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Zehnter Abschnitt.
Der Zauber scheint gebrochen

Die lange Reihe der Zimmer in Stephan's elterlichem Hause glänzte von Lichtern und Blumen und den persönlichen Reizen der tanzenden Paare, von den Müttern und Ehrendamen ganz zu schweigen. Der Brennpunkt all dieser Pracht war der große Salon, wo zum Klavier getanzt wurde; die Bibliothek, welche auf einer Seite daran stieß, trug den ruhigeren Schmuck der reiferen Jahre nebst Hauben und Karten, und auf der andern Seite bot das hübsche Kabinet mit dem anstoßenden Gewächshause einen kühlen Ruheplatz. Lucie, die heute zum ersten Male die Trauer abgelegt hatte und deren zierlich schlanker Gestalt das weiße Kreppkleid ganz vortrefflich stand, war die anerkannte Königin des Festes. Gretchen wollte zuerst nicht tanzen; sie sagte, sie habe alle Touren vergessen, seit sie vor lieber langer Zeit zum letzten Mal in der Schule getanzt habe, und sie freute sich dieses Vorwandes; denn es tanzt sich schlecht mit einem schweren Herzen. Aber zuletzt zuckte ihr die Musik durch die jungen Glieder und die Lust erwachte – trotzdem im entscheidenden Augenblick grade der unausstehliche junge Torry es war, der zum zweiten Male sein Glück bei ihr versuchte und sie aufforderte. Sie meinte zwar, sie könne höchstens Contretanz tanzen, aber er war natürlich bereit, auf dies hohe Glück zu warten, und fügte als Compliment hinzu, es sei freilich sehr langweilig, daß sie nicht walzen könne; er hätte so gern mit ihr gewalzt. Aber endlich kam der gute altmodische Tanz, der bescheidenste von allen und der lustigste dabei, und Gretchen vergaß ganz ihr sorgenvolles Leben in der kindlichen Freude an der halb ländlichen Musik und Bewegung, die jede anspruchsvolle Ziererei auszuschließen scheint. Sie söhnte sich mit dem jungen Torry ziemlich aus, der sie bald führte, bald umherschwang; Augen und Wangen brannten ihr von dem Feuer jugendlicher Lust, das nur eines anfachenden Hauches bedarf, um in Flammen aufzulodern, und ihr einfacher schwarzer Anzug mit dem dürftigen Spitzenbesatz schien wie die dunkle Einfassung eines Juwels.

Stephan hatte sie noch nicht zum Tanze aufgefordert, hatte sie überhaupt nur eben höflich begrüßt. Seit gestern war das Bild, welches er von ihr unverlöschlich in der Seele trug, von dem Bilde Philipp Wakem's halb verdeckt, das wie ein dunkler Fleck darauf lag: die beiden mußten eine Neigung füreinander haben, wenigstens Philipp für sie; und sie ihrerseits fühlte sich dadurch gebunden. Stephan sagte sich also selbst, das sei ein weiterer Ehrenpunkt, weswegen er der Macht widerstehen müsse, die ihn unaufhörlich zu überwältigen drohte. Wohl sagte er sich das, und doch hatte er schon mehr als einmal eine gewisse Wuth oder auch einen Schauder und Widerwillen empfunden, daß Philipp's Bild sich so einzudrängen wagte, und diese Empfindung hatte ihn fast noch stärker zu Gretchen hingetrieben und das Verlangen angefeuert, sie zu besitzen. Indeß heute Abend hatte er doch gethan, was er sich vorgenommen – hatte sich von ihr ferngehalten, sie kaum angesehen und alle seine liebenswürdigen Aufmerksamkeiten auf Lucie gewandt. Aber jetzt verschlang er Gretchen mit den Augen; er spürte Lust, den jungen Torry hinauszuwerfen und seine Stelle einzunehmen. Die Möglichkeit, auch mit Gretchen tanzen zu können, ihre Hand in der seinigen zu fühlen, packte ihn wie Durst. Und doch, schon in diesem Augenblick war's, als seien ihre Hände in einander verschlungen, blieben in einander verschlungen, bis der Tanz zu Ende ging – und waren doch einander so fern.

