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Nach jenem furchtbaren Zuge vom 6. Oktober warf die aufgehende Sonne ihr mattes Licht auf eine vor den Tuilerien versammelte Volksmenge, die ihren König sehen wollte.
Den ganzen Tag hindurch empfing Ludwig XVI. Abordnungen. Hin und wieder mußte er sich auf dem Balkon zeigen und wurde mit allgemeinem Jubel empfangen.
Madame Elisabeth zeigte ihrem Bruder die sich herandrängende Volksmenge und sagte zu ihm:
»Es scheint mir doch, solche Menschen müssen nicht schwer zu regieren sein.«
Jedermann erklärte die Revolution für beendet; war doch der König von seinem Versailles, von seinen Höflingen und Ratgebern befreit; der Zauber war gebrochen, der das Königtum so lange festgehalten hatte; Gott sei Dank! Die beiden populärsten Männer Frankreichs, Lafayette und Mirabeau, kamen als Royalisten nach Paris zurück.
Der Herzog von Orleans reiste auf Wunsch Lafayettes ab und kam erst zurück, als er gerufen wurde.
Der König und Elisabeth schauten mit Rührung auf das Volk, während sich in Marie Antoinette Haß und Ärger immer mehr festsetzten. Die Marktfrauen, die sie empfangen mußte, behandelte sie kalt, fast mit Verachtung.
Die Königin war innerlich zerrissen, sie litt unsäglich darunter, daß sie Charny sich entgleiten sah. – –
Gilbert, der mehrere Tage nicht beim König gewesen war, erinnerte sich, daß er Dienst habe. Er fand Ludwig XVI. vor dem Bilde Karls I., das van Dyck gemalt hatte, in Gedanken versunken; er machte eine Bewegung, Ludwig XVI. stutzte und sah sich um.
»Ach! sind Sie es, Doktor?« sagte der König, der so in Gedanken versunken war, daß er Gilbert nicht hatte eintreten hören. Dann führte er Gilbert vor das Meisterwerk und sagte:
»Kennen Sie dieses Porträt, Doktor?«
»Meinen Eure Majestät die Geschichte des Königs, den es darstellt oder die Geschichte des Bildes selbst?«
»Ich meine die Geschichte des Bildes.«
»Nein, Sire; ich weiß nur, daß es 1645 oder 1646 zu London gemalt worden ist, das ist alles, was ich sagen kann; aber ich weiß nicht, wie es nach Frankreich gekommen ist und wie es zugeht, daß es jetzt in dem Zimmer Eurer Majestät ist.«
»Es gehörte der Madame Dubarry, der Geliebten Ludwigs XV. Nachdem wir diese in die Verbannung geschickt hatten, blieb es in einer Dachstube zu Versailles hängen. Wie kommt es nun, daß ich es hier finde? Warum verfolgt es mich?«
»Doktor,« fuhr er fort, »es ist ein Zufall, und kein Verhängnis.«
»Es ist ein Verhängnis, Sire, wenn dieses Bild nichts zu Ihnen sagt, aber es ist der Finger der Vorsehung, wenn es zu Ihnen spricht.«
»Wie können Sie denken, Doktor, daß ein solches Bild zu einem König in meiner Lage nicht spreche?«
»Eure Majestät haben mir erlaubt, die Wahrheit zu sagen; darf ich mich erkühnen, zu fragen?«
Ludwig XVI. schien einen Augenblick unschlüssig.
»Fragen Sie nur, Doktor«, sagte er.
»Was sagt dieses Porträt zu Eurer Majestät?«
»Es sagt mir, daß Karl I. seinen Kopf verloren hat, weil er gegen sein Volk Krieg führte, und daß Jakob II. den Thron verloren hat, weil er sein Volk verließ.«
»Da mir Eure Majestät erlaubt haben, zu fragen, so frage ich, was Sie dem so aufrichtig sprechenden Bilde antworten?«
»Herr Gilbert,« sagte der König, »ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich noch nichts beschlossen habe; ich werde mich nach den Umständen richten.«
»Man fürchtet, Eure Majestät beabsichtigen einen Krieg gegen Ihr Volk.«
Ludwig XVI. schüttelte den Kopf.
