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Zweiter Abschnitt.
St. Ogg sitzt zu Gericht

Bald war es in der Stadt bekannt, Fräulein Tulliver sei wieder da; sie war also mit dem jungen Herrn Guest nicht durchgegangen um ihn zu heirathen – jedenfalls hatte der junge Herr Guest sie nicht geheirathet – und für ihre Strafbarkeit kam das auf dasselbe hinaus. Wir beurtheilen andere nach den Erfolgen; wie könnten wir auch anders, da wir ja die Entwicklung nicht kennen, die dazu geführt hat? Wäre Fräulein Tulliver nach einer schicklichen Reise von einigen Monaten als Frau Stephan Guest zurückgekommen, mit einem nachträglichen glänzenden Hochzeitsgeschenke von ihrem galanten jungen Manne u. s. w., so hätte sich die öffentliche Meinung in St. Ogg so gut wie anderswo nach diesem Erfolge gerichtet. In solchen Fällen ist die öffentliche Meinung in That und Wahrheit weiblichen Geschlechts. Sie hätte dann gefunden, die beiden hübschen jungen Leute seien in einer schiefen Position gewesen, hätten zwar sehr bedenklich gehandelt, er gegen die reizende Lucie, sie gegen den armen jungen Wakem, aber was können junge Leute für die Liebe? und der verwachsene Philipp gegen den bezaubernden Stephan – und sie war doch unschuldig – er hatte sie ja ganz gegen ihren Willen, förmlich mit Gewalt entführt – und jetzt sei ihm nichts zu gut für sie – und wie vortrefflich ihr das maisfarbige Moiree-Kleid stehe – und was für eine glänzende Partie es doch für die Müllerstocher sei – u. s. w. u. s. w. Die arme Lucie freilich sei recht zu bedauern, aber eigentlich verlobt sei sie doch noch nicht mit ihm gewesen, und die Seeluft würde ihr schon gut thun. Auch der junge Wakem habe sich die Sache recht zu Herzen genommen, sei fast von Sinnen gewesen – ein bischen sonderbar war er ja immer – aber nun sei er wieder außer Landes gegangen – das gescheuteste was er thun konnte –!

Aber nun war die Sache anders gekommen, wie wir wissen; Gretchen war nicht als Frau Stephan Guest zurückgekehrt, und über »Fräulein Tulliver« urtheilte die Welt ganz anders. Konnte es etwas abscheulicheres geben als ihr Benehmen? Macht ihrer Cousine, ihrer Freundin, ihrer Schwester unter ihrem eigenen Dache den Bräutigam abspänstig! weiß ihn durch die unweiblichsten Avancen, die zügelloseste Leidenschaft zu kirren! Aber ihre sehr bedenklichen Seiten hatte sie ja immer; ein feiner Sinn hatte längst geahnt, das könne nicht gut enden. Der arme Herr Stephan war lediglich zu bedauern; gegen einen jungen Menschen von fünfundzwanzig Jahren durfte man nicht so hart sein; er war offenbar der Verführte, war den Listen des verschmitzten Mädchens erlegen, hatte sie abzuschütteln gesucht – das bewies der rasche Abschied; der sprach doch sehr, sehr – gegen sie. Zwar hatte er einen Brief an seinen Vater geschrieben, worin er alle Schuld auf sich nahm und die Geschichte so romantisch erzählte, daß sie ganz rein dastand. Aber so ließ der »feine Sinn« der öffentlichen Meinung sich nicht fangen – Gottlob nicht! was würde auch sonst aus der Gesellschaft?! Ihr eigener Bruder hatte sie aus dem Hause gewiesen: »ehe einer so was thut, muß die Sache doch gründlich schlimm stehen!« Ein tüchtiger, achtungswerther Mensch, der junge Tulliver, dem die Aufführung seiner Schwester schwer zu Herzen ging. Hoffentlich machte sie sich bald wieder fort – in die Fremde – nach Amerika – und befreite die Töchter der Stadt von ihrer gefährlichen Nähe. Gut könne es ihr nicht wieder gehen; es sei nur zu hoffen, daß sie ernstlich bereue und daß Gott sich ihrer erbarme: er hatte ja nicht für die Gesellschaft zu sorgen – wie die öffentliche Meinung.

Beinahe vierzehn Tage gebrauchte der »feine Sinn« der Welt, um sich diese Eingebungen ganz klar zu machen; die erste Woche war hingegangen, bis Stephan's Brief kam, in welchem er von dem ganzen Vorgange Rechenschaft ablegte und hinzufügte, er sei nach Holland gegangen, habe bei seines Vaters Agenten in Mudport Geld erhoben und sei augenblicklich noch zu jedem Entschlusse unfähig.

