Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Fünfunddreißigstes Kapitel

Seit der Rückkehr des Königs bis zum 16. Juli hatte sich sehr viel ereignet. – Die Flucht des Königs hatte ungeheure Sensation gemacht, und als er wieder in Paris war, wußte niemand, was man mit ihm anfangen sollte. Jeder sagte frei seine Meinung.

Am 21. Juni, als der König entflohen war, erklärten die Kordeliers durch einen Anschlagzettel, daß sie geschworen, alle »Tyrannen« zu erdolchen, die es wagen würden, das französische Gebiet, die Freiheit und die Verfassung anzugreifen. – Marat schlug einen Diktator vor, Prudhomme dagegen weder ein neues Oberhaupt noch eine neue Regierung; er erließ einen Aufruf:

»Am dritten Tage nach der Rückkehr führte man den Dauphin auf der Terrasse vor den Tuilerien spazieren. Er mußte dem Volke Kußhände zuwerfen. Einige Zuschauer waren so feige, zu rufen: ›Es lebe der Dauphin!‹ – Bürger! nehmt euch in acht vor den Schmeicheleien eines Hofes, der vor dem Volke kriecht, wenn er nicht mehr der Stärkere ist!«

Camille Desmoulins war im Palais Royal, dem gewöhnlichen Schauplatz seiner Redekünste, auf einen Stuhl gestiegen und sagte:

»Meine Herren, es wäre ein Unglück, wenn der treulose Mann hierher zurückgebracht würde. Was sollten wir mit ihm machen? Wenn er hierherkommt, so stelle ich den Antrag, ihn drei Tage lang, mit einem roten Tuch um den Kopf, dem allgemeinen Gelächter preiszugeben und ihn sodann in Etappen an die Grenze zu bringen.«

Das republikanische Gefühl war in allen Herzen, aber das Wort Republik ward kaum von einigen ausgesprochen. Die Nationalversammlung hatte eine entschiedene Abneigung gegen die republikanische Staatsform; sie sagte: »Die Sitten Frankreichs sind nicht republikanisch!«

Im übrigen wurden während der Abwesenheit des Königs und auch nach seiner Rückkehr die verschiedensten Pläne über die Bildung einer neuen Regierung erörtert. Vorübergehend gewann sogar die royalistische Partei die Oberhand. Besonders umstritten war das Schicksal des Königs. Schließlich wurde folgendes beschlossen:

»Der König wird so lange seiner Würde enthoben, bis er aufs neue die Verfassung beschworen hat.

Schwört der König nicht, wird er abgesetzt. Für alle Folgen, die sich aus der gewaltsamen Abdankung ergeben, wird er zur Verantwortung gezogen.«

Als diese Proklamation bekanntgegeben wurde, gab es im Volke nur einen Schrei der Entrüstung. Zu Tausenden strömte die Menge auf das Marsfeld, um am Altar des Vaterlandes eine Petition an die Nationalversammlung verlesen zu lassen, in der die sofortige Abdankung des Königs und seine Aburteilung durch das Gericht verlangt wurde.

Diese Bittschrift wurde durch einen gewissen Robert verlesen und mußte nun unterzeichnet werden. Die Zahl der Unterzeichner war nicht auf zwei- bis dreihundert beschränkt: es waren vielleicht zehntausend, und da von allen Seiten immerfort noch Menschen herbeiströmten, so war vorauszusehen, daß binnen einer Stunde mehr als fünfzigtausend den Altar des Vaterlandes umgeben würden.

Inzwischen war der Nationalversammlung gemeldet worden, auf dem Marsfelde habe sich eine große Menschenmenge versammelt und nehme eine drohende Haltung ein. Die Nationalversammlung entsandte daraufhin Lafayette mit einem Truppenaufgebot.

Lafayette erscheint auf dem Marsfelde; die Volksmasse ist noch mit der Unterzeichnung der Petition beschäftigt, und es herrscht die vollkommenste Ruhe.

Der General rückt bis zum Altar des Vaterlandes vor. Er erkundigt sich nach dem Zweck der Versammlung. Man zeigt ihm die Petition. Die Bittsteller versprechen, sich nach Hause zu begeben, sobald die Petition unterzeichnet sein wird. Er sieht in diesem Vorgange nichts Tadelnswertes und zieht sich mit seinen Truppen zurück.

Zwei Schüsse, die bei der Ankunft Lafayettes abgegeben worden waren, aber niemand verletzt hatten, sind auf dem Marsfelde unbeachtet geblieben, aber in der Nationalversammlung haben sie einen furchtbaren Widerhall gefunden. – Die Nationalversammlung beabsichtigt dieses Mal einen royalistischen Staatsstreich, und jedes Mittel ist ihr zur Erreichung dieses Zweckes willkommen.

»Lafayette ist verwundet! sein Adjutant niedergeschossen! . . . Auf dem Marsfelde gehen greuliche Dinge vor!«

So lautet die Kunde, die sich wie ein Lauffeuer durch Paris verbreitet und von der Nationalversammlung der Stadtbehörde offiziell mitgeteilt wird.

Aber die Stadtbehörde ist durch die Vorgänge auf dem Marsfelde schon beunruhigt worden; sie hat drei Beamte dahin abgeschickt.

Die Unterzeichner der Petition sehen vor dem Vaterlandsaltar einen neuen Zug anrücken. Sie schicken ihm eine Deputation entgegen.

