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Vor einem großen und schönen Hause machten Cagliostro und sein Begleiter halt. Sie traten ungesehen durch eine kleine Seitenpforte und Gilbert zog die Tür hinter sich zu; man hörte nicht das leiseste Knarren der Angeln, nicht das mindeste Schnappen des Schlosses. Der Boden war mit einem weichen Teppich belegt. Links fand Gilbert eine Tür offen, durch die er in ein prachtvolles Gemach gelangte. Hier hing ein einziges Gemälde, es war eine Madonna von Raphael.
Gilbert bewunderte dieses Meisterwerk, als er eine Tür hinter sich aufgehen hörte. Er sah sich um und erkannte Cagliostro, der sich in einem Nebenzimmer umgekleidet hatte.
Er war jetzt nicht mehr der Handwerker mit den geschwärzten Händen, den mit Kot bedeckten Schuhen und dem groben, schmutzigen Hemd. Mit freundlichem, offenem Blick trat er näher und breitete die Arme aus.
Gilbert eilte auf ihn zu und drückte ihn innig an seine Brust.
»Teurer Meister!« sagte er.
»Oh! lieber Gilbert,« erwiderte Cagliostro lachend, »Sie haben seit unserer Trennung so gute Fortschritte gemacht, zumal in der Philosophie, daß Sie jetzt der Meister sind, und ich kaum würdig bin, Ihr Schüler zu sein.«
»Ich danke für das Kompliment,« sagte Gilbert, »aber angenommen, ich hätte solche Fortschritte gemacht, wie können Sie es wissen? Es sind acht Jahre her, daß wir uns nicht mehr gesehen haben.«
»Sie zweifeln also noch immer an meiner Seherkraft? Dann will ich Sie eines besseren belehren. Sie kamen gewisser Familienangelegenheiten wegen zum ersten Male wieder nach Frankreich. Es handelte sich um die Erziehung Ihres Sohnes Sebastian: Sie brachten ihn in eine kleine Stadt und besuchten zugleich Ihren Pächter, einen braven Mann mit Namen Billot, den Sie gegen seinen Willen in Paris zurückhalten. Sie kamen zum zweiten Male nach Frankreich zurück, weil Sie, gleich vielen andern, an den politischen Angelegenheiten teilnehmen wollten. Unglücklicherweise hatten Sie eine gewisse alte Geschichte ganz vergessen. Diese Geschichte betraf Mademoiselle Andrea de Favernay, nachmalige Gräfin von Charny. Da die Königin der Dame, die den Grafen von Charny geheiratet hatte, nichts abschlagen konnte,Andrea hatte, um einem Skandal vorzubeugen, den Grafen von Charny heiraten müssen, der ein glühender Verehrer der Königin war. so verlangte und erhielt sie einen Verhaftsbefehl, infolgedessen Sie in die Bastille gebracht wurden. Dort würden Sie noch heute sitzen, lieber Doktor, wenn das Volk Sie nicht befreit hätte. Als guter Royalist begaben Sie sich sogleich zum König, dessen Leibarzt Sie geworden sind. Gestern oder vielmehr heute früh haben Sie zur Rettung der königlichen Familie sehr viel beigetragen; Sie weckten den braven Lafayette, der den Schlaf des Gerechten schlief, und vorhin, als Sie mich sahen, schickten Sie sich an, Ihre Souveränin – die, beiläufig gesagt, Ihre Todfeindin ist – gegen jede Gefahr zu schützen. Ist es nicht so?«
»Ja, es ist so,« sagte er, »und Sie sind immer der Zauberer Cagliostro.«
Cagliostro lächelte. »Ich habe es gemacht wie Sie«, erwiderte er; »ich habe Könige, viele Könige gesehen, aber in anderer Absicht; Sie nähern sich ihnen, um ihnen beizustehen, ich nähere mich ihnen, um sie zu stürzen. Sie versuchen, einen konstitutionellen König an die Spitze der Nation zu stellen, und es wird Ihnen nicht gelingen, ich mache Kaiser, Könige, Fürsten zu Philosophen, und das gelingt mir.«
»Wirklich?« sagte Gilbert zweifelnd.
