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Fünfter Abschnitt.
Der hohle Baum

Selten werden Geheimnisse so verrathen oder entdeckt, wie unsre Furcht sich ausgemalt hat. Fast immer denkt sich die Furcht entsetzliche großartige Scenen aus, so sehr auch alle Wahrscheinlichkeit dagegen sprechen mag, und während des Jahres, wo Gretchen die heimliche Last auf dem Herzen lag, hatte sich ihr die Möglichkeit der Entdeckung fortwährend in einer plötzlichen Begegnung mit ihrem Vater oder Tom auf einem Spaziergange mit Philipp dargestellt. Sie überlegte sich freilich, daß das sehr unwahrscheinlich sei, aber ihre Furcht konnte doch von dem Gedanken nicht lassen. Unbedeutende, scheinbar gleichgültige Vorgänge, aus deren Verknüpfung die entscheidenden Schlußfolgerungen sich ergeben – damit hantirt wohl die Wirklichkeit am liebsten, aber für die Phantasie sind sie nicht der geeignete Stoff.

Tante Pullet war gewiß die letzte, von der Gretchen etwas befürchtete; da sie nicht in der Stadt wohnte und weder scharfsinnig noch böswillig war, so wäre es ganz unbegreiflich gewesen, wenn sie nicht eher von Tante Glegg was befürchtet hätte als von jener, und doch wählte sich das Schicksal kein anderes Instrument als grade Tante Pullet; sie wohnte nicht in der Stadt, aber der Weg vom Tannenhof führte an dem rothen Grunde vorbei, an der entgegengesetzten Seite von der rothen Mühle.

Der Tag nach Gretchens letzter Zusammenkunft mit Philipp war ein Sonntag, und Tante Pullet benutzte die Gelegenheit, nach der Kirche bei Schwester Glegg zu essen und dann bei der armen Schwester Tulliver Thee zu trinken. Sonntag war der einzige Tag, wo Tom Nachmittags zu Hause war, und heute hatte sich seine gute Laune, in der er die letzte Zeit immer gewesen war, in einem ungewöhnlich lustigen Geplauder mit seinem Vater und in der freundlichen Einladung gezeigt: »Gretelchen, komm doch auch mit!« – als er mit der Mutter in den Garten ging, um sich der vorschreitenden Kirschblüthe zu, freuen. Seit Gretchen weniger trübe und verschlossen war, gefiel sie ihm wieder weit besser; er wurde sogar etwas stolz auf sie, da er mehrmals fremde Leute hatte sagen hören, seine Schwester sei ein prachtvolles Mädchen. Ihr Gesicht hatte heute einen besonders frischen Glanz, der freilich aus einer innern Aufregung stammte, worin Leid und Freud zu gleichen Theilen gemischt war, der aber doch für einen Ausdruck freudiger Stimmung gelten konnte.

»Du siehst recht gut aus«, sagte Tante Pullet mit wehmüthigem Kopfschütteln, als sie am Theetisch saßen. »Ich hätte nie geglaubt, Betty, daß das Mädchen so gut aussehen könnte. Aber Du mußt Rosa tragen, Gretchen; in dem blauen Dinge, was Dir Tante Glegg gegeben hat, siehst Du aus wie 'ne Butterblume. Hannchen hat nie Geschmack gehabt; warum trägst Du nicht das Kleid von mir?«

»Es ist zu hübsch und putzt so, Tante. Ich glaube, es ist ein bischen auffallend für mich, wenigstens neben meinen andern Kleidern.«

»Da hast Du ganz recht; es wäre auffallend, wenn die Leute nicht wüßten, daß Deine Angehörigen wohl im Stande sind, Dir so etwas zu geben. Es versteht sich doch von selbst, daß ich meiner eigenen Nichte dann und wann ein Kleid gebe; ich kaufe mir ja jedes Jahr neue und trage sie nie auf. Und Lucie, der kann man ja nichts geben, die hat selbst alles vom besten; Schwester Deane kann wohl stolz sein, sie sieht freilich schrecklich gelb aus, die arme Frau; ich fürchte, mit dem Leberleiden das hält sie nicht durch. Das sagte auch der neue Prediger, der Doktor Kenn, heute in seiner Leichenrede.«

»'s ist ein ausgezeichneter Redner nach allem, was man hört, nicht wahr, Sophie?« bemerkte Frau Tulliver.

