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Die Worte: »Sie sind meine Gefangenen« hatten den König aus seiner Erstarrung geweckt.
»Gefangene . . . im Namen der Nationalversammlung! Was wollen Sie damit sagen?«
»Es ist sehr leicht, zu verstehen«, antwortete der Fremde. »Sie hatten geschworen, Frankreich nicht zu verlassen, und dennoch sind Sie in der Nacht entflohen, Sie sind zum Verräter geworden an Ihrem Wort, an der Nation, an dem französischen Volke!«
Die Hand Charnys, der hinter dem Herzog stand, berührte den Arm der Königin. Marie Antoinette sah sich um.
»Lassen Sie den Mann gewähren,« sagte der Graf leise, »er hat es mit mir zu tun.«
Der König sah den ernsten, düsteren Mann, der im Namen der Nation eine so nachdrückliche Sprache führte, mit Erstaunen an.
»Was wollen Sie von mir?« sagte er; »reden Sie.«
»Sire, ich will, daß Sie nicht weiterreisen.«
»Sie kommen wahrscheinlich mit Tausenden von Bewaffneten, um sich meiner Weiterreise zu widersetzen?« sagte der König.
»Nein, Sire, ich bin allein, oder vielmehr wir sind nur zwei: der Adjutant des Generals Lafayette und ich, ein schlichter Landmann. Aber die Nationalversammlung hat einen Beschluß gefaßt.
»Zeigen Sie den Beschluß«, sagte der König.
»Ich habe ihn nicht, er ist meinem Begleiter übergeben worden.«
»Wo ist Ihr Begleiter?« fragte der König.
»Dort, hinter mir«, war die Antwort.
Es war Romeuf, Lafayettes Adjutant.
Marie Antoinette war sehr schmerzlich überrascht, als sie ihn bemerkte. »Sie sind's, Herr von Romeuf!« rief sie mit Wehmut. »Das hätte ich nie geglaubt!«
Romeuf trat langsam, mit gesenkten Blicken, vor; er hielt das Papier in der Hand.
Als der König es gelesen hatte, sagte er:
»Es gibt keinen König von Frankreich mehr!«
Bei diesen Worten des Königs sah ihn Marie Antoinette fragend an.
»Lesen Sie, Madame,« sagte er entrüstet, »was die Nationalversammlung für einen Aufruf erlassen hat.«
»Wer hat es gewagt, ein solches Dekret zu unterzeichnen?« rief die Königin.
»Ein Edelmann,« antwortete der König, »der Marquis von Beauharnais!«
Die Königin las das Schriftstück mit dem Ausdruck der tiefsten Entrüstung.
Sie vermochte sich nicht länger zu halten, stürzte auf das Bett zu, ergriff das Papier, zerknitterte es in ihrer bebenden Hand und warf es weg.
»Nein, Sire,« sagte sie, »ich will nicht, daß dieses Papier meine Kinder besudele!«
Im Nebenzimmer entstand ein ungeheurer Lärm. Der Adjutant Lafayettes stieß einen Schrei aus; sein Begleiter rief wütend in den Tumult hinein:
»Ha! man beschimpft die Nationalversammlung! man beschimpft die Nation, das Volk! . . . Hierher, Freunde!«
Gott weiß, was aus dem Zusammenstoß geworden wäre, wenn nicht Charny schnell vorgetreten wäre und den unbekannten Nationalgardisten beim Arm genommen hätte.
»Ein Wort, Herr Billot«, sagte er; »ich wünsche mit Ihnen zu sprechen.«
Billot – denn er war es – sah den Grafen betroffen an, wurde leichenblaß, blieb einen Augenblick unschlüssig und stieß seinen schon halb gezogenen Säbel in die Scheide zurück.
Das Zusammentreffen Billots mit Charny bedeutete eine günstige Verzögerung.
Die letzte Hoffnung der königlichen Familie war der Marquis von Bouillé, der mit der größten Sehnsucht erwartet wurde. Charny eilte davon, um ihn zu suchen. Die Königin blickte ihm angstvoll nach. Aber das Unglück wollte es, daß er – infolge von Mißverständnissen und Zufällen – erst in Varennes eintraf, als der König bereits auf der Rückreise war.
Nachdem alle Mittel versagt hatten, blieb der königlichen Familie nichts anderes übrig, als sich zu ergeben.
