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Siebter Abschnitt.
Abrechnung

Tulliver war ein durchaus nüchterner Mensch; er trank wohl sein Glas Wein und trank es gern, aber nie überschritt er die Schranken der Mäßigung. Er hatte von Natur ein reges, heißblütiges Temperament, welches nicht erst flüssigen Feuers bedurfte, um aufzuflammen, und sein Wunsch nach der Stärkung von Cognac und Wasser deutete an, daß die zu plötzliche Freude seinem Körper, der durch vier Jahre lange Trübsal und ungewohnte schlechte Nahrung heruntergekommen war, einen gefährlichen Stoß versetzt hatte. Aber nachdem der erste bedenkliche Augenblick vorüber war, schien mit der wachsenden Aufregung auch seine Kraft zu wachsen, und als er am nächsten Tage mit seinen Gläubigern zu Tische saß und ihm in dem Bewußtsein, er könne wieder mit Ehren in der Welt auftreten, das Auge leuchtete und die Wangen brannten; da sah er mal wieder so sehr wie der stolze, selbstvertrauende, offenherzige und heißblütige Tulliver von ehemals aus, wie es schwerlich jemand für möglich gehalten hätte, der ihn noch vor einer Woche gesenkten Hauptes, den Blick zur Erde gerichtet und die Vorübergehenden mit scheuem Gruße kaum beachtend hatte reiten sehen; denn das war in den letzten vier Jahren seine Gewohnheit gewesen, seit das Gefühl seines Unglücks und seiner Schulden ihn niederdrückte. Bei Tisch hielt er eine kleine Rede, betonte darin mit alter Lebhaftigkeit seine Grundsätze als ehrlicher Mann, machte eine sehr verständliche Anspielung auf die Schurken und das Unglück, womit er zu kämpfen gehabt habe, erklärte, durch große Anstrengung und mit Hülfe eines guten Sohnes sei er wieder etwas empor gekommen, und schloß mit der Erzählung, wie Tom den größten Theil des nöthigen Geldes zusammengebracht habe. Aber seine gereizte Stimmung und der Stolz des Triumphs schienen für einen Augenblick in das reinere Gefühl echter Vaterfreude hinzuschmelzen, als Tom's Gesundheit ausgebracht wurde und, nachdem Onkel Deane Gelegenheit genommen hatte, einige lobende Worte über seinen Charakter und seine Aufführung zu sagen, Tom selbst aufstand und die erste und einzige Rede seines Lebens hielt. Sie hätte kaum kürzer sein können; er dankte den Herren für die Ehre, die sie ihm erwiesen hätten; er sprach seine Freude aus, daß es ihm vergönnt gewesen, dem Vater den Beweis seiner Rechtschaffenheit führen und seinen ehrlichen Namen einlösen zu helfen, und schloß mit der Erklärung, er seinerseits hoffe, von diesem Wege nie abzuweichen und dem Namen seines Vaters keine Schande zu machen. Aber der Beifall, der nun folgte, war so groß, und Tom sah so stattlich und hübsch aus, daß sich Tulliver verpflichtet fühlte, seinen Tischnachbarn erläuternd zu bemerken, die Erziehung seines Sohnes habe ein hübsches Stück Geld gekostet.

Recht solide brach die Gesellschaft um fünf Uhr auf. Tom blieb in Geschäften in der Stadt, und Tulliver bestieg sein Pferd, um nach Hause zu reiten und alles merkwürdige, was gesprochen und sonst vorgefallen war, der armen Betty und dem kleinen Mädel zu erzählen. Die Aufregung, die man ihm ansah, kam nur zum geringsten Theil vom guten Essen und Trinken und von der heitern Gesellschaft her; Freude und Triumph – das war der starke Trank, der ihm durch die Adern rollte. Heute schlug er keine Nebenstraße ein, sondern langsam, den Kopf stolz gehoben und mit freiem Blick ritt er die ganze Hauptstraße entlang bis zur Brücke. Warum begegnete er Wakem nicht? Es ärgerte ihn, daß sich das nicht so traf; sein Geist fing an unruhig zu arbeiten. Vielleicht war Wakem heute absichtlich aus der Stadt gegangen, damit er von einer ehrlichen Handlung nichts sähe oder höre, die ihn allerdings mit Recht unangenehm berühren müsse, aber wenn er Wakem begegnete, so wolle er ihm gerade in's Gesicht sehen, und dann würde dem Schurken seine kalte hochnäsige Unverschämtheit schon etwas vergehen. Er sollte nun erfahren, daß ein ehrlicher Mann ihm nicht länger zu dienen gedenke und seine Ehrlichkeit nicht dazu hergebe, um andern Leuten die Taschen zu füllen, die von unrechtem Gut schon übervoll waren. Vielleicht wandte sich das Glück überhaupt wieder zu den ehrlichen Leuten, vielleicht hatte der Teufel doch nicht immer die besten Karten.