»Lucie hatte heut' einen Kragen um«, fuhr Frau Pullet fort und hielt die Augen nachdenklich gen Himmel gerichtet; »ich mag wohl auch einen haben der eben so gut ist, aber denn ist's doch auch mein bester.«

»Lucie heißt die Schöne von St. Ogg, sagen die Leute; das ist doch stark«, bemerkte Onkel Pullet.

»I, geht mir damit«, sagte der alte Tulliver, dem das ein Eingriff in Gretchens Rechte schien; »sie ist ja blos ein kleines Ding, was hat sie denn für 'ne Figur? Aber Kleider machen Leute. Ich finde nicht so viel zu bewundern an kleinen Frauen; sie sehen so albern aus, wenn sie neben dem Manne gehen, so ganz außer Verhältniß. Meine Frau hatte das richtige Maaß, war nicht zu klein für mich und nicht zu groß.«

Die arme Frau mit ihrer verwelkten Schönheit lächelte freundlich.

»Aber die Männer sind nicht alle groß«, sagte Onkel Pullet, der bei diesen Größenverhältnissen sehr interessirt war; »es kann einer ein hübscher junger Kerl sein und braucht doch nicht seine sechs Fuß zu haben wie Mosje Tom.«

»Ach, mit Eurem Klein und Groß; man kann schon Gott danken, wenn man nur grade gewachsen ist«, bemerkte Tante Pullet. »Da ist der verwachsene Junge von Advokat Wakem; ich sah ihn noch heute in der Kirche. Du lieber Himmel, was der mal für'n Vermögen kriegt, und die Leute sagen, er wäre so kurios und immer am liebsten allein. Es sollte mich nicht wundern, wenn er noch mal überschnappte; wir sind noch keinmal am rothen Grunde vorbeigekommen, wo er nicht zwischen den Bäumen und Büschen 'rum geschlichen wäre.«

Diese umfassende Aussage, womit Frau Pullet nichts weiter als die Thatsache bezeugte, daß sie Philipp ganze zwei Male an der bezeichneten Stelle gesehen hatte, machte auf Gretchen einen um so stärkeren Eindruck, als Tom ihr gegenübersaß und sie sich die möglichste Mühe gab, unbefangen auszusehen. Bei Philipps Namen erröthete sie, und die Röthe steigerte sich, bis endlich die Erwähnung des rothen Grundes ihr das Gefühl gab, als wäre das ganze Geheimniß verrathen. Da wagte sie nicht einmal, ihren Theelöffel in die Hand zu nehmen, damit man nicht sähe, wie sehr sie zittere. Die Hände unter dem Tisch krampfhaft verschlungen, saß sie da und wagte nicht aufzublicken. Glücklicherweise saß der Vater auf derselben Seite wie sie, und Onkel Pullet zwischen ihnen, so daß er sie nicht sehen konnte, wenn er sich nicht vornüber bog. Sehr zur rechten Zeit fiel ihre Mutter in das Gespräch und gab ihm eine andere Wendung. Sie erschrack nämlich jedesmal, wenn der Name Wakem in Gegenwart ihres Mannes genannt wurde. Allmälich gewann Gretchen Haltung genug um aufzublicken; ihre Augen begegneten denen Toms, aber er wandte sich sofort ab, und als sie den Abend zu Bett ging, wußte sie noch immer nicht, ob er aus ihrer Verwirrung Verdacht geschöpft habe oder nicht. Vielleicht hatte er auch nichts gemerkt; vielleicht dachte er, sie sei nur so erschrocken, weil ihr Vater den Namen Wakem habe hören müssen, und dieser Name war ihm so verhaßt, daß auch die höchste Aufregung an ihr nicht aufgefallen sein könne. So dachte Gretchen.