Stephan wußte kaum was vorging oder wie mechanisch er inzwischen die Pflichten der Höflichkeit erfüllte, bis er frei war und Gretchen am andern Ende des Zimmers allein sitzen sah. Hinter den Paaren her, die zum Walzer antraten, ging er auf sie zu, und als Gretchen merkte, sie sei es, die er suche, da fühlte sie trotz aller vorherigen Gedanken ihr Herz vor Freude glühen. Augen und Wangen leuchteten ihr noch von dem kindlichen Entzücken am Tanzen; ihr ganzes Wesen athmete Freude und Zärtlichkeit; selbst der kommende Schmerz schien ihr nicht bitter – diese eine Nacht noch, diese letzte Nacht wollte sie rückhaltslos das warme Leben genießen, ohne jeden kalten nagenden Gedanken an Vergangenheit und Zukunft.

»Es geht wieder an's Walzen«, sagte Stephan, indem er sich zu ihr beugte, mit dem Blick und Ton heimlicher Zärtlichkeit, wie ihn junge Träume sich schaffen in den sommerlichen Wäldern, wo leise Liebesstimmen die Luft erfüllen. Das sind Blicke und Töne, die den Hauch der Poesie auch in ein Zimmer tragen, wo man halb erstickt von heißem Gas und mühsamer Courmacherei.

»Es geht wieder an's Walzen; da wird man schwindlig vom Ansehen, und hier ist's so heiß. Wollen wir nicht etwas hinausgehen?«

Er nahm ihre Hand in seinen Arm und führte sie in das Kabinet, wo Albums und Kupferstiche auf den Tischen herumlagen – für Gäste, die nicht da waren – und dann weiter in das Gewächshaus.

»Wie seltsam und wunderbar die Bäume und Blumen mit den Lichtern dazwischen aussehen!« sagte Gretchen leise. »Als wären sie aus einem Wunderlande und würden nie vergehen oder verwelken, – ich könnte mir einreden, sie wären alle aus Edelstein.«

Während sie sprach, sah sie sich die Reihe von Geranien an, und Stephan antwortete nicht, aber er sah sie an – und hat nicht ein großer Dichter Licht und Klang in eins verschmolzen, das Dunkel stumm genannt, das Licht beredt?! Eine wundersame Gewalt mußte in dem langen Blicke liegen, den Stephan auf Gretchen heftete; sie wandte ihr Gesicht und blickte zu ihm auf – langsam wie eine Blume dem aufsteigenden Lichte sich zuwendet. Und schwankenden Schrittes gingen sie weiter – ohne zu merken daß sie gingen – ohne etwas anders zu merken und zu empfinden als den langen tiefen Blick, den sie einer auf den andern hefteten – einen Blick so feierlich, wie alle wahre Leidenschaft. Der stille Gedanke, daß sie einander entsagen müßten und wollten, verstärkte noch und erhöhte das Entzücken dieses stummen Liebesgeständnisses.

So waren sie an's Ende des Gewächshauses gekommen; da mußten sie stillstehen und umkehren. Dieser Wechsel in der Bewegung brachte Gretchen zu sich; sie erröthete tief, wandte den Kopf und entzog Stephan ihren Arm, indem sie an die Blumen herantrat, wie um sie zu riechen. Stephan stand regungslos und blaß.

»Die Rose möcht' ich haben!« sagte Gretchen, mit großer Anstrengung, um doch etwas zu sagen und das brennende Gefühl des unwiderruflichen Geständnisses zu übertäuben; »auf Rosen bin ich ganz versessen; ich rieche dran, bis aller Duft dahin ist.«

Stephan blieb stumm; er war unfähig, einen Satz zusammenzubringen, und Gretchen hob den Arm ein wenig zu der großen halbgeöffneten Rose, die ihr so gefallen hatte. Wer hat nicht die Schönheit eines Frauenarmes empfunden? Den unnennbaren Anflug von Zärtlichkeit, der in dem Ellbogen mit seinem Grübchen liegt, und das anmuthige Spiel der sanft verlaufenden Wellenlinien zu dem zarten Handgelenk hinab mit den zierlichen, fast unmerklichen Einschnitten in der festen Weichheit?! Die Schönheit eines Frauenarms rührte vor zwei Jahrtausenden die Seele eines großen Bildhauers so, daß er für das Parthenon ein Abbild davon schuf, welches uns noch heute ergreift, wenn wir diesen Arm den halbverwitterten Marmor eines kopflosen Rumpfes liebend umfassen sehen. Gretchen hatte einen solchen Arm – und der warme Ton des Lebens war darauf.