So vor sich hinbrütend war Tulliver nahe an das Hofthor der Mühle gekommen, nahe genug, um eine wohlbekannte Gestalt zu erkennen, die auf einem hübschen Rappen aus dem Thore ritt. Ungefähr fünfzig Schritt von dem Hofe begegneten sie sich, zwischen den großen Kastanien und Ulmen und dem hohen Rande des Flusses.

»Tulliver«, rief Wakem barsch und außergewöhnlich hochfahrig, »was haben Sie da wieder für einen dummen Streich gemacht, daß Sie so schwere Erdklumpen auf das Gartenland genommen haben? Ich habe Ihnen vorhergesagt, was davon käme, aber ihr Leute nehmt bei eurer Wirthschaft nie Verstand an.«

»Oho!« antwortete Tulliver, plötzlich aufbrausend. »Suchen Sie sich einen andern Pächter, der Sie erst fragt, wie er wirthschaften soll.«

»Sie haben wohl getrunken?!« rief Wakem, der wirklich glaubte, das sei der Grund von Tulliver's rothem Gesicht und flammenden Augen.

»Nein, Herr!« antwortete Tulliver; »ich brauche nicht erst zu trinken, um zu dem Entschluß zu kommen, daß ich bei einem Schurken nicht länger in Dienst bleiben will.«

»Meinetwegen; dann können Sie morgen im Tage ausziehen; halten Sie Ihr unverschämtes Maul und lassen Sie mich vorbei«. Tulliver hatte sich nämlich mit seinem Pferde quer über den Weg gestellt.

»Nein, ich lasse Sie nicht vorbei«, rief Tulliver noch wüthender. »Erst will ich Ihnen meine Meinung sagen. Sie sind ein zu großer Schuft, als daß Sie an den Galgen kämen – Sie sind …«

»Lassen Sie mich vorbei, Sie dummes Vieh, oder ich reite über Sie weg.«

Tulliver spornte sein Pferd und sprengte mit gehobener Reitpeitsche vorwärts, so daß Wakem's Pferd zurückscheute und seinen Reiter seitwärts zur Erde warf. Wakem hatte die Geistesgegenwart, sofort den Zügel los zu lassen, und da sein Pferd nur ein paar Schritte zurücktaumelte und dann stehen blieb, so hätte er, ohne großen Schaden genommen zu haben, wieder aufstehen und aufsteigen können. Aber ehe er sich erheben konnte, war Tulliver seinerseits vom Pferde gesprungen. Der Anblick, daß der verhaßte, übermüthige Gegner zu Boden lag und in seiner Gewalt war, machte ihn förmlich fieberhaft vor Rachlust, und dieses Gefühl schien ihm übernatürliche Behendigkeit und Stärke zu geben. Er stürzte auf Wakem los, der eben im Begriff war, wieder auf die Beine zu kommen, packte ihn am linken Arm, so daß er sein ganzes Gewicht auf den rechten Arm drückte, mit dem Wakem sich auf die Erde stützte, und schlug ihn mit der Reitpeitsche wüthend über den Rücken. Wakem schrie um Hülfe, aber keine Hülfe kam, bis endlich eine Frauenstimme in der Nähe laut aufschrie: »Vater! Vater!«

Plötzlich merkte Wakem, daß jemand Tulliver's Arm halte, denn das Peitschen hörte auf und der schwere Griff an seinem eigenen Arm ließ nach.

»Fort, fort! losgelassen!« sagte Tulliver ärgerlich. Aber die Worte waren nicht an Wakem gerichtet. Langsam stand der Advokat auf und als er den Kopf wandte, erkannte er, daß Tulliver's Arme von einem Mädchen gehalten wurden, oder vielmehr von der Furcht, das Mädchen zu verletzen, welches sich mit aller Gewalt an ihn klammerte.

»O Lukas – Mutter – kommt doch rasch und helft Herrn Wakem!« rief Gretchen, als sie die ersehnten Schritte endlich hörte.