»Nein, Herr Gilbert,« sagte er, »ich kann nur mit Hilfe des Auslandes gegen mein Volk Krieg führen, und ich kenne die Lage von Europa zu gut, als daß ich den fremden Mächten trauen könnte. Der König von Preußen ist erbötig, mit hunderttausend Mann in Frankreich einzurücken, aber ich kenne den ehrsüchtigen Geist dieser kleinen Monarchie, die ein großes Königreich zu werden trachtet. Österreich stellt ebenfalls hunderttausend Mann zu meiner Verfügung, aber ich kann meinen Schwager Leopold nicht leiden; seine Mutter, Maria Theresia, hat meinen Vater vergiften lassen. Mein Bruder d'Artois schlägt die Hilfe Sardiniens und Spaniens vor, aber diesen beiden Mächten traue ich nicht. Die große Katharina beschränkt sich auf das Ratgeben. Sie können sich leicht denken, daß sie mit Polen genug zu tun hat. Sie gibt mir einen Rat, der lächerlich ist, zumal nach den Vorgängen dieser letzten Tage. ›Die Könige‹, sagt sie, ›müssen unbekümmert um das Geschrei des Volkes ihre Bahn wandeln, gleichwie der Mond unbekümmert um das Gebell der Hunde seine Bahn wandelt.‹«
»Das Volk fürchtet, Eure Majestät wollten fliehen, Frankreich verlassen.«
Der König legte die Hand auf Gilberts Schulter.
»Ich habe Ihnen versprochen, die Wahrheit zu sagen, Doktor,« sagte er, »und ich will sie Ihnen sagen. Ja, es ist die Rede davon gewesen, man hat es mir vorgeschlagen. Aber in der Nacht vom 6. Oktober, als die Königin in meinen Armen weinte, nahm sie mir das feierliche Versprechen ab, daß ich nicht allein fliehen will. Ich habe es versprochen und werde mein Wort halten. Ich halte es aber nicht für möglich, daß wir miteinander entfliehen, ohne zehnmal verhaftet zu werden, bevor wir die Grenze erreichen; wir werden also nicht entfliehen, und ich glaube auch, daß die größte Gefahr vorüber ist.«
»Sire, was wir erlebt haben, ist nur das Erdbeben, wir haben noch das Feuer, die Asche und die Lava des Vulkans zu bekämpfen.«
»Sie sagen bekämpfen, Herr Gilbert; wäre es nicht richtiger, zu sagen: fliehen?«
»Es gibt zwei Mittel, den König und Frankreich zu retten.«
»Nennen Sie diese Mittel, und Sie werden sich sehr verdient machen.«
»Vor allem, Sire, müssen Sie sich an die Spitze der Bewegung stellen und sie leiten.«
»Nein, Herr Gilbert, man würde mich mit fortreißen, und das will ich nicht.«
»Das zweite Mittel ist, daß der Bewegung ein Gebiß angelegt wird, das stark genug ist, um sie zu bändigen.«
»Wie nennen Sie dieses Gebiß?«
»Popularität und Genie.«
»Und wer soll es schmieden?«
»Mirabeau.«
Ludwig XVI. sah Gilbert mit großen Augen an, als ob er nicht recht verstanden hätte.
Gilbert sah wohl, daß er einen Kampf zu bestehen hatte, aber er war gerüstet.
»Ja, Sire, Mirabeau«, wiederholte er.