Aber Tom war viel zu scharfsichtig, um sich bei einer solchen Deutung zu beruhigen; er hatte zu klar gesehen, hinter Gretchens höchst auffallender Verwirrung stecke mehr als bloße Besorgniß um ihren Vater. Indem er sich alle Einzelheiten zu vergegenwärtigen suchte, welche seinem Verdachte Anhalt und Form geben konnten, fiel ihm nur ein, daß er Gretchen kürzlich von seiner Mutter hatte schelten hören, weil sie bei nassem Wetter nach dem rothen Grunde gegangen sei und sich die Schuhe ganz schmutzig gemacht habe; indeß konnte er sich, bei seinem alten Widerwillen gegen Philipps verwachsene Gestalt immer noch nicht entschließen, an die Möglichkeit zu glauben, seine Schwester fühle für eine so unglückliche Ausnahme von der allgemeinen Regel mehr als freundschaftliche Theilnahme. Es lag in Toms Natur, gegen alles außergewöhnliche einen wahrhaft abergläubischen Widerwillen zu empfinden. Eine Liebe für einen Verwachsenen wäre ihm bei jedem weiblichen Wesen widerwärtig gewesen; bei seiner Schwester war sie ihm unerträglich. Aber wenn sie irgend welchen Verkehr mit Philipp hatte, so mußte dem sofort Einhalt geschehen; sie mißachtete dann die tiefsten Empfindungen des Vaters, war den ausdrücklichen Befehlen ihres Bruders ungehorsam und stellte durch geheime Zusammenkünfte sich selbst böser Nachrede blos. Als er am andern Morgen vom Haus ging, war er in jener wachsamen Stimmung, wo einem das gewöhnlichste bedeutend wird.

Am Nachmittage gegen halb vier Uhr stand Tom auf der Werft und sprach mit Bob über die Möglichkeit, ob das Schiff, mit welchem sie ihre letzte Waarensendung fortgeschickt hatten, wohl in wenig Tagen mit guten Ergebnissen für sie beide wieder einliefe.

»I, sehn Sie mal«, warf Bob dazwischen, indem er in die Felder jenseits des Flusses hinübersah, »da geht der bucklige junge Wakem. Ich erkenne ihn und seinen Schatten auf den ersten Blick; ich treffe ihn immer da drüben am Fluß.«

Ein plötzlicher Gedanke schien Tom durch den Kopf zu gehen. »Ich muß fort, Bob, sagte er, ich habe was zu besorgen«, und stürzte in's Packhaus, wo er bat, es möge ihn doch ein anderer ablösen, er müsse sofort in dringenden Geschäften nach Hause.

Im raschesten Schritte und auf dem kürzesten Wege kam er bald ans Hofthor, und da blieb er einen Augenblick stehen, um es gemächlich aufzumachen, damit er mit einem Anschein von vollkommener Ruhe in's Haus gehen könne, als Gretchen mit Hut und Tuch aus der Hausthür trat. Seine Vermuthung war also richtig gewesen; er blieb stehen, um die Schwester zu erwarten. Bei seinem Anblick fuhr sie heftig zusammen.

»Warum kommst Du schon so früh, Tom? Ist was vorgefallen?« fragte sie mit leiser bebender Stimme.

»Ich komme so früh, um mit Dir nach dem rothen Grunde zu gehen und Philipp Wakem zu treffen«, sagte Tom, und die Falte auf der Stirn, die er immer hatte, zog sich tief und finster zusammen.

Gretchen stand hülflos, blaß und kalt. Tom wußte alles. Endlich sagte sie: »ich gehe da nicht hin«, und wandte sich um.

»Doch, Du wolltest hingehen, aber erst hab' ich Dir was zu sagen. Wo ist Vater?«

»Er ist ausgeritten.«

»Und Mutter?«

»Im Hofe bei den Hühnern.«

»Sie sieht mich also nicht, wenn ich in's Haus gehe. So komm.«

Sie gingen zusammen hinein, und Tom führte Gretchen in's Wohnzimmer, dessen Thür er hinter sich abschloß.

»Nun, Gretchen, sofort sagst Du mir alles, was zwischen Dir und Philipp Wakem vorgefallen ist.«

»Weiß es Vater?« fragte Gretchen noch immer zitternd.

»Nein«, sagte Tom entrüstet. »Aber er soll alles erfahren, wenn Du mich noch länger zu hintergehen suchst.«

»Ich will niemand hintergehen«, erwiderte Gretchen und flammte vor Zorn auf, daß Tom dieses Wort auf sie anzuwenden wagte.