Gretchen war die ganze Zeit zu sehr von einer peinlicheren Angst erfüllt, als daß sie sich um die Meinung der Welt hätte bekümmern können; die Angst um Stephan – Lucie – Philipp – bedrängte ihr armes Herz unablässig mit einem schweren Sturme von Liebe, Reue und Mitleid. Hätte sie überhaupt noch an Ungerechtigkeit und abstoßende Härte gedacht, so wäre es gewiß nur in dem Gefühle gewesen, daß sie ihr Aeußerstes schon an ihr gethan hätten – daß sie in dieser Beziehung für jeden Schlag unempfindlich sei, seit sie jene Worte von ihrem Bruder hatte hören müssen. Durch alle Sorge um die Geliebten und Gekränkten schossen immer wieder diese Worte wie ein furchtbarer Schmerz, der selbst in einen Himmel von Entzücken Elend und Entsetzen gebracht hätte. Der Gedanke, daß sie je wieder glücklich werden könne, leuchtete nie in ihrer Seele auf; jede Faser in ihr schien so von Schmerz zu zucken, als könne keine andere Macht je wieder auf sie wirken. Wie eine lange Buße lag das Leben vor ihr, und wenn sie über ihre Zukunft nachdachte, so ging ihr Sehnen nur nach einem Schutze gegen weiteres Fallen; ihre eigene Schwachheit verfolgte sie gespenstisch wie eine Vision schrecklicher Möglichkeiten, vor der sie nur in dem Bewußtsein einer sichern Zuflucht Frieden finden könne.

Indeß war sie dabei nicht ohne praktischen Blick; ihr angeborner Unabhängigkeitssinn war durch Gewohnheit zu mächtig geworden, als daß sie hätte vergessen können, sie müsse sich selbst ihr Brod verdienen, und bei der Unbestimmtheit aller sonstigen Aussichten nahm sie wieder zu dem einfachen Nähen ihre Zuflucht und verdiente sich damit genug, um das geringe Kostgeld bei Bob zu bezahlen. Ihre Mutter wollte sie allmälich bewegen, nach der Mühle zurückzukehren und wieder bei Tom zu wohnen; sie selbst wollte sich schon in St. Ogg durchschlagen. Dabei rechnete sie auf Doktor Kenn's Rath und Hülfe. Sie hatte nicht vergessen, was er ihr beim Abschied auf dem Bazar gesagt und wie erleichtert sie sich gefühlt hatte, als er mit ihr sprach; mit wahrhafter Sehnsucht wartete sie daher auf eine Gelegenheit, ihm alles zu vertrauen. Ihre Mutter erkundigte sich jeden Tag bei Deane's nach Luciens Befinden; die Nachrichten waren immer traurig; noch hatte sie nichts aus der Mattheit und Hinfälligkeit zu wecken vermocht, in die sie beim ersten Schlage gesunken war. Aber von Philipp erfuhr Frau Tulliver nichts; natürlich mochte ihr niemand etwas sagen, was auf ihre Tochter Bezug hatte. Endlich faßte sie sich ein Herz und beschloß, Schwester Glegg aufzusuchen, die gewiß alles wußte und sogar bei Tom in der Mühle gewesen war, ohne daß er freilich seiner Mutter erzählte, was bei der Gelegenheit vorgefallen sei.

Sobald die Mutter fort war, machte sich Gretchen auf den Weg zu Doktor Kenn. Es war das erste Mal seit ihrer Rückkehr, daß sie sich aus dem Hause wagte, aber ihr Sinn stand so fest auf den Zweck ihres Besuches gerichtet, daß ihr die Unannehmlichkeit, unterwegs Leuten zu begegnen und angegafft zu werden, garnicht einfiel. Kaum war sie indeß in die breiteren und belebteren Straßen gekommen, als sie sich beobachtet und angestarrt fand, und das Bewußtsein davon trieb sie eilig vorwärts, und sie wagte nicht rechts noch links zu blicken. Gleich darauf begegnete sie einigen Damen, alten Bekannten ihrer Familie; die thaten fremd und wandten sich ab, ohne ein Wort zu sagen. Jeder unfreundliche Blick schmerzte Gretchen, aber ihr eigenes Gewissen verbot ihr das Gefühl der Kränkung: »kein Wunder, dachte sie, daß sie nicht mit mir sprechen mögen – sie haben Lucie so lieb«. Nicht lange und sie bemerkte, daß sie an einigen Herren vorbei ging, die vor dem Klubhause standen, und unwillkürlich sah sie, wie der junge Torry vortrat und, seinen Kneifer im Auge, sie so leichtfertig grüßte, als sei sie eine Biermamsell seiner Bekanntschaft. Gretchens Stolz war zu mächtig, als daß sie nicht, trotz ihres Kummers, diesen Stich hätte fühlen sollen, und zum ersten Male bemächtigte sich ihrer der Gedanke, ihre Treulosigkeit gegen Lucie sei nicht das einzige, worüber böse Nachrede gegen sie laut wurde. Aber schon war sie an der Pfarrwohnung; da hoffte sie etwas anderes zu finden als bloße Vergeltung. Vergeltung kann jeder üben, der härteste, grausamste, verthierteste Bummler an der Straßenecke; Beistand und Mitleid sind seltner – um so mehr muß der Rechtschaffene sie geben.

