück habe ich gehabt.«
Einen so köstlichen Augenblick erlebte Tom nicht wieder, und Gretchen vergaß unwillkürlich ihr eigenes Leid. Tom war doch gut, und in der süßen Demuth, die wir alle in Augenblicken wahrer Bewunderung und Dankbarkeit empfinden, fühlte sie, er mache seine Fehler wieder gut, während sie ihre Fehler, die er ihr nachsehen müsse, noch nicht gut gemacht habe. Es kränkte sie heute Abend nicht und sie empfand keine Eifersucht, daß sie zum ersten Male bei dem Vater hinter Tom zurück zu treten schien.
Es gab noch mancherlei zu bereden, ehe man zu Bett ging. Der Vater wollte natürlich alle Einzelheiten von Tom's Unternehmungen wissen und hörte seine Erzählungen mit steigender Aufregung und Freude an. Er war neugierig, alles zu erfahren, was man bei jeder Gelegenheit gesprochen – wo möglich, was man gedacht habe, und die Rolle, die Bob bei der Geschichte gespielt hatte, riß ihn zu den eigenthümlichsten Aeußerungen von Theilnahme für die siegreiche Schlauheit dieses merkwürdigen Hausirers hin. Er ging bis auf Bob's Jugendgeschichte zurück, soweit er sie kannte, und wies nach, wie er erstaunlich viel versprochen habe – eine nachträgliche Beweisführung aus Erinnerungen der Kindheit, die sich schon größere Leute als Bob haben gefallen lassen müssen.
Es war recht gut, daß dieses Interesse an der Erzählung das unbestimmte, aber wilde Gefühl des Triumphes über Wakem zurück hielt; sonst würde seine Freude mit gefährlicher Stärke sich in dieser Richtung ergossen haben, und selbst so verkündeten von Zeit zu Zeit drohende Zeichen, schließlich würde dies Gefühl doch die Oberhand behalten.
Es dauerte lange, ehe Tulliver in der Nacht Schlaf fand, und als der Schlaf kam, störten ihn lebhafte Träume. Um halb sechs des Morgens, als Frau Tulliver schon aufstand, fuhr er zu ihrem Schrecken mit einem halb unterdrückten Schrei aus dem Schlaf und sah sich ganz verwirrt in der Kammer um.
»Was hast Du, Tulliver?« fragte die Frau. Er sah sie an, noch immer ganz verwundert und wie außer sich, und sagte endlich:
»O – ich habe geträumt – hab' ich was gesagt? – ich glaubte, ich hätte ihn.«