»Dann sag' mir die volle Wahrheit.«

»Vielleicht weißt Du sie schon.«

»Einerlei, ob ich's weiß oder nicht. Sag' mir genau, was vorgefallen ist, oder Vater erfährt alles.«

»Dann will ich's Dir sagen, meinem Vater zu Liebe.«

»Ja, es steht Dir gut, Dich auf Deine Liebe für Vater zu berufen, nachdem Du seine tiefsten Empfindungen mißachtet hast.«

»Du thust nie Unrecht, Tom«, sagte Gretchen höhnisch.

»Nicht mit Wissen und Willen«, erwiderte Tom stolz und ehrlich, »aber ich hab' Dir nichts weiter zu sagen, als: Sag' mir, was zwischen Dir und Philipp Wakem vorgefallen ist. Wann hast Du ihn zum ersten Male im rothen Grunde getroffen?«

»Ungefähr vor einem Jahre«, antwortete Gretchen ruhig; Tom's Strenge lieh ihr einen gewissen Trotz und drängte das Bewußtsein des eigenen Unrechts zurück. »Du brauchst mich weiter nichts zu fragen. Philipp und ich sind dies Jahr her gute Freunde gewesen, wir haben uns oft getroffen und sind zusammen spazieren gegangen. Er hat mir auch Bücher geliehen.«

»Ist das alles?« fragte Tom und sah ihr zürnend grade in's Gesicht.

Gretchen schwieg einen Augenblick, dann war sie rasch entschlossen, sie dürfe Tom kein Recht geben, noch länger von hintergehen zu sprechen, und sagte mit stolzer Würde:

»Nein, nicht alles. Am Sonnabend gestand er mir, daß er mich liebe. Bis dahin hatte ich nie an so etwas gedacht, ich hatte ihn immer nur als einen alten Freund angesehen.«

»Und Du hast ihm Hoffnung gemacht?« sagte Tom mit dem Ausdruck der Verachtung.

»Ich sagte ihm, daß ich ihn wieder liebe.«

Tom schwieg einige Augenblicke, blickte zu Boden und runzelte die Stirn. Endlich blickte er auf und sagte kalt:

»Nun, Gretchen, hier ist nur zweierlei möglich: entweder Du gelobst mir feierlich, die Hand auf Vaters Bibel, daß Du mit Philipp Wakem nie wieder eine Zusammenkunft haben oder ein einziges Wort im geheimen sprechen willst – oder Du weigerst Dich dessen, und dann erfährt Vater alles, und diesen Monat, wo er durch meine Anstrengungen noch einmal glücklich werden sollte, trifft ihn der schwere Schlag, daß er erfährt, eine wie ungehorsame lügnerische Tochter er hat, die durch heimliche Zusammenkünfte mit dem Sohne des Mannes, der ihn hat ruiniren helfen, ihren guten Ruf preisgiebt. Nun wähle!« Kalt und bestimmt hatte Tom geendet; jetzt holte er die große Bibel und schlug das erste Blatt auf, wo das Geschriebene stand.

Es war eine furchtbare Wahl für Gretchen. Ihr Stolz verließ sie, und sie sagte mit flehendem Tone:

»Tom, verlang das nicht von mir. Ich will Dir versprechen, jeden Verkehr mit Philipp aufzugeben, wenn ich ihn noch einmal sehen oder auch nur an ihn schreiben kann, um ihm alles zu erklären, – ich will Dir versprechen, den Verkehr so lange aufzugeben, als es unsern Vater kränken kann … Ich fühle auch für Philipp. Er ist nicht glücklich.«

»Ich will von Deinen Gefühlen nichts wissen. Ich habe Dir genau gesagt, was ich will; nun wähle und mach rasch, ehe die Mutter hereinkommt.«

»Wenn ich Dir mein Wort gebe, so ist das eine eben so starke Verpflichtung für mich, als wenn ich die Hand auf die Bibel lege. Es bedarf dessen nicht, um mich zu binden.«

»Thu was ich Dir sage«, sagte Tom. »Dir ist nicht zu trauen, Gretchen; Du hast keine Festigkeit. Lege die Hand auf diese Bibel und sprich: »ich entsage von dieser Stunde jedem Verkehr mit Philipp Wakem«. Sonst bringst Du Schande über uns alle und Jammer über unsern Vater, und was hilft es, daß ich mich abquäle und auf jedes Vergnügen verzichte, um Vaters Schulden zu bezahlen, wenn Du ihn bis zum Wahnsinn ärgerst, grade jetzt, wo er wieder ruhig sein und sich aufrichten könnte?«

»O Tom, werden denn die Schulden bald abbezahlt?« rief Gretchen und schlug die Hände zusammen über diese plötzliche Freude mitten im Elend.

