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Edgeworth de Firmont war der Beichtvater der Prinzessin Elisabeth. Der König, der seine Verurteilung schon seit beinahe sechs Wochen vorausgesehen hatte, hatte seine Schwester über die Wahl des Geistlichen, der ihn in seinen letzten Augenblicken begleiten sollte, um Rat gefragt, und Madame Elisabeth hatte ihm weinend den Abbé Edgeworth vorgeschlagen.
Dieser würdige Geistliche, ein geborener Engländer, war den Septembergreueln glücklich entkommen und hatte sich unter dem Namen Essex nach Choisy-le-Roi zurückgezogen. Die Prinzessin Elisabeth kannte seine doppelte Adresse, sie hoffte, daß er vor Beendigung des Prozesses nach Paris kommen werde.
Sie irrte sich nicht. Der Abbé Edgeworth leistete der Aufforderung mit freudiger Ergebung Folge, denn er wußte wohl, wie gefährlich es für einen nicht beeideten Geistlichen war, den König auf seinem Todesgange zu begleiten.
So schrieb er am 21. Dezember 1792 an einen Freund in England:
»Wenn die Ruchlosigkeit des Volkes so weit geht, daß es diesen Königsmord auf sich nimmt, so bereite ich mich selbst auf den Tod vor, denn ich bin überzeugt, daß die Volkswut mich nicht eine Stunde nach dieser entsetzlichen Szene am Leben lassen wird.«
Der König schloß sich mit ihm ein.
Um acht Uhr abends kam er wieder heraus und sagte zu den Kommissaren:
»Meine Herren, haben Sie die Güte, mich zu meiner Familie zu führen.«
»Das geht nicht,« erwiderte einer der Kommissare; »aber man wird Ihre Familie hierherkommen lassen, wenn Sie es wünschen.«
»Gut,« antwortete der König, »wenn ich sie nur ungehindert und ohne Zeugen in meinem Zimmer sprechen kann.«
»Nicht in Ihrem Zimmer,« entgegnete derselbe Munizipalbeamte, »sondern in dem Speisezimmer; so haben wir's mit dem Justizminister verabredet.«
»Aber Sie haben doch gehört,« sagte der König, »daß mir der Beschluß des Konvents gestattet, meine Familie ohne Zeugen zu sprechen.«
»Das ist wohl wahr, Sie werden unter sich sein, die Tür wird geschlossen, aber wir werden Sie durch das Fenster beobachten.«
»Gut, lassen Sie meine Familie kommen.«
Die Munizipalbeamten entfernten sich, und der König ging in das Speisezimmer.
Cléry folgte ihm, rückte den Tisch auf die Seite und stellte die Sessel weg, um Platz zu machen.
»Cléry,« sagte der König, »bringen Sie eine Flasche Wasser und ein Glas, für den Fall, daß die Königin Durst bekommt. . . . Warten Sie, Cléry; bitten Sie den Herrn Abbé Edgeworth, mein Zimmer nicht zu verlassen; sein Anblick könnte einen zu großen Eindruck auf meine Familie machen.«
Um halb neun Uhr tat sich die Tür auf. –
Die Königin ging voran, ihren Sohn an der Hand führend; dann kamen Madame Elisabeth und Madame Royale.
Der König breitete die Arme aus. Die beiden Damen und die beiden Kinder sanken weinend an seine Brust.
Eine Minute lang herrschte tiefe Stille im Speisezimmer, man hörte nur das Schluchzen der Frauen und Kinder.
Dann machte Marie Antoinette eine Bewegung, um den König in sein Zimmer zu führen.
»Nein,« sagte er, sie zurückhaltend, »ich darf Sie nur hier sprechen.«
Die Königin und die königliche Familie hatten den Urteilsspruch durch Zeitungsverkäufer erfahren, aber die näheren Umstände waren ihnen nicht bekannt.
Der König erzählte ihnen, was er wußte, entschuldigte seine Feinde und zeigte der Königin, daß weder Pétion noch Manuel für den Tod ohne Aufschub gestimmt hatten.
Marie Antoinette hörte zu und jedesmal, wenn sie sprechen wollte, wurde ihre Stimme durch Tränen erstickt.
Sie überließ sich einem Gefühl, das der Reue sehr ähnlich war. Sie wollte den König in sein Zimmer führen, um einen Augenblick allein mit ihm zu bleiben. Als sie sah, daß es nicht möglich war, zog sie den König ans Fenster.
Gewiß wollte sie ihm zu Füßen fallen und ihn weinend und schluchzend um Verzeihung bitten. Der König erriet ihre Absicht und hielt sie zurück.
