Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Sechsundvierzigstes Kapitel

Im Schlosse glaubte man den Aufstand besiegt zu haben und wollte eben Maßregeln ergreifen, um die Wiederholung eines meuterischen Überfalls unmöglich zu machen, als man von der Seine her das Wirbeln der Trommeln und das Rasseln der Geschütze hörte.

Zugleich verbreitete sich das Gerücht, der König habe das Schloß verlassen und suche in der Nationalversammlung Zuflucht. – Es ist schwer zu sagen, welchen Eindruck diese Nachricht selbst unter den eifrigsten Royalisten machte. Ludwig XVI., der versprochen hatte, auf seinem königlichen Posten zu sterben, verließ diesen Posten und ging zum Feinde über; wenigstens ergab er sich ohne Gegenwehr.

Die Nationalgardisten glaubten nun ihres Eides entbunden zu sein und zogen sich fast alle zurück. Einige Edelleute folgten ihnen, denn sie fanden es überflüssig, für eine Sache, die sich selbst als verloren erklärte, das Leben zu lassen. Nur die Schweizer blieben; sie hielten fest an ihrer Pflicht.

Die Angreifenden hatten ihren Plan; sie glaubten, der König befinde sich in den Tuilerien, und wollten das Schloß auf allen Seiten umzingeln, um den König gefangenzunehmen.

Der Sturm war nicht schwer, trotzdem die Schweizer jeden Meter Boden nur unter großen Opfern aufgaben.

Plötzlich hörte man von den Gängen und Gemächern des ersten Stockes her den Ruf: »Der König befiehlt den Schweizern, das Feuer einzustellen!«

Es war zwei Uhr nachmittags. Der Befehl hatte den Vorteil, die Erbitterung der Sieger zu vermindern und die Ehre der Besiegten zu retten. In der Nationalversammlung hatte sich nämlich folgendes zugetragen. Noch ehe sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, hatte Marie Antoinette gesehen, daß der Graf von Charny von eisernen Stangen, Bajonetten und Piken bedroht wurde; aber sie wurde von ihren Begleitern in den Saal gezogen. Der Dauphin saß auf dem großen Tische der Nationalversammlung. Der Mann, der ihn dahin getragen hatte, schwenkte triumphierend seine rote Mütze über dem Kopfe des kleinen Prinzen und rief voll Freude: »Ich habe den Sohn Frankreichs gerettet! Es lebe der Dauphin!«

Aber sobald sie ihren Sohn in Sicherheit sah, dachte sie wieder an Charny.

»Meine Herren,« sagte sie, »einer meiner tapfersten Offiziere und treuesten Diener ist draußen in Lebensgefahr vor der Tür geblieben; ich bitte Sie, ihm Hilfe zu leisten.«

Fünf oder sechs Deputierte verließen eilends den Saal.

Die königliche Familie und die beiden Minister, die sie begleiteten, nahmen die Ministerplätze ein. – Vergniaud führte den Vorsitz. Die Nationalversammlung empfing sie stehend, nicht wegen der den gekrönten Häuptern schuldigen Etikette, sondern aus Achtung vor ihrem Unglück.

Ehe der König Platz nahm, gab er durch einen Wink zu verstehen, daß er sprechen wolle. Die ganze Versammlung schwieg.

»Ich bin hierher gekommen,« sagte Ludwig XVI., »um einem großen Verbrechen vorzubeugen; ich glaubte nur noch unter Ihnen in Sicherheit zu sein.«

»Sire,« antwortete Vergniaud, »Sie können auf die Standhaftigkeit der Nationalversammlung zählen; ihre Mitglieder haben geschworen, die Rechte des Volkes und die verfassungsmäßig bestehenden Gewalten mit ihrem Leben zu verteidigen.«

Der König setzte sich. – In diesem Augenblick krachte fast vor den Türen des Sitzungssaales ein furchtbares Gewehrfeuer.

Ein Offizier der Nationalgarde stürzte ganz erschrocken in den Sitzungssaal und stand erst an den Schranken still. – »Die Schweizer!« rief er. »Wir werden überwältigt!«

Die ganze Nationalversammlung erhob sich wie ein Mann. Die Volksvertreter ebenso wie die Zuhörer auf den Tribünen hoben die Hand auf und riefen: »Was auch geschehen möge, wir schwören, als freie Männer zu leben und zu sterben!«'

Der König und die königliche Familie hatten bei diesem Schwur nichts zu tun, sie blieben daher sitzen.

Dieser Ruf aus dreitausend Kehlen dröhnte wie ein Donner in dem überfüllten Saale.