»Wenn sich alles macht wie ich hoffe«, antwortete Tom. »Aber«, fügte er hinzu und seine Stimme bebte vor Entrüstung, »aber während ich mich abgequält und gearbeitet habe, damit Vater vor seinem Tode noch einmal wieder innern Frieden fände, während ich für den guten Namen unserer Familie gesorgt habe, hast Du alles gethan, um beides zu zerstören.«

Gretchen fühlte tiefe Gewissensbisse; für den Augenblick beugte sich ihr Sinn unter die Entscheidung ihres Bruders, so grausam und unverständig ihr dieselbe auch schien, und indem sie sich selbst tadelte, rechtfertigte sie den Bruder.

»Tom«, sagte sie mit leiser Stimme, »es war Unrecht von mir, aber ich war so verlassen, und Philipp that mir so leid. Und dann muß ich auch sagen, es ist schlecht, Feindschaft und Haß zu hegen.«

»Unsinn!« rief Tom. »Deine Pflicht war klar genug. Kein Wort weiter, sondern versprich mir, was und wie ich's Dir gesagt habe.«

»Ich muß Philipp noch einmal sprechen.«

»Du wirst gleich mit mir kommen und mit ihm reden.«

»Ich gebe Dir mein Wort, ohne Dein Vorwissen weder mit ihm zusammen zu kommen noch an ihn zu schreiben. Mehr verspreche ich nicht. Und wenn Du willst, will ich dazu die Hand auf die Bibel legen.«

»Nun, dann versprich mir das.«

Gretchen legte die Hand auf die aufgeschlagene Bibel und wiederholte ihr Versprechen. Tom machte das Buch zu und sagte: »So, nun komm.«

Nicht ein Wort wurde auf dem Wege gewechselt. Gretchen litt schon im voraus die Qual um das was Philipp leiden sollte, und fürchtete die bittern Worte, die Tom gegen ihn äußern würde, aber sie fühlte, es sei vergebens, sich gegen die Unterwerfung zu sträuben. Mit fürchterlichem Griff hielt Tom ihr Gewissen und ihre tiefste Angst in seiner Gewalt; sie erlag fast unter der scheinbaren Wahrheit der Deutung, die er ihrem Benehmen gegeben hatte, und doch empörte sich ihr ganzes Innere gegen deren ungerechte Einseitigkeit. Indessen wandte sich seine ganze Entrüstung auf Philipp; er ahnte nicht, einen wie großen Antheil die alte Abneigung der Knabenjahre und bloßer persönlicher Stolz und Aerger an der Bitterkeit und Strenge der Worte hatte, womit er seine Pflicht als Sohn und Bruder erfüllen wollte. Eine haarscharfe Prüfung seiner eigenen Beweggründe war seine Sache eben so wenig wie ein zu genaues Eingehen in andere nicht ganz handgreifliche Fragen; er war ganz fest überzeugt, seine eigenen Beweggründe sowohl wie seine Handlungen seien gut; sonst hätte er ja nichts damit zu schaffen gehabt.

Gretchens einzige Hoffnung war noch, zum ersten Male könnte Philipp verhindert sein, zu kommen; dann gäbe es einen Aufschub, und sie könnte von Tom die Erlaubniß erhalten, an ihn zu schreiben. Ihr Herz schlug doppelt heftig, als sie unter die Föhren kamen. Nun sei es vorbei, dachte sie, sonst war ihr Philipp immer da begegnet. Aber kaum hatten sie den schmalen Fußweg in das Gebüsch betreten, und bei der ersten Wendung standen Tom und Philipp plötzlich nur einen Schritt weit einander gegenüber. Einen Augenblick schwiegen sie, und Philipp schoß einen fragenden Blick auf Gretchens Gesicht. Wohl fand er dort Antwort – in den blassen offenen Lippen, in den angstvoll starrenden großen Augen. Im Geiste sah sie schon ihren großen, starken Bruder Philipp's schwachen Leib fassen, ihn zu Boden werfen und mit Füßen treten.