Aber kehren wir in das Haus des Gemeindevorstehers zurück.
Billot hatte dem König den Befehl überbracht, nach Paris zurückzukehren. Er wandte sich an den Adjutanten Romeuf, der inzwischen von der Königin gewonnen war.
»Nun, sind Sie entschlossen, abzureisen?« fragte er.
»Der König wünscht noch einige Augenblicke zu verweilen«, antwortete Romeuf; »niemand hat heute nacht geschlafen, und Ihre Majestäten sind im höchsten Grade ermüdet.«
»Herr von Romeuf,« erwiderte Billot, »Sie wissen wohl, daß Ihre Majestäten verweilen wollen, weil sie immer noch hoffen, daß der Marquis von Bouillé hier eintreffen werde. Aber wir müssen fort, und wenn Ihre Majestäten nicht gutwillig die Reise antreten wollen, so wird man sie mit Gewalt in den Wagen bringen.«
»Elender!« rief der Graf von Damas, indem er mit gezücktem Säbel auf Billot losstürzte.
Aber Billot sah sich ganz gelassen um und schlug die Arme unter. Er hatte nicht nötig, sich zu verteidigen: zehn Bewaffnete stürzten herein und umringten Damas.
Der König sah wohl, daß es nur eines Wortes oder einer Gebärde bedurfte, um ein furchtbares Blutbad hervorzurufen.
»Es ist gut,« sagte er, »lassen Sie anspannen; wir wollen abreisen.«
Madame Brunier, eine Kammerfrau der Königin, sank mit einem lauten Schrei in Ohnmacht.
Dieser Schrei weckte die beiden Kinder. Der kleine Dauphin fing an zu weinen.
»Sie haben gewiß kein Kind«, sagte die Königin zu Billot; »wie würden Sie gegen eine Mutter sonst so grausam sein können!«
Billot war betroffen. »Nein, Madame, ich habe kein Kind.«
Der König trat an das Fenster und sah unten den Wagen. Die Pferde waren angespannt. Das Volk bemerkte den König. Sogleich erhob sich ein furchtbares Geschrei; der König erblaßte.
Der Herzog von Choiseul näherte sich der Königin.
»Was befehlen Eure Majestät?« sagte er. »Wir wollen lieber sterben, als dies mit ansehen.«
»Wir wollen fort . . . aber bleiben Sie mit Ihren Freunden bei uns, Sie sind es noch mehr sich selbst als uns schuldig!«
»Das mögen die Herren immerhin tun, wenn Sie können«, sagte Billot. »Wir haben Befehl, den König und die Königin nach Paris zurückzubringen, diese Herren kümmern uns durchaus nicht.«
»Und ich erkläre,« sagte der König mit mehr Entschiedenheit, als von ihm zu erwarten war, »ich erkläre, daß ich nicht abreise, wenn diese Herren ihre Pferde nicht haben.«
»Was sagen Sie dazu?« fragte Billot die Bewaffneten, die in ein lautes Gelächter ausbrachen.
»Ich will sie vorführen lassen«, sagte Romeuf.
Aber der Herzog von Choiseul trat dem jungen Offizier in den Weg.
»Verlassen Sie Ihre Majestäten nicht«, sagte er zu ihm; »Ihr Auftrag gibt Ihnen Gewalt über das Volk, und Sie sind mit Ihrer Ehre verantwortlich, daß Ihren Majestäten kein Haar gekrümmt werde.«
Herr von Romeuf blieb zögernd stehen. – Billot zuckte die Achseln.
»Es ist gut«, sagte er; »ich will mitgehen. Die Pferde stehen bereit. Fort also!«
»Fort!« wiederholten seine Genossen mit einem Tone, der keine Einwendungen zuließ.
Der König ging voran. Dann kam die Königin am Arme des Herzogs von Choiseul; dann Madame Elisabeth am Arme des Grafen von Damas; Frau von Tourzel mit den beiden Kindern und endlich die kleine Schar der Getreuen.
Herr von Romeuf, der als Abgesandter der Nationalversammlung unverletzlich war, hatte den Zug zu bewachen und in Schutz zu nehmen.
Die erlauchten Gefangenen setzten sich mit ihren wenigen Getreuen in den Wagen. Die beiden Leibgardisten nahmen ihre Plätze auf dem Bock wieder ein. Der Herzog von Choiseul schloß die Wagentür.