»Lesen Sie das, meine teure, geliebte Gattin«, sagte er, sein Testament aus der Tasche ziehend.
Marie Antoinette las halblaut den Satz, den ihr der König mit dem Finger zeigte:
»Ich bitte meine Gemahlin, mir alle Leiden zu verzeihen, die sie um meinetwillen erduldet, und den Kummer, den ich ihr während unserer Ehe vielleicht gemacht habe, so wie sie auch versichert sein kann, daß ich ihr nicht zürne, falls sie sich etwas vorzuwerfen hätte.«
Wer würde ihr einen Vorwurf machen mögen, der Dulderin, die mit der doppelten Glorie des Märtyrertums und der Verzeihung ihres Gatten vor die Nachwelt getreten ist?
Sie fühlte das; sie sah ein, daß sie von jenem Augenblick an vor der Geschichte gerechtfertigt dastand; aber sie wurde um so schwächer im Angesicht des Mannes, den sie so spät lieben und schätzen gelernt hatte, sie fühlte, daß sie ihn verkannt, seine guten Eigenschaften übersehen und nur seine Mängel bemerkt hatte.
Es waren nicht mehr Tränen, nicht mehr Worte, die sich der Brust der Unglücklichen entrangen, es war ein krampfhaftes Schluchzen. Sie wollte mit ihrem Gemahl sterben, und wenn man ihr diese Gunst verweigerte, den Hungertod erleiden.
Die Kommissare, die nichts verstehen konnten, aber an den Gebärden errieten, daß der Verurteilte die Überlebenden tröstete, vermochten den Anblick nicht länger zu ertragen; sie wandten sich ab, und als sie weiter die Klagetöne hörten, ließen sie ihrem menschlichen Gefühl freien Lauf und brachen in Tränen aus.
Dieser herzzerreißende Auftritt dauerte eindreiviertel Stunden. – Endlich stand der König auf. Gattin, Schwester, Kinder hängten sich an ihn. Der König und die Königin hielten den Dauphin bei der Hand. Die kleine Prinzessin stand zur Linken ihres Vaters und hielt ihn umfaßt; Madame Elisabeth stand hinter ihrer Nichte und hielt den Arm des Königs; Marie Antoinette, die des Trostes am meisten bedurfte, weil sie am wenigsten schuldlos war, hatte den Arm um den Hals ihres Gatten geschlungen, und diese rührende Gruppe fühlte nur einen Schmerz. Mitten unter dem Schluchzen und Wehklagen hörte man nur die Worte:
»Wir werden uns wiedersehen, nicht wahr?«
»Ja, ja! beruhigen Sie sich.«
»Morgen früh um acht Uhr, nicht wahr?«
»Ich verspreche es Ihnen.«
»Warum nicht um sieben Uhr?« fragte die Königin.
»Nun ja, um sieben Uhr,« erwiderte der König; »aber jetzt . . . adieu, adieu!«
Diese letzten Worte sprach er, mit so ausdrucksvoller Stimme, daß man ihm Folge leisten mußte, denn seine Kräfte waren erschöpft.
Ebenso ging es der jungen Prinzessin; sie sank mit einem matten Klageton zu Boden.
Sie war ohnmächtig. Madame Elisabeth und Cléry hoben sie auf.
Der König sah die Notwendigkeit ein, seine Gefühle zu bekämpfen und stark zu sein. Er entwand sich den Armen der Königin und des Dauphin, und ging, noch ein Lebewohl zurückrufend, in sein Zimmer.
Dann verschloß er die Tür hinter sich.
Cléry wollte die noch immer ohnmächtige junge Prinzessin in die Wohnung der Königin tragen; aber an der Treppe hielten ihn die Kommissare zurück und zwangen ihn, umzukehren.
Der König hatte den Abbé Edgeworth in dem Kabinett des Ecktürmchens wieder gefunden, und ließ sich zu seiner Zerstreuung von ihm erzählen, wie er in den Temple gekommen war.
Ob er dieser Erzählung mit vollem Bewußtsein zuhörte, oder ob die Worte von seinen eigenen Gedanken übertönt wurden und nur verworren in seine Ohren drangen, wer kann es wissen?