»Helft mir auf das kleine Pferd!« sagte Wakem zu Lukas, »dann kann ich schon selbst fertig werden; aber, hol's der Henker! ich glaube, ich habe mir den Arm verrenkt.«

Mit einiger Schwierigkeit gelang es dem Advokaten, Tulliver's Pferd zu besteigen. Dann wandte er sich mit verbissener Wuth gegen diesen und rief: »Das soll Ihnen schlecht bekommen; Ihre Tochter kann bezeugen, daß Sie mich mißhandelt haben.«

»Ist mir einerlei«, erwiderte Tulliver ingrimmig; »packen Sie sich und erzählen Sie's weiter, daß ich Sie durchgeprügelt habe. Sagen Sie nur, ich hätte das Gleichgewicht ein bischen wieder hergestellt in der Welt.«

»Reitet mein Pferd nach Haus«, sagte Wakem zu Lukas, »aber dahinten über die Fähre, nicht durch die Stadt.«

»Komm herein, Vater!« sagte Gretchen mit flehender Stimme. Dann, als sie sah, daß Wakem fortgeritten und weitere Gewaltthätigkeit nicht mehr zu befürchten sei, ließ sie des Vaters Arm los und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus, während die arme Frau Tulliver schweigend und bebend vor Furcht dastand. Aber mit einem Male merkte Gretchen, daß der Vater, während sie ihn los ließ, sie fest zu halten und sich an sie zu lehnen begann. Die Ueberraschung hemmte ihr Schluchzen.

»Ich fühle mich etwas schwach«, sagte er. »Hilf mir in's Haus, Betty – ich werde schwindlig – es thut mir so weh hier im Kopfe.«

Langsam, von Frau und Tochter unterstützt, kam er in's Haus und wankte nach dem Lehnstuhl. Die Purpurröthe in seinem Gesicht war einer Todesblässe gewichen und seine Hand war kalt.

»Sollen wir nicht lieber nach dem Doktor schicken?« fragte die Frau.

Er schien zu schwach und leidend, um sie zu hören, aber als sie gleich darauf zu Gretchen sagte: »Geh und schicke nach dem Doktor«, da blickte er mit voller Geistesklarheit zu ihr auf und sagte: »Doktor? Nein – kein Doktor, 's ist blos mein Kopf – mehr nicht. Helft mir zu Bett.« So traurig sollte der Tag enden, der für sie alle wie der Anfang einer bessern Zeit aufgegangen war. Doch wie die Saat, muß auch die Ernte sein.

Eine halbe Stunde, nachdem sich der Vater zu Bett gelegt hatte, kam Tom nach Haus. Bob war bei ihm; er wollte dem alten Herrn seinen Glückwunsch bringen, nicht ohne einigen wohl erklärlichen Stolz, daß er an der glücklichen Wendung von Tom's Schicksal seinen Antheil habe, und Tom meinte, der Vater würde keinen bessern Abschluß des festlichen Tages wünschen, als ein Gespräch mit Bob. Aber nun mußte Tom den Abend in düsterer Erwartung der bösen Folgen verbringen, welche auf diesen wahnsinnigen Ausbruch eines lange verhaltenen Hasses nothwendig folgen mußten. Nachdem er den traurigen Bericht gehört hatte, saß er schweigend da; er war nicht in der Stimmung, seiner Mutter und Schwester etwas von dem Mittagsessen zu erzählen; sie dachten kaum daran, ihn danach zu fragen. Offenbar war der Faden im Gewebe ihres Lebens so wunderbar verschlungen, daß sie keine Freude erleben konnten, der nicht das Leiden auf dem Fuße folgte. Tom war ganz niedergeschlagen bei dem Gedanken, daß seine beispiellose Aufopferung durch das Unrecht andrer stets vereitelt werde, und Gretchen durchlebte immer wieder die Qual jenes Augenblicks, wo sie auf ihren Vater zugestürzt und ihm in den Arm gefallen war, und sie schauderte vor Angst und böser Ahnung wegen dessen, was noch kommen sollte. Aber weder die Mutter noch die Kinder waren für die Gesundheit des Vaters besorgt; sein Zustand erinnerte nicht an den frühern gefährlichen Anfall und es schien ihnen nur eine ganz natürliche Folge, daß die Heftigkeit seiner Leidenschaft und Kraftanstrengung nach der ungewöhnlichen Aufregung der letzten vierundzwanzig Stunden ihn etwas angegriffen habe. Ruhe und Schlaf würden ihn schon wieder herstellen.

Müde wie immer von der Arbeit des Tages, fiel Tom bald in Schlaf und schlief gesund; es schien ihm, als sei er eben erst zu Bett gegangen, als er aufwachte und im ersten Morgengrauen die Mutter an seinem Bett stehen sah.

»Mein Junge, Du mußt gleich aufstehen; ich habe nach dem Doktor geschickt, und Vater verlangt nach Dir und Gretchen.«

»Ist's denn schlimmer geworden, Mutter?«

»Die ganze Nacht hat ihm der Kopf sehr weh gethan, aber daß es schlimmer wäre, sagte er nicht, er sagte blos auf einmal: ›Betty, hol' mir den Jungen und das Mädel; sag' ihnen, sie sollten rasch machen.‹«

Schnell warfen sich Gretchen und Tom in die Kleider und traten ziemlich zur selben Zeit in des Vaters Zimmer. Er wartete auf sie mit schmerzlich verzogener Stirn, aber mit gesteigerter Klarheit im Blick. Seine Frau stand zu den Füßen des Bettes, ganz erschrocken und zitternd, blaß und gealtert von der gestörten Nachtruhe. Gretchen stellte sich zunächst an's Bett, aber der Blick des Vaters war auf Tom gerichtet, der dicht hinter ihr stand.