»Meine Herren,« sagte der König, »ich befehle ausdrücklich, daß man mich nach Montmédy führe . . .«
Aber eine einzige, gewaltige Stimme rief:
»Nach Paris! nach Paris!«
Tiefe Stille folgte. Billot zeigte mit dem Säbel die Richtung an, in der die Postillione fahren sollten. »Die Straße nach Clermont!« sagte er mit gebieterischem Tone. Die Postknechte gehorchten, der Wagen rollte davon. »Ich nehme Sie alle zu Zeugen, daß man mir Gewalt antut!« sagte Ludwig XVI.
Der unglückliche König, durch diese bei ihm ganz ungewöhnliche Anstrengung der Willenskraft erschöpft, sank auf den Sitz zurück. – Er saß zwischen der Königin und Madame Elisabeth.
Kaum hatte der Wagen, der in dem Gedränge nur langsam fahren konnte, einige hundert Schritte zurückgelegt, so hörte man lautes Geschrei und Getümmel.
Die Königin steckte sogleich den Kopf zum Wagen hinaus; aber sie fuhr entsetzt zurück und hielt die Hand auf die Augen.
»Wehe uns!« sagte sie. »Der Herzog von Choiseul wird ermordet!«
Der König fuhr auf, aber die Königin und Madame Elisabeth hielten ihn zurück.
Das Volk hatte den Herzog erkannt und gerufen:
»Das ist der Graf von Choiseul, einer von denen, die den König entführen wollten . . . Nieder mit dem Aristokraten! nieder mit dem Verräter!«
Choiseul wurde vom Pferde gerissen und verschwand in dem furchtbaren Abgrunde, den man die Menge nennt, und den in jener Zeit der wütenden Leidenschaften kein Mensch lebend verließ.
Aber während er stürzte, eilten ihm fünf Personen zu Hilfe, darunter Romeuf. Es entstand ein furchtbares Handgemenge; trotzdem wurde der Herzog nur leicht verletzt; ein Gendarm fing mit seinem Gewehrlauf einen Sensenhieb auf; James Brisack wehrte mit einem Stock, den er einem der Angreifer entrissen hatte, einen gegen das Haupt seines Herrn gerichteten Säbelhieb ab.
Romeuf trat nun vor. »Ich bin hier im Auftrage der Nationalversammlung und des Generals Lafayette«, rief er dem Volke zu. »Jedermann hat meinen Anordnungen Folge zu leisten . . .« Man führe diese Herren auf das Rathaus!«
»Auf das Rathaus! auf das Rathaus!« riefen viele Stimmen.
Der Herzog von Choiseul und seine Begleiter wurden in das Gemeindehaus gedrängt. Ein einziger Gemeindebeamter war da. Um sich der auf ihm lastenden Verantwortung zu entledigen, befahl er, den Herzog von Choiseul, den Grafen von Damas und Herrn von Floirac ins Gefängnis zu bringen und von der Nationalgarde bewachen zu lassen. Romeuf erklärte, daß er den Herzog nicht verlassen wolle. Der Beamte ließ daher Herrn von Romeuf mit den übrigen in den Kerker abführen.
Choiseul gab seinem Diener einen Wink. James, der zu unbedeutend war, um beachtet zu werden, machte sich aus dem Staube. Seine erste Sorge war, sich nach den Pferden zu erkundigen. Er erfuhr, daß die Pferde in einem Gasthofe von mehreren Bürgersoldaten bewacht wurden.
Choiseul wurde allerdings von der Stadtmiliz bewacht, aber man hatte vergessen, Schildwachen vor die Kellerlöcher des Kerkers zu stellen, und das Volk schoß von draußen herein.
Diese mißliche Lage dauerte vierundzwanzig Stunden.
Endlich, am 23. Juni, als die Nationalgarde von Verdun eingetroffen war, gelang es den Bemühungen Romeufs, daß ihr die Gefangenen übergeben wurden, und er verließ die letzteren erst, nachdem er den Offizieren das Ehrenwort abgenommen, sie in Schutz zu nehmen.
Der Leichnam des armen Isidor von Charny war in das Haus eines Leinenwebers geschleppt worden, wo ihn fremde Hände bestatteten.