Kenn saß zwischen seinen Büchern, für die er jetzt wenig Sinn hatte, und lehnte die Wange an den Kopf seines jüngsten Kindes, eines dreijährigen Mädchens; er schickte das Kind hinaus, lud Gretchen zum Sitzen ein und sagte:

»Ich wollte Sie schon aufsuchen; Sie sind mir zuvorgekommen; das ist mir lieb.«

Gretchen sah ihn so kindlich gradezu an, wie auf dem Bazar und sagte: »ich möchte Ihnen alles erzählen«; aber die dicken Thränen traten ihr dabei in die Augen und die Aufregung der Demüthigung, die sie auf dem Herwege unterdrückt hatte, mußte sich erst Luft machen, ehe sie weiter reden konnte.

»Erzählen Sie mir alles«, sagte Doktor Kenn mit ruhiger Güte in seiner ernsten festen Stimme; »betrachten Sie mich als einen Mann, dem eine lange Erfahrung zur Seite steht, die Ihnen nützlich werden kann.«

In abgebrochenen Sätzen und zuerst mit einiger Anstrengung, bald aber durch das Vertrauen erleichtert und daher mit größerer Ruhe erzählte Gretchen die kurze Geschichte eines Kampfes, der der Anfang eines langen Schmerzes werden sollte. Erst am Tage vorher hatte Kenn den Inhalt von Stephan's Briefe erfahren und demselben sofort Glauben geschenkt, ohne erst der Bestätigung durch Gretchen zu bedürfen. Jener unwillkürliche Nothschrei: »O, ich muß fort!« war ihm im Gedächtniß geblieben als ein Beweis, daß sie einen inneren Kampf zu bestehen habe.

Am längsten verweilte Gretchen bei dem Gefühle, welches sie zu Mutter und Bruder zurückgetrieben hatte, welches sie an die Erinnerungen der Vergangenheit fesselte. Als sie zu Ende war, schwieg Kenn einige Minuten; ihm lastete etwas auf der Seele. Er stand auf und ging, die Hände auf dem Rücken, einige Male im Zimmer auf und ab. Endlich setzte er sich wieder und sagte, indem er Gretchen ansah:

»Ihr Entschluß, zu Ihren nächsten Freunden zurückzukehren und da zu bleiben, wo alle Bande Ihres Lebens geknüpft sind, ist ein rechter Entschluß, dem die Kirche nach ihrer ursprünglichen Verfassung und Zucht entgegenkommt, indem sie dem Bußfertigen die Arme öffnet, über ihre Kinder wacht bis an's Ende und sie nie aufgiebt, als bis sie unrettbar dem Verderben verfallen sind. Und in der Kirche müßte sich das Gefühl der Gemeinde darstellen, so daß jedes Kirchspiel eine Familie wäre, die durch christliche Brüderlichkeit unter einem geistlichen Vater zusammengehalten würde. Aber die Gedanken christlicher Zucht und Brüderlichkeit haben ganz ihre Gewalt verloren, sind für das große Publikum kaum noch vorhanden, leben höchstens noch in der verkümmerten Gestalt fort, die sie in den kleinen Gemeinden der Schismatiker angenommen haben, und hielte mich nicht der feste Glaube aufrecht, daß die Kirche schließlich die volle Kraft der Verfassung doch wieder gewinnen muß, die allein den Bedürfnissen schwacher Menschen entspricht, so verlöre ich oft den Muth, wenn ich den Mangel an Gemeinsinn und an dem Gefühl gegenseitiger Verantwortlichkeit unter meinen eigenen Pfarrkindern sehe. Heutzutage scheint alles darauf hinzugehen, die natürlichen Bande zu lösen – willkürliche Wahl an die Stelle der Pflichttreue, der Anhänglichkeit an die Vergangenheit des Menschen zu setzen. Ihnen, Fräulein Tulliver, hat Herz und Gewissen das rechte Licht gegeben, und ich habe dies alles gesagt, um Ihnen zu zeigen, was ich für Sie wünschen – was ich Ihnen rathen würde, wenn ich lediglich meinen Gefühlen ohne Rücksicht auf entgegenstehende Verhältnisse folgen dürfte.«