Zehn Minuten nachher ertönte ein anderer Ruf: »Das Schloß ist erstürmt, die Aufständischen rücken gegen die Nationalversammlung, um den König zu ermorden!«

Dieselben Männer, die aus Haß gegen das Königtum soeben geschworen hatten, ihr Leben für die Freiheit zu lassen, erhoben sich nun mit demselben Eifer und schworen, den König bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen.

In diesem Augenblick wurde der Schweizerhauptmann Durler im Namen der Nationalversammlung aufgefordert, die Waffen zu strecken.

»Ich diene dem Könige und nicht der Nationalversammlung«, erwiderte der Schweizer; »wo ist der Befehl des Königs?«

Man führte ihn fast mit Gewalt in die Reitschule.

»Sire,« sagte der brave Kapitän, »man verlangt, daß ich die Waffen strecke. Ist es der Wille Eurer Majestät?«

»Ja,« sagte der König, »übergeben Sie der Nationalgarde Ihre Waffen. Ich will nicht, daß brave Leute wie Sie ihr Blut vergießen.«

Dies war der Befehl, den man in den Gängen und auf den Treppen der Tuilerien ausrief.

Als durch diesen Befehl die Ruhe in der Versammlung einigermaßen wiederhergestellt war, rührte der Präsident die Glocke, um die Beratungen fortzusetzen. Aber ein Deputierter erhob sich und machte einen Artikel der Verfassung geltend, der jede Beratung in Gegenwart des Königs verbot.

»Das ist wahr,« sagte Ludwig XVI., »aber wohin soll ich mich wenden?«

»Sire,« sagte der Präsident, »wir haben Ihnen die Tribüne des Journal ›Logographe‹ anzubieten; die Tribüne ist leer, weil das Journal nicht mehr erscheint.«

»Es ist gut,« erwiderte der König, »wir sind bereit, uns dahin zu begeben.«

Vergniaud befahl den Türstehern, den König zu führen. Ludwig XVI. ging nun mit der Königin und der königlichen Familie den Weg zurück, auf welchem er in den Sitzungssaal gekommen war. Man kam in den Korridor.

»Was liegt denn hier auf der Erde?« fragte Marie Antoinette; »es scheint Blut zu sein.«

Sonderbar! Diese Blutspuren wurden größer und häufiger, je näher man der Loge kam.

Um der Königin diesen Anblick zu ersparen, ging Ludwig XVI. rasch fort und öffnete selbst die Tür der Loge.

»Treten Sie ein, Madame«, sagte er zu der Königin.

Marie Antoinette eilte voraus; aber als sie in die Tür trat, schrie sie laut auf vor Entsetzen, hielt die Hand vor die Augen und wandte sich ab.

Die Blutspuren fanden nun ihre Erklärung: man hatte einen Toten in die Loge gebracht.

»Siehe da!« sagte der König; »wahrhaftig, es ist der arme Graf von Charny!«

Der Leichnam des Grafen wurde fortgetragen und die königliche Familie nahm Platz in der Loge. – Man wollte den Fußboden waschen, denn er war ganz mit Blut bedeckt; aber die Königin verbot es durch einen Wink und nahm zuerst Platz. Niemand bemerkte, daß sie ihre Schuhbänder zerriß und ihre bebenden Füße mit dem noch lauen Blut in Berührung brachte.

O Charny! sagte sie in Gedanken; teurer Charny! Warum fließt mein Blut nicht hier bis auf den letzten Tropfen, um sich auf ewig mit dem deinen zu vermischen!

Es schlug drei. –

Die Tuilerien waren genommen.

Wer hatte den Sieg errungen? – Der Grimm des Volkes, wird man antworten. – Jawohl, aber wer lenkte das ergrimmte Volk? Der Mann, der sich auf seinem kleinen Rappen neben dem kolossalen Santerre gar unbedeutend ausnahm: der Elsässer Westermann.

Und wer ist der Vermittler gewesen zwischen ihm und der allmächtigen Hand Gottes? – Danton!

Santerre und Danton waren an dem entscheidenden Tage kaum zu sehen. Westermann machte alles und war überall.

Als sich die Nachricht verbreitete, der König habe das Schloß verlassen, versammelten sich die dreihundert Edelleute, die gekommen waren, um für den König zu sterben.

Sie beschlossen, sich ebenfalls in die Nationalversammlung zu begeben, um dem König zur Seite zu stehen. Sie versammelten alle Schweizer, die aufzufinden waren, nebst etwa zwanzig Nationalgardisten und gingen, fünfhundert an der Zahl, die Treppe hinunter, um sich durch den Garten in die Reitschule zu begeben. Jedoch nur ein geringer Teil kam mit dem Leben davon, der weitaus größte Teil der todesmutigen Schar fand auf dem Schreckenswege einen grauenvollen Tod. Ihr Blut färbte die Straßen von Paris.

Neunhundert ihrer Brüder lagen tot im Innern der Tuilerien.

 


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