Als die Erzählung beendet war, sagte der König:
»Jetzt wollen wir alles vergessen und nur an mein Seelenheil denken.«
»Sire,« antwortete der Abbé, »ich bin bereit, alles zu tun, was in meinen Kräften steht, und ich hoffe, daß Gott mich dabei unterstützen wird . . . Aber glauben Sie nicht, daß es ein großer Trost für Sie sein würde, die Messe zu hören und zu kommunizieren!«
»Jawohl,« sagte der König, »glauben Sie, daß ich eine solche Vergünstigung zu schätzen wissen würde . . . Aber wie wollen Sie es möglich machen? Bedenken Sie, welcher Gefahr Sie sich aussetzen . . .«
»Das ist meine Sorge, Sire, und ich will Eurer Majestät beweisen, daß ich der Ehre würdig bin, die Sie mir erweisen. Geben Sie mir unbedingte Vollmacht, und ich stehe für alles.«
»Gehen Sie«, erwiderte Ludwig XVI. »Gehen Sie,« wiederholte er kopfschüttelnd, »aber es wird vergebens sein.«
Der Abbé Edgeworth verneigte sich und ging fort, um sich in die Kanzlei führen zu lassen.
»Der Mann, der morgen sterben wird,« sagte der Abbé, »wünscht vor seinem Todesgange die Messe zu hören und zu beichten.«
Man beriet sich.
Die Bitte wurde unter zwei Bedingungen gewährt: Erstens sollte der Abbé ein Gesuch schreiben und unterzeichnen, und zweitens sollte die Zeremonie am andern Morgen spätestens um sieben Uhr beendet sein, da die Hinrichtung des Gefangenen um acht Uhr stattfinden sollte.
Der Abbé schrieb das Gesuch und ließ es in der Kanzlei. Dann wurde er zu dem Gefangenen zurückgeführt, dem er die Gewährung seiner Bitte anzeigte.
Es war zehn Uhr, der Abbé Edgeworth blieb bis Mitternacht mit Ludwig XVI. allein.
Um Mitternacht sagte der König zu ihm:
»Herr Abbé, ich bin müde, ich möchte schlafen; ich brauche Kraft für morgen.«
Dann rief er zweimal: »Cléry! . . . Cléry!«
Cléry erschien, entkleidete den König und wollte ihm die Haare aufwickeln; aber Ludwig XVI. sagte lächelnd:
»Lassen Sie nur, es ist nicht der Mühe wert.«
Dann legte er sich zu Bett, und als Cléry die Vorhänge zuzog, sagte der König zu ihm:
»Wecken Sie mich um fünf Uhr.«
Kaum ruhte sein Haupt auf dem Kissen, so schlief er ein, so unwiderstehlich waren bei ihm die körperlichen Bedürfnisse.
Der Abbé Edgeworth legte sich auf das Bett des Kammerdieners.
Cléry, der nur wenig schlief und oft durch schauerliche Träume aufgeschreckt wurde, versäumte die bestimmte Stunde nicht. Schlag fünf Uhr stand er auf und machte Licht.
»Ich habe gut geschlafen,« sagte der König; »es war mir ein Bedürfnis, denn der gestrige Tag hat mich schrecklich ermüdet . . . Wo ist der Herr Abbé?«
»Auf meinem Bett, Sire.«
»Auf Ihrem Bett! wo haben Sie denn die Nacht zugebracht?«
»Auf diesem Sessel.«
»Es tut mir leid, Sie müssen eine schlechte Nacht gehabt haben.«
»Oh, Sire,« erwiderte Cléry, »wie hätte ich in einem solchen Augenblicke an mich denken können?«
»Armer Cléry!« sagte der König und reichte ihm die Hand, die der treue Diener weinend küßte.
Cléry begann nun den König zum letzten Male anzukleiden. Er hatte einen braunen Frack, Beinkleider von grauem Tuch, graue seidene Strümpfe und eine Pikeeweste zurechtgelegt.
Als der König angekleidet war, frisierte ihn der Kammerdiener.
Unterdessen machte Ludwig XVI. ein Petschaft von seiner Uhr los, steckte es in seine Westentasche, legte seine Uhr auf den Kamin, zog einen Ring vom Finger und steckte ihn in dieselbe Tasche, wo das Petschaft war.
Während ihm Cléry den Frack anzog, nahm der König, der tags vorher denselben Frack getragen hatte, Brieftasche, Lorgnette und Tabaksdose heraus und legte alles nebst seiner Börse auf den Kamin. Alle diese Vorbereitungen geschahen in Gegenwart der Kommissare, die in das Zimmer des Königs gekommen waren, sobald sie Licht gesehen hatten.
Es schlug halb sechs.
»Cléry,« sagte der König, »wecken Sie den Herrn Abbé Edgeworth.«
Der Abbé war schon aufgestanden, er hatte den Kammerdiener erwartet und trat ein.