»Aber Sie wissen doch, Herr Gilbert, daß Mirabeau zu dem Herzog von Orleans steht, er kann daher nicht mir ergeben sein.«
»O Sire, der Herzog von Orleans ist verbannt, folglich steht Mirabeau allein.«
»Aber wie kann ich einem Manne trauen, der sich verkauft!«
»Ew. Majestät können seine Dienste besser bezahlen als irgend jemand in der Welt.«
»Er ist unersättlich, er wird eine Million verlangen.«
»Wenn sich Mirabeau Ihnen für eine Million verkauft, Sire, so wird er Ihnen ganz ergeben sein. Glauben Sie, daß er zwei Millionen weniger wert sei, als ein oder eine Polignac?«
»Herr Gilbert!«
»Eure Majestät verbieten mir das Wort. Ich schweige.«
»Nein, reden Sie.«
»Ich habe gesprochen, Sire, ich kenne Mirabeau sehr genau.«
»Sie sind sein Freund?«
»Leider habe ich nicht die Ehre. Überdies hat Mirabeau nur einen Freund, der zugleich der Freund der Königin ist.«
»Sie meinen den Grafen von Lamark, ich weiß es wohl, und wir werfen es ihm täglich vor.«
»Eure Majestät sollen ihm vielmehr bei Todesstrafe verbieten, sich mit ihm zu entzweien.«
»Herr von Mirabeau,« entgegnete der König, »hat sich in Aix als Tuchhändler etabliert, um vom Volke gewählt zu werden; er kann die Partei der Vollmachtgeber nicht verlassen, um sich der Hofpartei anzuschließen.«
»Eure Majestät kennen Mirabeau nicht, ich wiederhole es Ihnen, Sire. Mirabeau ist vor allem Aristokrat, Edelmann, Royalist; er hat sich vom Volke wählen lassen, weil der Adel ihm mit Hohn und Verachtung begegnete, weil er, wie jeder Mann von Genie, sein Ziel zu erreichen, seine Aufgabe zu lösen trachtete. Er wäre weder vom Adel noch vom Volke gewählt worden, wenn er, wie Ludwig XIV., gestiefelt und gespornt ins Parlament getreten wäre und eine Rede über das göttliche Recht gehalten hätte. Eure Majestät sagen, er werde die Partei des Volkes nicht verlassen, um sich der Hofpartei anzuschließen. Aber warum gibt es denn eine Volks- und eine Hofpartei? Warum bilden diese beiden Parteien nicht eine einzige? Diese Vereinigung wird Mirabeau zustande bringen . . . . Ja, Sire, nehmen Sie Mirabeau; morgen wird er sich, durch Ihre Verachtung abgeschreckt, vielleicht gegen Sie wenden . . . und dann, Sire, – ich sage es Ihnen, und dieses Bild Karls I. wird es wiederholen, – dann wird alles verloren sein! . . .«
»Sie sagen, Mirabeau werde sich gegen mich wenden; ist denn das schon geschehen, Herr Gilbert?«
»Ja, dem Anschein nach vielleicht, aber im Grunde ist Mirabeau Ihnen ergeben, Sire. Fragen Sie den Grafen von Lamark, was er nach seiner denkwürdigen Sitzung vom 21. Juni zu ihm gesagt hat, denn Mirabeau allein liest mit wunderbarem Scharfblick in der Zukunft.«
»Nun, was hat er gesagt?«
»Er ringt in Verzweiflung die Hände und ruft: ›So führt man die Könige zum Blutgerüst!‹ Und drei Tage nachher klagt er: ›Diese Leute sehen den Abgrund nicht, der sich vor den Füßen der Monarchie auftut; der König und die Königin werden hineinstürzen und das Volk wird über ihren Leichen jubeln.‹«
Der König war betroffen, er erblaßte und sah das Porträt Karls I. an; einen Augenblick lang schien er bereit, sich zu entschließen, aber er besann sich und sagte:
»Ich will mit der Königin darüber reden; vielleicht entschließt sie sich, mit Herrn von Mirabeau zu sprechen, aber ich spreche nicht mit ihm.«
Der Türsteher trat ein. »Sire,« sagte er, »die Person, die Eure Majestät heute empfangen wollen, ist angekommen und wartet im Vorzimmer.«
»Sire,« fragte Gilbert, »habe ich mich als geschlagen zu betrachten?«
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich mit der Königin darüber reden will.«
»Sire,« sagte Gilbert, »lassen Sie das Porträt Karl Stuarts nie aus Ihrem Zimmer bringen; es ist ein guter Ratgeber.«
Er verneigte sich und verließ das Zimmer gerade in dem Augenblick, als die von dem König erwartete Person in die Tür trat.
Gilbert konnte einen leisen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken; der Edelmann, der bei Seiner Majestät Audienz hatte, war derselbe Marquis von Favras, den er acht Tage zuvor bei Cagliostro gesehen und dessen nahe bevorstehendes tragisches Ende dieser angekündigt hatte.