Wieder schwieg Kenn eine kurze Zeit. Er hatte nichts von überströmender Herzensgüte; in dem Ernst seines Blicks und seiner Stimme lag eher eine gewisse Kälte. Hätte Gretchen nicht gewußt, seine Herzensgüte sei so dauernd wie zurückhaltend, so hätte sie wohl bange sein mögen; so aber hörte sie nur erwartungsvoll zu, in der festen Gewißheit, er wisse Rath und Hülfe für sie. Er fuhr fort:

»Bei Ihrer Unbekanntschaft mit der Welt, Fräulein Tulliver, werden Sie sich schwerlich vorstellen, wie ungerecht die Welt wahrscheinlich über Sie urtheilen wird und wie schlimme Folgen das für Sie haben kann, so triftig und allgemein bekannt die Gegenbeweise auch sein mögen.«

»O doch – doch – ich fange schon an, es zu erfahren«, antwortete Gretchen, unfähig diese Aeußerung ihres frischen Schmerzes zu unterdrücken. »Ich weiß, man wird mich beleidigen, man wird schlechter von mir denken als ich bin.«

»Vielleicht wissen Sie noch nicht«, sagte der Pastor mit einem Anfluge von persönlichem Mitleid, »daß ein Brief gekommen ist, welcher für jeden, der Sie nur einigermaßen kennt, vollständig beweist, daß Sie den steilen und schwierigen Pfad der Rückkehr zum Guten in dem Augenblick betraten, als diese Rückkehr am allerschwersten war.«

»O – wo ist er?« rief das arme Gretchen, bebend vor Aufregung.

»Er ist außer Landes; er hat seinem Vater alles geschrieben, hat Sie vollständig gereinigt, und ich hoffe, die Mittheilung dieses Briefes an Ihre Cousine wird wohlthätig auf sie wirken.«

Der Pastor wartete einen Augenblick, daß Gretchen sich wieder beruhigte, und fuhr dann fort:

»Der Brief, wie gesagt, müßte vernünftiger Weise jeden falschen Eindruck beseitigen. Aber ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, Fräulein Tulliver, daß nicht nur die Erfahrung meines ganzen Lebens, sondern meine Beobachtung in den letzten drei Tagen mich befürchten läßt, es wird kaum einen Beweis geben, der Sie vor den peinlichen Folgen falscher Nachrede retten kann. Die Leute, die zu einem gewissenhaften Kampfe, wie der Ihrige, am unfähigsten sind, sind genau die, welche sich am ersten von Ihnen zurückziehen – weil sie einen solchen Kampf nicht kennen und nicht an ihn glauben. Ich fürchte, Ihr Leben hier wird nicht nur von vielem Kummer, sondern auch von vielen Hindernissen begleitet sein. Aus diesem Grunde – und aus diesem Grunde allein – bitte ich Sie zu überlegen, ob es nicht besser wäre, wenn Sie auswärts eine Stelle annähmen, wie Sie das früher wollten. Ich würde mir alle Mühe geben, Ihnen eine zu verschaffen.«

»Wenn ich doch nur hier bleiben könnte!« sagte Gretchen. »Mir fehlt das Herz, wieder ein Leben in der Fremde anzufangen. Ich hätte keinen Halt. Ich käme mir vor wie ein einsamer Wandrer – wie abgeschnitten von meiner Vergangenheit. Der Dame, die mir eine Stelle angeboten hatte, habe ich abgeschrieben. Wenn ich hierbliebe, könnte ich's vielleicht wieder gut machen – an Lucie – an andern, könnte ihnen beweisen, wie leid mir's thut. Und« – dabei flammte wieder etwas von dem alten Stolze auf – »ich will nicht fort, weil die Leute die Unwahrheit von mir sagen. Sie sollen lernen, sie zurückzunehmen. Wenn ich am Ende doch fort muß, weil – weil andre es wünschen, dann will ich wenigstens nicht jetzt fort.«