»Nennen Sie das handeln wie ein Mann, Herr, und wie ein anständiger Mann?« sagte Tom mit schneidendem Hohn, sobald Philipp die Augen auf ihn richtete.

»Was soll das heißen?« entgegnete Philipp trotzig.

»Was das heißen soll? Treten Sie weiter zurück, damit ich nicht Hand an Sie lege; dann will ich Ihnen sagen, was es heißen soll. Es soll heißen, daß Sie die Thorheit und Unwissenheit eines jungen Mädchens benutzen, um sie dahin zu bringen, daß sie geheime Zusammenkünfte mit Ihnen hat. Es soll heißen, daß Sie mit dem guten Ruf einer Familie zu spielen wagen, die auf ihren guten und ehrlichen Namen etwas hält.«

»Das leugne ich«, unterbrach ihn Philipp ungestüm. »Niemals könnte ich mit etwas spielen, woran das Glück Ihrer Schwester hängt. Sie ist mir theurer als Ihnen; ich ehre sie mehr, als Sie sie je ehren können; ich könnte mein Leben für sie lassen.«

»Kommen Sie mir nicht mit so hochtrabendem Unsinn, Herr! Wagen Sie zu behaupten, Sie hätten nicht gewußt, daß es ihrem guten Rufe schaden könne, wenn sie hier Woche für Woche sich mit Ihnen träfe? wollen Sie behaupten, Sie hätten ein Recht, ihr Liebeserklärungen zu machen, selbst wenn Sie ein passender Mann für sie wären, da weder unser Vater noch Ihr Vater jemals in eine Heirath zwischen Ihnen beiden willigen würden? Und Sie – Sie versuchen sich in die Neigung eines hübschen Mädchens einzunisten, die noch nicht achtzehn Jahre alt und durch das Unglück ihres Vaters zur Einsamkeit verurtheilt ist! Das ist wohl Ihr verkrüppelter Begriff von Ehre! Aber ich nenne es gemeine Verrätherei – ich nenne es, die Umstände listig benutzen, um das zu gewinnen, was zu gut für Sie ist, was Sie auf anständigem Wege nie erreichen würden.«

»Es ist recht mannhaft von Ihnen, mit mir so zu sprechen«, sagte Philipp bitter und erbebte vor heftiger Aufregung am ganzen Leibe. »Riesen haben ein unvordenkliches Recht auf Dummheit und Uebermuth. Sie sind nicht mal fähig zu begreifen, was ich für Ihre Schwester fühle. Ich liebe sie so sehr, daß ich ihr zu Liebe selbst mit Ihnen Freund sein möchte.«

»Es thäte mir sehr leid, wenn ich Ihre Gefühle begriffe«, sagte Tom mit schneidender Verachtung. »Ich wünsche nur, daß Sie mich begreifen, daß Sie sich merken, ich werde für meine Schwester sorgen, und wenn Sie den geringsten Versuch wagen sollten, sich ihr zu nähern, oder ihr zu schreiben, oder sich ihr auch nur entfernt in's Gedächtniß zu rufen, dann soll Ihr schwacher, armseliger Leib, der Sie etwas bescheidener machen müßte, Sie nicht mehr schützen. Ich werde Sie durchprügeln, ich werde Sie dem öffentlichen Spott preisgeben. Sie der Geliebte eines hübschen Mädchens – wer wird nicht darüber lachen?!«

»Tom, das ertrag' ich nicht; länger höre ich's nicht mit an«, brach Gretchen mit halb erstickter Stimme heraus.

»Bleib, Gretchen!« sagte Philipp mit äußerster Anstrengung. Dann wandte er sich an Tom: »Sie haben augenscheinlich Ihre Schwester hergeschleppt, damit sie's mit anhöre, wie Sie mir drohen und mich beleidigen. Ihnen schien das natürlich das rechte Mittel, auf mich einzuwirken. Aber Sie irren sich. Lassen Sie Ihre Schwester reden. Wenn sie sagt, daß sie mich aufgeben muß, – ihren Wünschen werde ich mich fügen.«

»Um meines Vaters willen muß es sein, Philipp«, sagte Gretchen mit flehender Stimme. »Tom droht, er wolle alles an Vater sagen, und der könnte es nicht ertragen; darum habe ich versprochen und feierlich gelobt, ohne Vorwissen meines Bruders keinen weitern Verkehr mit Dir zu haben.«