Der König nickte ihm zu und ersuchte ihn, in sein Zimmer zu kommen. Unterdessen richtete der Kammerdiener den Altar her.
Zu diesem Zwecke wurde auf die im Zimmer befindliche Kommode ein Tischtuch gelegt.
Als der Altar fertig war, ging Cléry in das Zimmer des Königs, um den König davon in Kenntnis zu setzen.
»Können Sie bei der Messe ministrieren?« fragte ihn Ludwig XVI.
»Ich hoffe es,« antwortete Cléry, »ich weiß nur das Staffelgebet nicht auswendig.«
Der König reichte ihm ein Meßbuch.
Der Abbé Edgemorth war schon in Clérys Zimmer, wo er sich ankleidete.
Sobald er im Ornat erschien, zogen sich die Beamten in das Vorzimmer zurück; sie mochten wahrscheinlich mit einem Geistlichen nicht in Berührung kommen.
Es war sechs Uhr, die Messe begann. Der König hörte sie kniend und mit der tiefsten Andacht an.
Nach der Messe kommunizierte der König, und der Abbé Edgeworth begab sich in das Nebenzimmer, um das Priestergewand abzulegen.
Der König benutzte diesen Augenblick, um seinem treuen Diener zu danken und ihm Lebewohl zu sagen; dann begab er sich wieder in sein Zimmer.
Der Abbé kam ebenfalls dahin. Cléry setzte sich auf sein Bett und weinte.
Um sieben Uhr kam der König aus seinem Zimmer und rief seinen Kammerdiener.
Cléry eilte herbei.
Der König trat mit ihm ans Fenster und sagte zu ihm:
»Übergeben Sie dieses Petschaft meinem Sohn und diesen Ring meiner Gemahlin; sagen Sie ihnen, daß ich sie mit schwerem Herzen verlasse. Dieses kleine Paket enthält Haare von unserer ganzen Familie, übergeben Sie es ihnen ebenfalls.«
»Aber werden Sie denn Ihre Familie nicht mehr sehen, Sire?« fragte Cléry.
Der König war einen Augenblick unschlüssig, dann erwiderte er:
»Nein, nein . . . Ich hatte allerdings versprochen, sie heute morgen zu sehen; aber ich will den Meinigen den herben Trennungsschmerz ersparen. Cléry, wenn Sie sie wiedersehen, sagen Sie ihnen, wie schwer es mir geworden, ohne einen Scheidekuß fortzugehen . . .«
Bei diesen Worten konnte er seine Tränen nicht zurückhalten.
Dann setzte er mit dem Ausdruck tiefen Schmerzes hinzu:
»Nicht wahr, Cléry, Sie werden den Meinen das letzte Lebewohl von mir bringen?«
Er ging wieder in sein Zimmer.
Die Kommissare hatten gesehen, daß der König die erwähnten Gegenstände Cléry übergab. Einer von ihnen verlangte die Herausgabe, aber ein anderer machte den Antrag, sie dem Kammerdiener bis zur Entscheidung des Gemeinderates zu lassen. Dieser Antrag wurde angenommen.
Eine Viertelstunde nachher kam der König wieder aus seinem Zimmer.
»Cléry,« sagte er, »fragen Sie, ob ich eine Schere haben kann.«
»Kann der König eine Schere haben?« fragte Cléry die Kommissare.
»Was will er damit machen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Fragen Sie ihn.«
Einer der Kommissare ging in das Zimmer; er fand den König vor dem Abbé Edgeworth kniend.
»Sie haben eine Schere verlangt,« sagte er, »was wollen Sie damit machen?«
»Mein Kammerdiener soll mir die Haare abschneiden«, antwortete der König.
Der Kommissar begab sich in die Kanzlei hinunter. Man beriet sich eine halbe Stunde, und endlich schlug man es ab.
Der Kommissar ging wieder hinauf.
»Die Direktion hat es abgeschlagen«, sagte er.
»Ich würde die Schere nicht berührt haben,« sagte der König, »und Cléry würde mir in Ihrer Gegenwart die Haare abgeschnitten haben. Gehen Sie noch einmal hinunter, ich bitte Sie.«
Der Kommissar ging wieder hinunter und trug das Ansuchen des Königs noch einmal vor, aber die Direktion beharrte bei ihrer Weigerung.