»Gut«, erwiderte Kenn nach einiger Ueberlegung »wenn Sie darauf bestehen, Fräulein Tulliver, so können Sie auf allen Einfluß rechnen, den mir meine Stellung giebt; denn grade als Geistlicher dieses Orts fühle ich mich verpflichtet, Ihnen zu helfen, Sie zu unterstützen. Ich will hinzufügen, daß ich auch persönlich an Ihrem Seelenfrieden und Wohlergehen tiefes Interesse nehme.«

»Ich habe weiter nichts nöthig als eine Beschäftigung, um mir etwas zu verdienen und unabhängig zu bleiben«, sagte Gretchen; »viel brauche ich nicht; ich kann in meiner jetzigen Wohnung bleiben.«

»Ich muß mir's reiflich überlegen«, antwortete der Pastor, »und in wenig Tagen werde ich besser beurtheilen können, wie die Stimmung in der Stadt ist. Ich werde Sie aufsuchen; ich werde immer an Sie denken.«

Als Gretchen fort war, stand der Pastor lange Zeit still, die Hände auf dem Rücken, die Augen zu Boden gerichtet, von Zweifeln und Bedenken schmerzlich bewegt. Der Ton in Stephans Briefe, den er gelesen hatte, und das ganze Verhältniß aller betreffenden Personen drängte ihm unwiderstehlich den Gedanken auf, eine Heirath zwischen Stephan und Gretchen sei schließlich doch das geringste Uebel, und die Unmöglichkeit, daß sie unter einer andern Voraussetzung in St. Ogg zusammen lebten – außer nach jahrelanger Trennung –, schien ihm ein ganz unübersteigliches Hinderniß für Gretchens Verbleiben. Andrerseits ging er mit dem ganzen Verständniß eines Mannes, der Seelenkämpfe erlebt und jahrelang seinen Mitmenschen mit Hingebung gedient hatte, in Gretchens innern Zustand ein und vergegenwärtigte sich, wie eine solche Heirath ihrem Herzen und Gewissen eine Entweihung sein müsse; mit ihrem Gewissen durfte man nicht spielen; der Grundsatz, nach dem sie gehandelt hatte, war ein sichrerer Führer als jedes Abwägen der Folgen. Seine Erfahrung sagte ihm, in solchen Fällen sei die Dazwischenkunft eines Dritten zu bedenklich, als daß man die Verantwortlichkeit dafür so leichthin auf sich nehmen könnte, und der mögliche Ausgang – sei es eines Versöhnungsversuches mit Lucie und Philipp, sei es eines Rathes nach der andern Seite – lag in einer um so undurchdringlicheren Dunkelheit verborgen, als sich jeder sofortigen Entscheidung ein Uebel an die Fersen heftete.

Das große Räthsel des wechselnden Verhältnisses zwischen Leidenschaft und Pflicht ist niemandem klar, der befähigt ist es zu begreifen; für die Frage, ob der Augenblick schon eingetreten sei, wo einer über die Möglichkeit einer erfolgreichen Entsagung hinaus ist und dem Zuge einer Leidenschaft sich hingeben muß, gegen die er sich als eine Sünde gewehrt hat – dafür giebt es keinen Hauptschlüssel, der auf alle Fälle paßt. Die Kasuisten sind zum Schimpfwort geworden, aber in ihrer verkehrten Haarspalterei war der Schatten einer Wahrheit, gegen die unsere Augen und Herzen leider zu oft verschlossen sind – der Wahrheit nämlich, daß moralische Urtheile falsch und hohl sein müssen, wenn ihnen nicht die stete Beziehung zu den besonderen Umständen des einzelnen Falles Maaß und Licht giebt.

Alle Menschen von tüchtigem, derben Sinn haben eine natürliche Abneigung gegen die Leute von abstrakten Grundsätzen; sie erkennen nämlich sehr bald, daß unserm geheimnißvoll verschlungenen Menschenleben sich nicht mit Grundsätzen beikommen läßt und daß sich in solche Formeln »wohl einzuschnüren« nur alle göttlichen Triebe und Eingebungen unterdrücken hieße, die aus wachsender Einsicht und Liebe hervorgehen, während jene mit ihren allgemeinen Regeln Recht und Gerechtigkeit zu üben meinen nach einer fix und fertigen, patentirten Methode, ohne die Mühe, auch Geduld und Unparteilichkeit zu üben, ohne sich erst zu vergewissern, ob sie auch die Einsicht haben, die eine sauer erworbene Schätzung der Versuchung oder ein Leben giebt, welches bewegt und tief genug ist, um ein weitumfassendes Mitgefühl für alles Menschliche hervorzubringen.


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