»Das ist genug, Gretchen. Ich werde mich nicht ändern, aber ich wünschte wohl, Du hättest Dir Deine volle Freiheit bewahrt. Indeß vertraue mir, erinnere Dich, daß ich nie etwas anderes als Dein bestes suchen kann.«

»Ja wohl«, sagte Tom, den diese Haltung Philipp's auf's äußerste reizte; »Sie haben gut reden, daß Sie ihr bestes suchen; haben Sie das bisher auch gethan?«

»Gewiß habe ich das, vielleicht freilich mit einiger Gefahr. Aber ich wollte ihr einen Freund für's Leben geben, der sie hegte und pflegte, der ihr mehr Gerechtigkeit widerfahren ließe, als ein plumper engherziger Bruder, für den sie immer ihre Liebe vergeudet hat.«

»Ja, meine Liebe für sie ist anders als Ihre, und ich will Ihnen sagen, worin sie besteht. Ich will sie davor schützen, daß sie ihrem Vater ungehorsam ist und Schande bringt; ich will sie davor schützen, daß sie sich an Sie wegwirft, daß sie sich zum Gespött der Welt macht, daß sie von einem Menschen wie Ihr Vater mit Verachtung behandelt wird, weil sie für seinen Sohn nicht gut genug ist. Sie wissen recht gut, welche Art von Gerechtigkeit und zärtlicher Liebe ihrer gewartet hätte, wenn's nach Ihnen gegangen wäre. Schöne Redensarten richten bei mir nichts aus; ich halte mich an die Handlungen. Komm, Gretchen!«

Bei diesen Worten faßte er Gretchen am rechten Arm und sie streckte ihre linke Hand aus. Philipp ergriff sie, drückte sie einen Augenblick mit leidenschaftlichem Blick und eilte dann fort.

Schweigend gingen Tom und Gretchen einige Schritte weiter. Noch immer hielt er sie fest am Arm, als führe er einen Verbrecher mit Gewalt fort. Endlich entriß ihm Gretchen mit einem heftigen Ruck die Hand, und ihre lang zurückgehaltene Aufregung fand einen Ausdruck.

»Rede Dir nicht ein, Tom, daß ich glaube, Du habest Recht, oder daß ich mich Deinem Willen füge. Ich verachte die Gesinnung, die Du eben gegen Philipp gezeigt hast; ich verabscheue Deine schnöden unwürdigen Anspielungen auf seine verwachsene Gestalt. Dein Leben lang hast Du immer andere Leute getadelt, bist Du immer überzeugt gewesen, Du habest Recht, und blos weil Du zu engherzig bist, um zu sehen, daß es noch etwas besseres giebt als Dein eigenes Thun und Deine eigenen kleinlichen Ziele.«

»Gewiß«, gab Tom kühl zur Antwort. »Nur sehe ich nicht, daß Dein Thun besser ist und Deine Ziele auch nicht. Wenn Dein Benehmen und Philipp Wakem's Benehmen recht ist, warum schämst Du Dich denn, es bekannt werden zu lassen? Das beantworte mir doch. Ich weiß, was ich mit meinem Thun gewollt habe, und ich habe es durchgesetzt; aber was ist denn bei Deinem Thun für Dich oder andere gutes herausgekommen?«

»Ich will mich nicht vertheidigen«, antwortete Gretchen immer noch heftig; »ich weiß, ich habe Unrecht gethan – oft, immerwährend. Und doch, bisweilen wenn ich Unrecht gethan habe, ist's aus einer Empfindung geschehen, die Du nicht kennst und die Dir doch sehr gut anstände. Wenn Du je im Unrecht wärest, wenn Du etwas recht schlimmes gethan hättest, – mir thäten die traurigen Folgen für Dich leid, und ich würde Dir keine Strafe dafür wünschen. Aber Du hast immer Deine Freude daran gehabt, mich zu strafen; immer bist Du hart und grausam gegen mich gewesen; selbst als ich noch ein kleines Mädchen war und Dich immer lieber hatte als sonst wen auf der Welt, selbst da konntest Du mich weinend zu Bett gehen lassen, ohne mir zu vergeben. Du kennst kein Erbarmen; Du hast kein Bewußtsein von Deinen eigenen Mängeln und Sünden. Denn so hartherzig zu sein, das ist Sünde und ziemt sich für keinen Sterblichen, für keinen Christen. Du bist nichts als ein Pharisäer; Du dankst Gott nur für Deine eigene Tugend, Du glaubst, sie sei groß genug, um alles damit zu erreichen. Du hast nicht einmal eine Ahnung von Empfindungen, neben denen Deine glänzenden Tugenden schwarz sind wie die Nacht!«