Thomas Mahi Marquis von Favras, ein Mann von hohem Wuchs, fünfundvierzig Jahre alt, trat vor.
»Sie sind, der Marquis von Favras?« fragte der König. »Sie wünschten mir vorgestellt zu werden?«
»Ich sprach gegen Seine königliche Hoheit den Herrn Grafen von Provence den lebhaften Wunsch aus, Eurer Majestät meine Huldigungen darzubringen.«
»Mein Bruder hat großes Vertrauen zu Ihnen.«
»Ich glaube es, Sire, und ich gestehe, daß es mein größter Wunsch ist, dieses Vertrauen von Eurer Majestät geteilt zu sehen. Eure Majestät wünschen zu wissen? . . .«
»Wer Sie sind und was Sie getan haben.«
»Wer ich bin, Sire? Die Nennung meines Namens hat es Ihnen gesagt; ich war Leutnant in der Schweizergarde des Grafen von Provence.«
»Und Sie haben seinen Dienst verlassen?«
»Ja, Sire, im Jahre 1775, um mich nach Wien zu begeben, wo ich meine Frau als einzige Tochter des Fürsten von Anhalt-Schaumburg anerkennen ließ.«
»Ihre Frau ist nie vorgestellt worden, Marquis?«
»Nein, Sire, aber sie hat eben jetzt die Ehre, mit meinem Sohne bei der Königin zu sein.«
»Und dann?« fragte Ludwig XVI.
»Als ich nach Frankreich zurückblickte und das frevelhafte Beginnen der Umsturzpartei sah, begab ich mich nach Paris zurück, um meinen Degen und mein Leben dem Könige zur Verfügung zu stellen.«
»Sie haben in der Tat traurige Dinge gesehen, nicht wahr, Marquis?«
»Sire, ich habe den 5. und 6. Oktober gesehen.«
Der König schien dem Gespräch eine andere Wendung geben zu wollen.
»Sie sagen also, Herr Marquis,« fuhr er fort, »mein Bruder, der Graf von Provence, habe so großes Vertrauen zu Ihnen, daß er Sie mit einer bedeutenden Anleihe beauftragt hat?«
Ein Zeuge dieser Unterredung hätte sehen können, wie sich der Vorhang, der den Alkoven des Königs halb verdeckte, bei dieser unerwarteten Frage bewegte, als ob jemand hinter ihm versteckt gewesen wäre. Der Marquis von Favras war betroffen wie einer, der auf eine Frage vorbereitet ist, und auf einmal eine ganz andere hört.
»Ja, Sire,« sagte er, »wenn es ein Beweis des Vertrauens ist, einen Edelmann mit Geldgeschäften zu beauftragen, so hat mir Seine Königliche Hoheit diesen Beweis des Vertrauens gegeben. Seine Königliche Hoheit ist infolge verschiedener Operationen der Nationalversammlung nicht in den Besitz der fälligen Gelder gekommen, und da es in dieser Zeit gut sein dürfte, daß die Prinzen um ihrer eigenen Sicherheit willen eine bedeutende Summe zu ihrer Verfügung haben, so hat mir Seine Königliche Hoheit Pfandscheine übergeben, auf die ich zwei Millionen erhalten habe.«
»Bei wem denn?«
»Sire, ich hatte mich zuerst an die Bankiers Schaumel und Sartorius gewandt, aber die Unterhandlung hatte nicht den erwarteten Erfolg, und ich wandte mich an Baron von Zannone.«
»Und er wohnt? . . .«
»Er wohnt in Sèvres, Sire . . . unweit der Stelle, wo der Wagen Ihrer Majestäten am 6. Oktober auf dem Wege von Versailles anhielt, als die Meuterer, von Marat, Verrières und dem Herzoge von Aiguillon geführt, in dem kleinen Wirtshause an der Brücke die beiden abgeschlagenen Köpfe Varicourts und Deshuttes von dem Friseur der Königin aufputzen ließen! . . .«
Der König erblaßte, und hätte er in diesem Augenblicke nach dem Alkoven geschaut, so würde er gesehen haben, wie sich der Vorhang noch stärker bewegte als das erstemal.