»Tom, mein Junge, es hat mich so überkommen, als wenn ich nicht wieder aufstände … Es waren ihrer zu viele gegen einen, mein Junge, aber Du hast gethan, was Du konntest, um die Geschichte wieder in's Geleise zu bringen. Gieb mir noch mal die Hand, mein Sohn, ehe ich von Dir gehe.«

Vater und Sohn schüttelten sich die Hand und sahen einander an. Dann sagte Tom mit so fester Stimme, als es ihm möglich war:

»Hast Du irgend einen Wunsch, Vater, den ich erfüllen kann, wenn …«

»Ja, mein Junge … Du mußt suchen, daß Du die alte Mühle wieder kriegst.«

»Gewiß, Vater.«

»Und denn Deine Mutter – sieh zu, daß Du ihr soviel als möglich ersetzest, was mein Unglück ihr gekostet hat … Und mein kleines Mädel …«

Mit noch lebhafterem Blick richtete der Vater die Augen auf Gretchen; ihr wollte das Herz brechen; sie sank neben dem Bett auf die Knie, um dem theuren, abgezehrten Gesichte noch näher zu sein, welches lange Jahre hindurch für sie der Ausdruck ihrer tiefsten Liebe und schwersten Prüfung gewesen war.

»Du mußt für sie sorgen, Tom … jammere nicht so, mein kleines Mädel … Du wirst schon einen finden, der Dich liebt und beschützt … und Du mußt gut gegen sie sein, mein Junge. Ich war auch gut gegen meine Schwester. Gieb mir einen Kuß, Gretchen … Komm zu mir, Betty … Du mußt ein gemauertes Grab kaufen, Tom, wo Mutter und ich zusammen liegen können.«

Als er das gesagt hatte, wandte er den Blick von ihnen ab und lag einige Minuten schweigend, während sie dastanden, ihn beobachteten und sich nicht zu rühren wagten. Das Morgenlicht draußen wurde immer heller, und sie konnten sehen wie sein Gesicht immer starrer wurde und seine Augen immer trüber. Aber endlich blickte er auf und sagte zu Tom:

»Ich habe doch meinen Willen gekriegt – ich habe ihn durchgeprügelt. Das war nicht mehr als recht und billig, und ich habe niemals was andres verlangt, als was recht und billig war.«

»Aber, Vater, lieber Vater!« rief Gretchen, und eine unaussprechliche Angst drängte für den Augenblick ihren Jammer zurück; »Du vergiebst ihm doch? – Du vergiebst doch jetzt allen Menschen?«

Er bewegte die Augen nicht, um sie anzusehen, sondern sagte nur:

»Nein, Mädel. Ich vergebe ihm nicht … was soll das Vergeben? Ich kann doch keinen Schuft lieb haben …«

Seine Stimme war immer schwerer geworden, aber er wollte noch mehr sagen und bewegte vergebens immer wieder die Lippen. Endlich preßte er die Worte heraus:

»Vergiebt Gott den Schuften? … Aber wenn er's thut, dann wird er nicht hart sein gegen mich.«

Unruhig fuhr er mit den Händen hin und her, als wollte er ein Hinderniß entfernen, welches auf ihm lastete. Zwei oder drei mal entfielen ihm abgebrochene Laute:

»Zu viele … gegen einen … ehrlicher Mann … schlimme Welt …«

Bald hörte man ihn nur noch stammeln; die Augen hatten aufgehört zu sehen, und dann kam das letzte Schweigen.

Aber nicht das Schweigen des Todes. Länger als eine Stunde noch hob sich die Brust und dauerte das laute schwere Athmen, bis es allmälich langsamer wurde und das Leben sich auf seiner Stirn in kalten Thau löste.

Endlich war alles still; des armen Tulliver's matt erhellte Seele hatte für immer aufgehört, sich mit dem schmerzlichen Räthsel dieser Welt abzuquälen.

Nun war auch Hülfe gekommen; Lukas und seine Frau waren da, und der Doktor – zu spät; er konnte nur noch sagen:

»Das ist der Tod.«

Tom und Gretchen gingen zusammen hinunter in das Zimmer, wo des Vaters Platz nun leer stand. Ihre Augen wandten sich auf dieselbe Stelle, und Gretchen sagte:

»Tom, vergieb mir; wir wollen einander immer lieb haben«, und sie umfaßten sich und weinten mit einander.


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