»Gut«, sagte Tom mit kaltem Hohn, »wenn Deine Gesinnungen so viel besser sind als meine, bitte, so gieb sie doch durch etwas anderes zu erkennen, als durch ein Benehmen, welches leicht Schande über uns alle bringt, durch etwas anderes als indem Du lächerlicher Weise von einem Extrem in's andere fällst. Sag' mir doch, bitte, wie hast Du denn die Liebe, von der Du so viel sprichst, gegen mich oder den Vater bewiesen? Dadurch, daß Du uns nicht gehorcht, daß Du uns hintergangen hast. Meine Art, Liebe zu beweisen, ist eine andere.«

»Weil Du ein Mann bist, Tom, und Kraft hast und etwas in der Welt thun kannst.«

»Nun, wenn Du nichts thun kannst, dann unterwirf Dich denen, die es können.«

»Ich will mich auch unterwerfen, aber nur dem, was ich für recht erkenne. Von Vater will ich mir auch unverständiges gefallen lassen, aber nicht von Dir. Du prahlst mit Deiner Tugend, als wenn sie Dir ein Recht gäbe, grausam und unmännlich zu sein, wie Du heute gewesen bist. Rede Dir nicht ein, daß ich Philipp aus Gehorsam gegen Dich aufgebe. Sein körperliches Leid, das Du ihm vorwirfst, würde mich nur um so fester an ihn knüpfen und mir ihn noch lieber machen.«

»Sehr gut, das ist also Deine Ansicht von der Sache«, sagte Tom kälter als je; »Du brauchst mir nichts weiter zu sagen, um mir zu zeigen, wie groß der Abstand zwischen uns ist. Laß uns das für die Zukunft bedenken und schweigen.«

Damit ging Tom nach der Stadt zurück, um sich mit Onkel Deane über eine Geschäftsreise zu besprechen, die er am andern Morgen antreten sollte.

Gretchen ging nach Hause in ihr Zimmer und strömte da alle Entrüstung, für die Tom keinen Sinn hatte, in bittere Thränen aus. Als der erste Ausbruch ihres Zornes vorüber war, stieg die Erinnerung an jene ruhige Zeit in ihr auf, ehe das Glück, das heute zu so traurigem Ausgang gekommen war, die Klarheit und Unbefangenheit ihres Lebens gestört hatte. Damals hatte sie geglaubt, sie habe große Eroberungen gemacht und auf heitern Höhen hoch über den Versuchungen und Kämpfen dieser Welt festen Fuß gefaßt. Und nun war sie wieder herunter gekommen und stand mitten im Getümmel eines heißen Kampfes mit eigenen und fremden Leidenschaften. Das Leben war also doch nicht so kurz und vollkommene Ruhe nicht so nahe, wie sie vor zwei Jahren geträumt hatte. Sie mußte noch mehr kämpfen. Hätte sie gefühlt, sie sei vollständig im Unrecht und Tom vollständig im Recht, so hätte ihre Seele eher wieder Ruhe gefunden, aber jetzt stieß ihre Reue und Ergebung sich immer wieder an das bittre Gefühl einer gerechten Entrüstung. Ihr Herz blutete um Philipp; unaufhörlich rief sie sich die schmachvollen Beleidigungen, mit denen Tom ihn überhäuft hatte, in's Gedächtniß zurück und empfand so lebhaft, was er dabei gelitten haben müsse, daß es ihr fast vorkam wie ein stechender körperlicher Schmerz, daß sie vor Jammer den Fuß auf den Boden stieß und die Finger krampfhaft zusammen zog.

Und doch, wie kam es, daß sie ab und zu bei ihrer erzwungenen Trennung von Philipp etwas empfand wie Erleichterung? Gewiß nur, weil das Gefühl, nun die Heimlichkeit los zu sein, durch nichts zu theuer erkauft sein konnte.


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