Wie Wahnsinn packte es Stephan; er stürzte auf den Arm zu, faßte ihn am Handgelenk und bedeckte ihn mit Küssen.

Aber im nächsten Augenblick riß sich Gretchen von ihm los und starrte ihn an wie eine verwundete Kriegsgöttin, bebend vor Wuth und Scham.

»Wie können Sie das wagen?« sagte sie mit zitternder halberstickter Stimme. »Welches Recht hab' ich Ihnen gegeben mich zu beleidigen?«

Sie stürzte von ihm fort in das anstoßende Zimmer und warf sich zitternd und athemlos auf's Sopha.

Eine fürchterliche Strafe war über sie gekommen für die Sünde, daß sie sich das Glück eines Augenblicks gegönnt hatte, welcher Verrath war an Lucie, an Philipp, an ihrem eigenen bessern Selbst. Auf das kurze Glück war ein Gifthauch gefallen: Stephan dachte leichtfertiger von ihr als von Lucie.

Stephan war stehen geblieben; er mußte sich anlehnen, ihn schwindelte von dem Widerstreit der Empfindungen – so wild tobten in ihm Liebe und Wuth und wirre Verzweiflung: Verzweiflung über seinen Mangel an Selbstbeherrschung und Verzweiflung, daß er Gretchen gekränkt habe.

Das letztere Gefühl überwog alle andern; ihr wieder nahe zu sein und sie um Vergebung zu bitten, war bald das einzige, wofür er noch Sinn behielt, und sie hatte nur wenige Minuten gesessen, als er zu ihr trat und sie mit flehendem Blick ansah. Aber noch war Gretchen's bittere Wuth nicht verflogen.

»Lassen Sie mich allein, wenn ich bitten darf«, sagte sie leidenschaftlich und stolz, »und vermeiden Sie mich in Zukunft.«

Stephan wandte sich und ging am andern Ende des Zimmers auf und ab. Er gedachte der harten Nothwendigkeit, daß er wieder in den Tanzsaal mußte. Als er hineinging, war der Walzer noch nicht vorbei – so kurz war die Ewigkeit gewesen, die er mit Gretchen verlebt hatte.

Auch Gretchen trat bald wieder in den Tanzsaal. Der ganze Stolz ihrer Natur war wachgerufen; die verhaßte Schwäche, die sie einem solchen Angriff auf ihre Achtung vor sich selbst ausgesetzt hatte, trug wenigstens die Heilung in sich. Alle Gedanken und Verlockungen des letzten Monats wollte sie in einen entlegenen Winkel ihres Gedächtnisses verweisen; jetzt gab es nichts mehr was sie verlocken konnte; ihre Pflicht erschien ihr nun so leicht, und die alten ruhigen Vorsätze behaupteten, so hoffte sie, wieder ihre friedliche Herrschaft. Wohl glänzte ihr Gesicht noch vor Aufregung, aber das Gefühl stolzer Selbstherrschaft bemeisterte jeden Eindruck. Tanzen wollte sie nicht mehr, aber mit jedem, der sie anredete, unterhielt sie sich geläufig und ruhig, und Nachts beim Schlafengehen war es ihr so leicht um's Herz, als sie Lucien küßte, und fast triumphirend gedachte sie jenes schrecklichen Augenblicks, der sie von der Möglichkeit befreit hatte, dieses liebe arglose Schwesterherz je wieder mit Wort oder Blick zu verrathen.