Das Gespräch wurde ihm offenbar lästig, und er würde viel gegeben haben, wenn er es nicht angefangen hätte. Er brach es daher sogleich ab.
»Es ist gut, Herr Marquis,« sagte er, »ich sehe, daß Sie ein treuer Diener des Königtums sind, und verspreche Ihnen, daß ich es nicht vergessen werde, wenn sich eine Gelegenheit bietet.«
Dann machte er eine Kopfbewegung, die Favras wohl verstand, aber er sagte:
»Verzeihen Sie, Sire, ich glaubte, Eure Majestät wünschten noch mehr zu wissen . . .«
»Nein,« sagte der König, »das ist alles, was ich zu wissen wünschte.«
»Sie irren sich«, sagte eine Stimme, die den König und den Marquis erschreckte; »Sie wünschen zu wissen, wie es der Großvater des Herrn Marquis von Favras angefangen hat, den König Stanislaus aus Danzig zu retten und ihn bis an die preußische Grenze zu begleiten.«
Diese dritte Person, die auf einmal erschien und sich in das Gespräch mischte, war die Königin.
Marie Antoinette war durch einen geheimen Gang in das Schlafgemach des Königs gekommen, um das Gespräch in dem Augenblicke, wo es Ludwig XVI. fallen lassen würde, wieder aufzunehmen.
Favras erkannte augenblicklich, daß ihm eine günstige Gelegenheit geboten wurde, seinen Plan zu entwickeln:
»Ihre Majestät meinen wahrscheinlich meinen Vetter, den General Steinflicht; er entriß den König Stanislaus zuerst den Händen seiner Feinde und machte ihn sodann infolge eines glücklichen Zusammentreffens von Umständen zum Ahnherrn Eurer Majestät.«
»Ganz recht, Herr Marquis!« sagte die Königin lebhaft, während Ludwig XVI. seufzend das Porträt Karl Stuarts ansah.
»Ihre Majestäten wissen,« fuhr der Marquis fort, »daß der König Stanislaus, nachdem er Danzig verlassen, auf allen Seiten von der moskowitischen Armee umzingelt war, und daß er vielleicht verloren gewesen wäre, wenn er sich nicht zur schleunigsten Flucht entschlossen hätte . . .«
»Jawohl«, erwiderte der König; »aber meine Lage ist keineswegs so hoffnungslos, wie die Lage des Königs Stanislaus war. Danzig war von den Moskowitern umzingelt, wie der Marquis sagte; ich hingegen . . .«
»Sie hingegen,« unterbrach ihn die Königin ungeduldig, »Sie sind mitten unter den Parisern, die am 14. Juli die Bastille erstürmten, die Ihnen in der Nacht vom 5. zum 6. Oktober nach dem Leben trachteten und die Sie am 6. mit Gewalt, unter Hohn und Spott nach Paris führten . . . In der Tat, die Lage ist beneidenswert und wohl wert, jener des Königs Stanislaus vorgezogen zu werden!«
Der König erwiderte:
»Sie sagen, Herr Marquis, man habe dem Könige Stanislaus drei Entweichungspläne vorgelegt? Worin bestanden diese?«
»Nach dem ersten, Sire, sollte er sich als Bauer verkleiden. Die Gräfin Chapska, eine Deutsche von Geburt, wollte sich als Bäuerin verkleiden und ihn für ihren Freund ausgeben . . .«
»Und der zweite Plan?« sagte Ludwig XVI.