»Jawohl. Der liebe König Friedrich, den wir leider verloren haben, war mit einem guten Beispiel vorangegangen. Da ist vor allen der König Joseph II., der Bruder unserer vielgeliebten Königin, der drei Viertel der Klöster aufhebt, die Kirchengüter einzieht, sogar die Karmeliternonnen aus ihren Zellen austreibt. Da ist der König von Dänemark, der Henker seines Leibarztes Struensee. Da ist die Kaiserin Katharina, die so große Fortschritte in der Philosophie macht, was sie jedoch nicht hinderte, Polen auseinanderzureißen. Da ist die Königin von Schweden und . . . ganz Deutschland.«
»Sie haben nur noch den Papst zu bekehren,« sagte Gilbert, »und da Ihnen nichts unmöglich ist, so glaube ich, daß es Ihnen gelingen wird.«
»Oh! das wird schwer sein, ich komme soeben erst aus seinen Krallen; vor sechs Monaten saß ich in der Engelsburg, so wie Sie vor drei Monaten in der Bastille saßen.«
»Nicht möglich! Und wie sind Sie befreit worden?«
»Ich hatte Unglück, ich hatte einen unbestechlichen Kerkermeister, aber zum Glück war er nicht unsterblich; der Zufall wollte es, daß er am Tage nach der dritten Zurückweisung meines Antrags starb. Man mußte ihm einen Nachfolger geben.
Der Nachfolger war nicht unbestechlich.
Der neue Kerkermeister sagte am ersten Abend, als er mir das Nachtessen brachte: ›Laßt's Euch wohlschmecken und sammelt neue Kräfte, denn wir haben diese Nacht einen weiten Weg zu machen.‹ – Wahrhaftig, der brave Mann log nicht; in derselben Nacht ritten wir jeder drei Pferde zu Tode und legten hundert Meilen zurück.«
»Und was sagte der Gouverneur, als er Ihre Flucht bemerkte?«
»Er zog dem noch nicht beerdigten Leichnam des andern Kerkermeisters die von mir zurückgelassenen Kleider an, schoß ihm mit einem Pistol mitten durch das Gesicht, ließ das Pistol neben ihm liegen und erklärte, ich hätte mich erschossen.«
»Und darf man ohne Indiskretion fragen, wie Sie jetzt heißen?«
»Ich bin der Baron Zannoné, Bankier aus Genua; ich bin Geldgeber Monsieurs, des königlichen Prinzen . . . Gutes Papier, nicht wahr? . . .«
»Und warum sind Sie nach Paris gekommen?«
»Wer weiß, vielleicht gelingt es mir, in Frankreich zu gründen, was sie in Amerika gegründet haben: eine Republik.«
Gilbert schüttelte den Kopf. »Der Geist der Franzosen ist keineswegs republikanisch. Der König wird bleiben.«
»Dann machen wir keine Republik, sondern eine Revolution.«
Gilbert ließ den Kopf sinken.
»Wissen Sie, wer die Bastille zerstört hat, Gilbert?«
»Das Volk.«
»Sie verstehen mich nicht: Fünfhundert Jahre lang hat man Grafen, Fürsten und andere große Herren in die Bastille eingesperrt; da kam eines Tages ein König auf den unsinnigen Einfall, den Gedanken in eine Zelle zu sperren. Der Gedanke hat die Bastille in die Luft gesprengt, und das Volk ist durch die Bresche eingedrungen.«
»Das ist wahr«, sagte Gilbert.