Ein Kommissar trat nun auf Cléry zu und sagte zu ihm:
»Ich glaube, es ist Zeit, daß du dich anschickst, den König auf seinem Todesgange zu begleiten.«
»Mein Gott,« erwiderte Cléry zitternd, »warum soll ich ihn denn begleiten?«
»Um ihn zu entkleiden; du bist ja sein Kammerdiener.«
»Nein, er kann hier bleiben,« sagte ein anderer; »der Nachrichter ist gut genug dazu.«
Der Tag begann zu grauen; in allen Sektionen von Paris wurde Generalmarsch geschlagen. Dieser Lärm drang bis in den Turm und erfüllte den Abbé Edgeworth und Cléry mit Entsetzen.
Aber der König war ruhiger als je, er lauschte einen Augenblick und sagte ganz gelassen:
»Wahrscheinlich wird die Nationalgarde ausrücken.«
Nach einer Weile marschierte Kavallerie in den Hof. Man hörte die Hufschläge der Pferde und die Stimmen der Offiziere.
Der König lauschte wieder und sagte mit derselben Ruhe:
»Sie scheinen näher zu kommen.«
Von sieben bis acht Uhr klopfte man mehrmals unter verschiedenen Verwänden an die Tür des Kabinetts, und jedesmal erwartete der Abbé zitternd, es sei das letztemal.
Aber jedesmal stand der König auf, ging ohne die mindeste Unruhe an die Tür, antwortete den Personen, die ihn in seiner Andacht störten, und setzte sich dann wieder zu seinem Beichtvater.
Um neun Uhr endlich wurde das Geräusch stärker und die Türen gingen auf. Santerre erschien mit sieben bis acht Kommissaren und zehn Gendarmen, die sich in zwei Reihen aufstellten.
Als der König das Geräusch hörte, trat er aus dem Kabinett, ohne das Anklopfen abzuwarten.
»Sie wollen mich abholen?« sagte er.
»Ja.«
Er ging wieder in das Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
»Jetzt muß ich gehen, die Scheidestunde hat geschlagen«, sagte er zu dem Abbé Edgeworth, und er kniete vor ihm nieder. »Geben Sie mir Ihren letzten Segen und bitten Sie Gott, daß er mir bis ans Ende beistehe.«
Als der König den Segen erhalten hatte, stand er auf, öffnete die Tür und ging auf die im Schlafzimmer stehenden Kommissare und Gendarmen zu.
Alle hatten den Hut auf dem Kopfe.
»Meinen Hut, Cléry«, sagte der König.
Cléry holte schluchzend den Hut.
»Ist unter Ihnen vielleicht ein Mitglied des Gemeinderats?« fragte Ludwig XVI.; »Sie, glaube ich?«
Er wandte sich an einen Beamten, namens Jacques Roux, der ein beeideter Priester war.
»Was wünschen Sie?« fragte dieser.
Der König zog sein Testament aus der Tasche.
»Ich ersuche Sie,« sagte er, »der Königin . . . meiner Gemahlin, diese Schrift zu übergeben.«
»Wir sind nicht hierher gekommen,« antwortete Jacques Roux, »um Bestellungen für dich zu machen, sondern um dich zum Blutgerüst zu führen.«
Der König nahm die Beleidigung mit derselben Sanftmut und Gelassenheit hin, wie Christus, und wandte sich an einen andern Beamten, namens Gobeau.
»Wollen Sie meine Bitte nicht erfüllen?«
Der Mann schien unschlüssig zu sein, und der König setzte hinzu:
»Oh, Sie können die Schrift lesen, es sind sogar Bestimmungen darin, die ich zur Kenntnis des Gemeinderats zu bringen wünsche.«
Der Munizipalbeamte nahm das Testament.
Cléry hatte inzwischen nicht nur den Hut, sondern auch den Überrock geholt; aber der König sagte:
»Nein, Cléry, geben Sie mir nur meinen Hut.«
Cléry reichte ihm den Hut; der König benutzte diese Gelegenheit, um ihm noch einmal die Hand zu drücken.
Dann sagte er mit befehlendem Tone, den er so selten in seinem Leben angenommen hatte:
»Kommen Sie, meine Herren!«
Dies waren die letzten Worte, die er in seinem Gefängnis sprach.
Auf der Treppe begegnete ihm der Pförtner des Turmes, Mathay, den er zwei Tage vorher an seinem Kaminfeuer sitzend gefunden und etwas unwillig aufgefordert hatte, ihm seinen Platz zu überlassen.
»Mathay,« sagte er, »ich habe Sie vorgestern etwas hart angeredet, zürnen Sie mir deshalb nicht.«
Mathay lehrte ihm den Rücken zu, ohne zu antworten.