»Dem zweiten Plan zufolge sollte der König Stanislaus mit tausend Mann aufbrechen und sich durchzuschlagen suchen; nach dem dritten Plan, den Stanislaus annahm, sollte er sich als Bauer verkleidet aus Danzig entfernen, aber nicht in weiblicher Begleitung, die ihm auf der Flucht hinderlich sein konnte; dieser dritte Plan wurde von französischen Gesandten Monti vorgeschlagen und von meinem Verwandten, dem General Steinflicht, unterstützt.«
»Und dieser Plan wurde angenommen?«
»Ja, Sire; und wenn ein Monarch, der sich in der Lage des Königs von Polen befindet oder zu befinden glaubt, den gleichen Entschluß faßte und mich mit demselben Vertrauen beehrte, das Ihr erlauchter Ahnherr dem General Steinflicht schenkte, so würde ich ihm mit meinem Kopfe für das Gelingen bürgen, zumal wenn die Wege so frei wären wie in Frankreich, und der Monarch ein so guter Reiter wie Eure Majestät.«
»Allerdings«, sagte die Königin. »Aber in der Nacht vom 5. zum 6. Oktober hat mir der König das feierliche Versprechen gegeben, nie ohne mich abzureisen . . . Der König hat sein Wort gegeben, Herr Marquis, und er wird es halten.«
»Das macht die Reise freilich schwieriger, aber nicht unmöglich,« erwiderte Favras, »und wenn ich die Ehre hätte, ein solches Unternehmen zu leiten, so würde ich dafür bürgen, Ihre Majestät und die königliche Familie wohlbehalten nach Montmédy oder Brüssel zu führen, so wie der General Steinflicht den König Stanislaus wohlbehalten nach Marienwerder brachte.«
»Hören Sie wohl, Sire?« sagte die Königin. »Ich glaube, mit einem Manne wie Herr von Favras sei nichts zu fürchten.«
»Ja, Madame,« antwortete der König, »das ist auch meine Meinung; aber der Augenblick ist noch nicht gekommen . . .«
»Gut, Sire,« entgegnete die Königin, »warten Sie nur, wie der getan, dessen Porträt uns ansieht, und dessen Anblick – wie ich wenigstens glaubte – Ihnen einen besseren Rat hätte geben sollen . . . Warten Sie nur, bis Sie zu einer Schlacht gezwungen werden . . . warten Sie nur, bis diese Schlacht verloren ist! Warten Sie, bis Sie im Kerker sitzen, und das Blutgerüst unter Ihrem Fenster gezimmert wird! . . . Heute sagen Sie: ›Es ist zu früh!‹ dann aber werden Sie sagen müssen: ›Es ist zu spät!‹
»Auf jeden Fall, Sire, bin ich zu jeder Stunde und auf den ersten Wink bereit«, sagte Favras, sich verneigend.
»Es ist gut«, sagte der König zu dem Marquis, der damit verabschiedet war, wie gern er auch, durch die Königin ermutigt, noch dringender gemahnt hätte.
Die Königin schaute ihm nach, bis sich der Türvorhang hinter ihm geschlossen hatte.
»Ach! Sire,« sagte sie, die Hand nach dem Gemälde van Dycks ausstreckend, »als ich dieses Bild in Ihrem Zimmer aufhängen ließ, glaubte ich, daß es Ihnen besseren Rat geben würde.«
Sie stand rasch auf, als hätte sie es unter ihrer Würde gehalten, das Gespräch fortzusetzen, und ging auf die Tür des Alkovens zu; dann stand sie plötzlich still.
»Gestehen Sie nur, Sire,« sagte sie, »daß der Marquis von Favras nicht der erste ist, den Sie heute empfangen haben.«
»Nein, Madame, Sie haben recht; vor dem Marquis von Favras war der Doktor Gilbert hier.«
»Ich ahnte es wohl«, sagte sie. »Und wie es scheint, ist der Doktor Gilbert . . .«
»Meiner Meinung, Madame; er sagt, daß wir Paris, daß wir Frankreich nicht verlassen dürfen.«
»Aber wenn er der Meinung ist, daß wir bleiben müssen, so gibt er gewiß auch einen Rat, der uns den Aufenthalt möglich macht?«
»Jawohl, er gibt einen Rat, er meint, wir sollen Mirabeau auf ein Jahr kaufen.«
»Und zu welchem Preise?«
»Mit sechs Millionen . . . und einem Lächeln von Ihnen.«
Die Gesichtszüge der Königin nahmen einen sehr nachdenklichen Ausdruck an.
»Im Grunde«, sagte sie, »wäre es vielleicht ein Mittel . . .«
»Jawohl, aber ein Mittel, dem Sie Ihre Zustimmung versagen würden, nicht wahr, Madame?«
»Ich antworte weder ja noch nein, Sire«, sagte die Königin; »ich muß es mir überlegen . . .«
Sie entfernte sich, und im Fortgehen setzte sie leise hinzu:
»Und ich werde es mir überlegen.«