Am andern Morgen brach Gretchen nicht so früh nach Basset zu Tante Moß auf, als sie gehofft hatte. Ihre Mutter sollte sie im Wagen hinbringen, und mit dem Haushalt konnte Frau Tulliver nicht so rasch fertig werden. Gretchen mußte warten und setzte sich in das Gärtchen am Hause. Lucie packte drinnen einige Geschenke für die Kleinen in Basset ein, und als an der Hausthür geklingelt wurde, fürchtete Gretchen schon, Lucie würde mit Stephan herauskommen; denn gewiß war der Besuch kein anderer als er.

Aber der Besuch kam allein in den Garten und setzte sich zu ihr, Stephan war's nicht.

»Wir können grade die Spitzen der Föhren von hier sehen, Gretchen«, sagte Philipp.

Schweigend hatten sie sich die Hand gegeben, aber Gretchen sah ihn wieder so ganz mit dem alten kindlichen Lächeln an, wie er es lange nicht gesehen hatte, und sein Hoffen lebte frisch auf.

»Ja«, antwortete sie, »ich blicke oft nach den Föhren hinüber und wünsche, ich könnte wieder das Abendlicht auf den Stämmen sehen. Aber nur einmal bin ich dort wieder entlang gekommen, als ich mit der Mutter – nach dem Kirchhof ging.«

»Aber ich«, sagte Philipp, »ich bin dagewesen – ich gehe immer hin; ich lebe nur von der Vergangenheit.«

Eine starke Erinnerung und ein starkes Mitleid erfaßte Gretchen; sie legte ihre Hand in die seine. Unter den Föhren waren sie ja so oft Hand in Hand gegangen!

»Ich erinnere mich an alle Stellen da«, erwiderte sie; »ich weiß noch, was Du mir an jeder Stelle besonders gesagt hast – all das Schöne, wovon ich vorher nichts wußte.«

»Bald gehst Du auch wieder hin, nicht wahr, Gretchen?« sagte Philipp etwas schüchtern; »die Mühle kommt ja wieder an Deinen Bruder.«

»Aber ich werde nicht drin wohnen«, erwiderte sie; »von dem Glück werde ich nur hören. Ich gehe wieder fort – hat Dir Lucie das nicht schon gesagt?«

»So soll denn Zukunft und Vergangenheit sich nie zusammenfügen, Gretchen? Das Buch ist zu Ende – für immer?!«

Die grauen Augen, die so oft flehend und anbetend zu ihr aufgeblickt hatten, sahen sie jetzt mit einem letzten, schon halb verlöschenden Hoffnungsschimmer an, und Gretchen begegnete ihnen mit ihrem großen, offenen Blicke.

» Das Buch geht nie zu Ende, Philipp«, sagte sie ernst und wehmüthig; »mich gelüstet nach keiner Zukunft, welche die Bande der Vergangenheit zerreißt. Das Band, welches mich an meinen Bruder knüpft, ist eins der stärksten. Ich kann freiwillig nichts thun, was mich für immer von ihm trennte.«

»Ist das der einzige Grund, der uns für immer scheidet, Gretchen?« sagte Philipp mit dem verzweifelten Entschluß, eine bestimmte Antwort zu haben.

»Der einzige Grund«, antwortete Gretchen ruhig und entschieden. Und sie glaubte es. In diesem Augenblick war's ihr, als sei der verzauberte Becher zur Erde geworfen und zerschmettert. Die Aufregung, welche ihr die stolze Selbstherrschaft gegeben hatte, wirkte noch nach und mit einem Gefühl ruhigen Entschlusses blickte sie in die Zukunft.

Schweigend, ohne einander anzusehen, saßen sie Minuten lang Hand in Hand; Gretchen ganz verloren in die ersten Scenen ihrer Liebe und ihrer Trennung, als sei sie mit Philipp nicht im Garten, sondern im rothen Grunde; Philipp fühlte, er müsse über ihre Antwort ganz glücklich sein, sie war ja so offen und durchsichtig wie ein klarer Gebirgssee – und doch, warum war er nicht glücklich? Die Eifersucht ist nie zufrieden ohne eine Allwissenheit, mit der sie die geheimsten Falten des Herzens ergründen kann.


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