Der König ging zu Fuß über den ersten Hof; er sah sich zwei- oder dreimal um und warf der Gattin, seiner einzigen Liebe, der Schwester, seiner einzigen Freundschaft, den Kindern, seiner einzigen Freude, den letzten Scheideblick zu.
Am Eingange des Hofes hielt ein grüner Wagen; zwei Gendarmen standen am Kutschenschlage. Als sich der König näherte, stieg der eine zuerst ein und setzte sich auf den Rücksitz; dann stieg der König ein und gab dem Abbé Edgeworth einen Wink, an seiner Seite Platz zu nehmen. Der andere stieg zuletzt ein und schloß die Wagentür.
Um ein Viertel zehn Uhr fuhr der Wagen ab.
Jetzt noch ein Wort über die Königin, über Madame Elisabeth und die beiden Kinder, denen der König durch die Mauern ihres Kerkers den letzten Scheideblick zugeworfen hatte.
Abends vorher, nach der herzzerreißenden Zusammenkunft, hatte die Königin kaum die Kraft gehabt, den Dauphin auszukleiden und zu Bett zu bringen. Sie hatte sich in ihren Kleidern auf ihr Bett geworfen.
Um ein Viertel sieben ging die Tür auf, ein Meßbuch wurde geholt.
Die ganze Familie rüstete sich nun, denn nach dem Versprechen, das ihr der König abends vorher gegeben, glaubte sie, man werde sie zu ihm führen; aber die Zeit verstrich, die Königin und die Prinzessinnen hörten die verschiedensten Geräusche, das Öffnen und Schließen der Türen, das Geschrei des Pöbels beim Erscheinen des Königs drang an ihr Ohr, endlich der Lärm der sich entfernenden Pferde und Geschütze.
Die Königin sank auf einen Stuhl und sagte«:
»Er ist fort, ohne uns Lebewohl zu sagen.«
Madame Elisabeth und die kleine Prinzessin sanken auf die Knie.
So waren denn alle Hoffnungen nacheinander geschwunden! Anfangs hatte man Verbannung und Gefängnis gehofft, und diese Hoffnung war geschwunden; endlich hoffte man nichts mehr, als einen verzweifelten Handstreich auf dem Wege, und diese Hoffnung sollte ebenfalls schwinden.
»O mein Gott! mein Gott!« rief die Königin, und dieser letzte Ruf der Verzweiflung war alles, was sie zu sagen vermochte.
Unterdessen fuhr der Wagen weiter und erreichte den Boulevard.
Die Straßen waren ziemlich verödet, die Kaufläden zur Hälfte geschlossen; in den Haustüren, an den Fenstern war niemand. Denn eine Verordnung des Gemeinderats verbot jedem Bürger, der nicht zu der bewaffneten Miliz gehörte, die auf den Boulevard ausmündenden Straßen zu betreten oder sich beim Vorbeikommen des Zuges an den Fenstern zu zeigen.
Der Himmel war trüb und neblig; man sah nur einen Wald von Piken, unter denen nur hier und da einige Bajonette funkelten. Vor dem Wagen ritt die Kavallerie und vor dieser ging eine Menge Trommler.
Der König hätte gern mit seinem Beichtvater gesprochen, aber er konnte es nicht wegen des großen Lärms.
Der Abbé Edgeworth reichte ihm sein Brevier, und Ludwig XVI. las.
An der Porte Saint-Denis schaute er auf; er glaubte unter der Menge eine Bewegung zu bemerken.
Etwa zehn junge Leute stürzten aus der Straße Beauregard hervor, schwenkten ihre Säbel und durchbrachen die Volksmenge mit dem Ruf:
»Hierher, wer den König retten will!«
Dreitausend Verschworene sollten auf dieses von dem Baron von Batz, einem Abenteurer, gegebene Zeichen herbeieilen.
Er gab kühn das Zeichen, aber von den dreitausend Verschworenen antwortete nur ein Dutzend.
Als der Baron von Batz und seine wenigen Genossen sahen, daß nichts zu machen war, benutzten sie die durch ihren Befreiungsversuch verursachte Verwirrung und verloren sich in dem Straßenlabyrinth.
Diese Bewegung war es, die den König in seiner Andacht störte; aber sie hatte so wenig zu bedeuten, daß der Wagen nicht einmal anhielt. Als er nach zwei Stunden und zehn Minuten anhielt, war er am Ziele.