»Warten Sie nur, Gilbert, das ist erst der Anfang. Hören Sie, ich war vor drei Tagen bei einem sehr verdienstvollen, menschenfreundlichen Arzt. Wissen Sie, womit er sich in diesem Augenblick beschäftigt? Er erfindet eine wirklich höchst sinnreiche Maschine, die er der Nation verehren will, und mit der man in einer Stunde fünfzig, sechzig, achtzig Menschen aus der Welt schaffen kann. Wenn sich nun ein so ausgezeichneter Arzt, ein so wohlmeinender Philanthrop, wie der Doktor Guillotin, mit einer solchen Maschine beschäftigt, ist das nicht ein Beweis, daß eine solche Maschine wirklich Bedürfnis ist? Wenn Sie die Maschine sehen wollen, lieber Gilbert, so werden Sie nächstens Gelegenheit dazu haben, man wird eine Probe damit machen. Ich werde es Ihnen sagen lassen, und wenn Sie nicht blind sind, werden Sie den Finger der Vorsehung erkennen, die wohl weiß, daß ein Augenblick kommen müsse, wo der Henker zuviel zu tun haben wird, um mit den gewöhnlichen Mitteln auszureichen.«
»Graf, Graf! in Amerika hatten Sie tröstlichere Lebensansichten.«
»Das glaube ich wohl, ich war mitten unter einem Volke, das sich erhebt, und hier befinde ich mich in einer Gesellschaft, mit der es bald zu Ende geht. In unserer veralteten Welt geht alles zu Grabe, Adel und Königtum, und dieses Grab ist ein bodenloser Abgrund.«
»Aber retten wir das Königtum, es ist das Palladium der Nation.«
»Das sind große Worte, Gilbert. Glauben Sie denn, es sei so leicht, das Königtum mit einem solchen König zu retten?«
»Aber er ist doch der Sprößling eines gewaltigen Geschlechts . . .«
»Jawohl, eines Adelsgeschlechts, das mit Papageien endet! Hören Sie, Gilbert, Sie wissen, daß ich imstande bin, tausend Leiden zu ertragen, um Ihnen einen Schmerz zu ersparen. Ich will Ihnen daher einen Rat geben.«
»Reden Sie.«
»Der König muß fliehen. Der König muß Frankreich verlassen, solange es noch Zeit ist. In drei Monaten, in einem halben Jahr vielleicht wird es zu spät sein.«
»Graf,« erwiderte Gilbert, »würden Sie einem Soldaten den Rat geben, seinen Posten zu verlassen, weil das Bleiben auf demselben mit Gefahr verbunden ist?«
»Wenn der Soldat so wehrlos, umzingelt und in die Enge getrieben wäre, daß er sich nicht verteidigen könnte, wenn zumal sein Tod das Leben von Hunderttausenden in Gefahr brächte, ja, dann würde ich ihm raten, zu fliehen.«
»Graf, Sie wissen, daß ich ein Fatalist bin. Es geschehe, was da wolle; solange ich bei dem König etwas vermag, bleibt er in Frankreich, und ich bleibe bei ihm.«
»Hören Sie, es klopft jemand.«
»Wohlan, Graf, sagen Sie mir das Geschick dessen, der an diese Tür klopft, sagen Sie mir, wann und welchen Todes er sterben wird.«
»Gut,« sagte Cagliostro, »wir wollen selbst öffnen.«
Der Marquis von Favras trat ein.
Die Herren verneigten sich.
»Belieben Sie in den Salon zu gehen, Marquis«, sagte Cagliostro. »In fünf Minuten stehe ich zu Diensten.«
Der Marquis grüßte noch einmal, als er an den beiden Männern vorüberging, und verschwand.
»Nun?« fragte Gilbert.
»Sie wollen wissen, welchen Todes der Marquis sterben wird.«
»Sie haben mir ja versprochen, es zu sagen.«
Cagliostro lächelte und sah sich, um. Da niemand in der Nähe war, sagte er leise:
»Haben Sie schon einen Edelmann hängen sehen?«
»Nein.«
»Nun, da es ein seltenes, merkwürdiges Schauspiel ist, so finden Sie sich an dem Tage, wo der Marquis von Favras gehängt wird, auf dem Grèveplatz ein.«