Sobald der König merkte, daß die Bewegung des Wagens aufhörte, neigte er sich zu dem Ohr des Priesters und sagte:
»Wir sind zur Stelle, wenn ich nicht irre.«
Nur das Stillschweigen des Abbé Edgeworth antwortete ihm.
In demselben Augenblick kam einer der drei Brüder Samson, der Pariser Nachrichter, an den Wagen und wollte den Schlag öffnen. Aber der König hielt ihn zurück, legte die Hand auf das Knie des Abbé Edgeworth und sagte mit würdevollem, gebieterischem Tone:
»Meine Herren, ich empfehle Ihnen diesen würdigen Mann hier. Tragen Sie Sorge, daß ihm nach meinem Tode kein Leid geschehe; ich beauftrage Sie, darüber zu wachen.«
Unterdessen waren die beiden andern Nachrichter an den Wagen gekommen.
»Ja, ja,« antwortete einer von ihnen, »wir werden schon dafür sorgen, lassen Sie uns nur machen.«
Ludwig stieg aus.
Die Henkersknechte kamen auf ihn zu und wollten ihm seinen Frack ausziehen; aber er wies sie mit stolzer Gebärde zurück und begann, sich allein zu entkleiden.
Einige Augenblicke blieb der König allein in dem Kreise, der sich um ihn gebildet hatte; er warf den Hut auf die Erde, zog den Rock aus und knüpfte das Halstuch auf.
Nun aber traten die Nachrichter auf ihn zu. Einer von ihnen hatte einen Strick in der Hand.
»Was wollen Sie?« fragte der König.
»Ihnen die Hände binden«, antwortete der Mann, der, den Strick trug.
»Das leide ich nicht«, sagte der König, dessen Gefühl sich empörte; »lassen Sie das; tun Sie, was Ihnen befohlen ist, aber binden lasse ich mich nicht.«
Die Nachrichter begannen laut zu sprechen, es fehlte nicht viel, so hätten sie Gewalt gebraucht, und der Märtyrer hätte die Achtung und Teilnahme, die er sich durch sechs Monate der Ruhe und Ergebung erworben, wieder verscherzt; da näherte sich einer der drei Brüder Samson, der vom Mitleid gerührt war und dennoch die traurige Pflicht hatte, den schrecklichen Befehl zu vollziehen.
»Sire,« sagte er ehrerbietig, »mit diesem Schnupftuch.«
Der König sah seinen Beichtvater an. Dieser nahm seine Fassung zusammen, um zu sprechen.
»Sire,« sagte er, »Eure Majestät werden dadurch dem Heiland, der Sie nun bald belohnen wird, um so ähnlicher werden.«
Der König blickte mit unendlichem Schmerz zum Himmel auf.
»Sie haben recht«, sagte er, »nur sein Beispiel kann mich bewegen, in eine solche Beschimpfung zu willigen . . . Tut, was ihr wollt«, sagte er zu den Henkern, indem er die Hände ausstreckte, »ich will den Leidenskelch bis auf den Grund leeren.«
Die Stufen des Blutgerüstes waren hoch und glatt; er stieg sie am Arme des Priesters hinan. Edgeworth fürchtete, der König könne im letzten Augenblick schwach werden, denn er fühlte den Arm des Königs schwer auf dem seinigen. Aber auf der obersten Stufe machte Ludwig XVI. sich von den Händen seines Beichtvaters los und ging rasch auf die andere Seite der Plattform.
Seine Wangen waren gerötet und hatten nie so lebhaft und frisch ausgesehen.
Die Trommeln wurden gerührt. Mit einem gebieterischen Blick brachte er sie zum Schweigen und sprach mit lauter Stimme folgende Worte:
»Ich sterbe unschuldig aller Verbrechen, die man mir zur Last legt; ich verzeihe den Urhebern meines Todes und bitte Gott, daß das Blut, das ihr jetzt vergießen werdet, nie über Frankreich komme.«
»Rührt die Trommeln!« rief eine Stimme, die man lange für die Stimme Santerres gehalten hat; aber diesen Befehl gab Beaufranchet, Graf von Oyat, Sohn Ludwigs XV. und der Buhlerin Morphise.
Es war also der natürliche Oheim des Verurteilten.
Der Trommelwirbel begann von neuem; aber der König stampfte mit dem Fuße und rief noch lauter und gebieterischer als zuvor:
»Schweigt! ich habe noch etwas zu sagen!«
Aber die Trommler hörten nicht auf.
»Tut eure Pflicht!« schrien die Pikenmänner, die das Schafott umgaben, den Nachrichtern zu.
Diese stürzten auf den König zu, der langsam zurückkam und einen Blick auf das Fallbeil warf, von welchem er ein Jahr zuvor selbst eine Zeichnung gemacht hatte.
Dann fiel sein Blick auf den Priester, der am Rande des Blutgerüstes kniend betete.
Hinter den beiden Pfählen der Guillotine entstand nun eine Bewegung, das Fallbrett schlug um, der Kopf erschien an der verhängnisvollen Lucke, ein glänzender Gegenstand fuhr blitzend nieder, ein dumpfer Schlag ertönte, und man sah nichts mehr, als einen großen Blutstrahl.
Einer der Nachrichter nahm den Kopf auf und zeigte ihn dem Volke. Der Rand des Gerüstes wurde mit königlichem Blut bespritzt.
Die Pikenmänner brüllten bei diesem Anblick vor Freude laut auf und tauchten ihre Piken, ihre Säbel und Schnupftücher in das Blut. Dabei riefen sie: »Es lebe die Republik!«
Aber dieser Ruf, der die Völker mit ahnungsvoller Freude erfüllt hatte, verhallte zum erstenmal ohne Echo.
Die Republik hatte nun einen unauslöschlichen Schandfleck an der Stirn; sie hatte, wie später ein berühmter Diplomat sagte, mehr als ein Verbrechen, sie hatte einen großen Fehler begangen.
In Paris herrschte ungeheure Bestürzung, die sich bei einigen bis zur Verzweiflung steigerte. Eine Frau stürzte sich in die Seine – ein Friseur schnitt sich den Hals ab – ein Buchhändler wurde wahnsinnig – ein vormaliger Offizier starb infolge heftiger Gemütsbewegung.
Bei der Eröffnung der Sitzung fand der Präsident einen Brief vor. Dieser Brief war von einem Manne, der wünschte, daß ihm der Leichnam Ludwigs XVI. übergeben werde, damit er ihn neben seinen Vater begrabe.
Dann wurde folgendes Protokoll verfaßt:
Protokoll über die Beerdigung Ludwig Capets.
Am 21. Januar 1793, im Jahre II der Französischen Republik, haben wir unterzeichnete Administratoren des Departements von Paris, im Auftrage des Gemeinderates und infolge der Verordnung der provisorischen Vollziehungsbehörde der Französischen Republik, uns um neun Uhr morgens in die Wohnung des Citoyen Recaves, Pfarrers zu St. Magdalena, begeben, und ihn gefragt, ob er dafür Sorge getragen habe, daß die Beerdigung in der gewünschten Form vor sich gehe. Er antwortete uns, daß er alles, was ihm anbefohlen, genau befolgt und alle Vorkehrungen getroffen habe.
Von da begaben wir uns in Begleitung der Bürger Renard und Damoreau, Vicare zu St. Magdalena, auf den in der Straße Anjou-Saint-Honoré gelegenen Friedhof der Pfarre und daselbst überzeugten wir uns von der Vollziehung der Befehle, die wir infolge des von dem Gemeinderat erhaltenen Auftrages dem Citoyen Recaves tags zuvor erteilt hatten.
Bald darauf wurde in unserer Gegenwart der Leichnam Ludwig Capets, den wir vollkommen erkannten, von einer Abteilung Fußgendarmerie auf den Friedhof gebracht. An dem vom Rumpfe getrennten Haupte bemerkten wir, daß die hinteren Haare abgeschnitten waren. Der Leichnam war ohne Krawatte, ohne Rock und ohne Schuhe; er war mit Hemd, Piquéweste, grauen Tuchhosen und grauen seidenen Strümpfen bekleidet.
Mit dieser Bekleidung wurde er in einen Sarg gelegt und dieser wurde in das Grab hinabgelassen, das sogleich mit Erde gefüllt wurde. Alles geschah nach dem Befehl der provisorischen Exekutivbehörde der Französischen Republik, und wir haben mit den Bürgern Recaves, Renard und Damoreau, Pfarrer und Vicare zu St. Magdalena, gegenwärtiges Protokoll unterzeichnet.
Leblanc, Administrator des Departements,
Dubois, Administrator des Departements,
Damoreau, Recaves, Renard.
So starb König Ludwig XVI. am 21. Januar 1793, und so wurde er an demselben Tage beerdigt. Er war neununddreißig Jahre, fünf Monate und drei Tage alt, hatte achtzehn Jahre regiert und war fünf Monate und acht Tage Gefangener gewesen.
Sein letzter Wunsch ging nicht in Erfüllung, und sein Blut kam nicht nur über Frankreich, sondern über ganz Europa.