Die drei Gemeindebeamten gehen gerade auf den Altar des Vaterlandes zu; aber anstatt der tobenden, drohenden Menge, die sie erwartet hatten, sehen sie eine friedliche Schar von Bürgern. Aber vielleicht ist die Petition aufrührerisch. Die Gemeindebeamten verlangen die Vorlesung der Petition. Sie wird ihnen von der ersten bis zur letzten Zeile vorgelesen.

»Meine Herren,« sagen die Beamten, »wir freuen uns, Ihre Stimmung kennenzulernen; wir hörten, es sei hier ein Tumult, aber wir sehen mit Vergnügen, daß man uns getäuscht hat. Wenn wir nicht von Amts wegen hier wären, würden wir selbst unterzeichnen.«

Die Zustimmung von drei Männern, bei denen man feindselige Absichten vermutet hatte, ermutigt die Bittsteller. In einem unbedeutenden Streit zwischen dem Volk und der Nationalgarde sind zwei Personen verhaftet worden. Die beiden Gefangenen sind ganz schuldlos. Die angesehensten unter den Petitionären verlangen ihre sofortige Freilassung.

»Das können wir nicht auf uns nehmen,« antworten die Beamten; »aber ernennen Sie Kommissare; diese können sich mit uns zum Stadthause begeben, und es wird ihnen bewilligt werden, was recht ist.«

Man ernennt sogleich zwölf Kommissare; unter ihnen den einstimmig gewählten Billot. Sie begeben sich mit den drei Beamten zum Stadthause.

Der Grèveplatz ist zum größten Erstaunen der Kommissare mit Soldaten besetzt. Vor der Tür des Ratssaales werden die Kommissare von den drei Beamten ersucht, einen Augenblick zu warten. Die letzteren gehen hinein und erscheinen nicht wieder.

Die Kommissare warten eine Stunde. Niemand läßt sich blicken. – Billot runzelt die Stirn und stampft ungeduldig mit dem Fuße. Plötzlich geht die Tür auf. Der Gemeinderat erscheint, Bailly voran. Billot geht auf ihn zu.

»Herr Bürgermeister,« sagte er energisch, »wir erwarten Sie seit einer Stunde.«

»Wer sind Sie und was haben Sie mir zu sagen?« fragte Bailly.

»Wer ich bin? Ich bin Billot. Ich habe Ihnen zu sagen, daß wir die Abgesandten des auf dem Marsfelde versammelten Volkes sind.«

»Und was verlangt das Volk?«

»Es verlangt die Erfüllung des Versprechens, das Ihre drei Bevollmächtigten gegeben haben, nämlich die Freilassung zweier zu Unrecht beschuldigter Bürger, für deren Schuldlosigkeit wir bürgen.«

»Ein solches Versprechen«, sagte Bailly, »kann uns nicht binden.«

»Warum nicht?«

»Weil es Aufrührern gegeben worden ist.«

Billot runzelte die Stirn. »Aufrührern!« erwiderte er; »jetzt sollen wir Aufrührer sein?«

»Jawohl«, sagte Bailly; »und ich werde mich sogleich auf das Marsfeld begeben, um Ruhe zu stiften.«

»Auf dem Marsfelde Ruhe stiften? Ihr Freund Lafayette ist ja soeben abgezogen; Ihre drei Abgeordneten sind ja mit uns gekommen und können Ihnen sagen, daß das Marsfeld ruhiger ist als der Stadthausplatz!«

In diesem Augenblick ritt ein Offizier heran.

»Wo ist der Herr Bürgermeister?« fragte er.

»Hier bin ich«, sagte Bailly.

»Zu den Waffen, Herr Bürgermeister! zu den Waffen! Man ist handgemein geworden auf dem Marsfelde; fünfzigtausend Meuterer wollen gegen die Nationalversammlung anrücken!«

»Meine Herren!« sagte Bailly; »wir wollen uns persönlich davon überzeugen . . . Herr Billot, wenn Sie über Ihre Vollmachtgeber etwas vermögen, so gehen Sie und fordern Sie sie auf, auseinanderzugehen.«

»Auseinanderzugehen? Was fällt Ihnen ein? Das Petitionsrecht ist uns gesetzlich zuerkannt, und bis es uns durch einen neuen Beschluß wieder genommen wird, ist es niemandem, weder dem Bürgermeister noch dem Kommandanten der Nationalgarde erlaubt, die Bürger an der Darlegung ihrer Wünsche zu hindern . . . Sie gehen auf das Marsfeld? Wir wollen vorangehen, Herr Bürgermeister!«

Als Billot mit den Kommissaren wieder auf dem Marsfelde eintrifft, hat sich die Volksmenge noch vermehrt. Es mochten wohl sechzigtausend Menschen versammelt sein. Von allen Seiten eilt man herbei und drängt sich um die Abgesandten. – »Sind die beiden Bürger freigelassen?«

»Die beiden Gefangenen sind nicht freigegeben, und der Bürgermeister hat geantwortet, die Petitionäre wären Aufrührer.«

Die Umstehenden lachen. Alle begeben sich auf ihre Plätze zurück oder gehen sorglos auf und ab.

Plötzlich eilt ein Bürger atemlos herbei. Er hat nicht nur die rote Fahne vor dem Stadthause gesehen, er hat auch gehört, wie der Befehl, auf das Marsfeld zu marschieren, von der Nationalgarde mit lautem Jubel begrüßt wurde; er hat gesehen, daß die Gewehre geladen wurden, daß ein Gemeindebeamter mit den Chefs leise sprach, und daß endlich die Nationalgarde, mit Bailly und dem Gemeinderat an der Spitze, ausrückte.

Bald hörte man näherkommende Trommelwirbel. Die Mitglieder der verschiedenen patriotischen Vereine ziehen sich in Gruppen zusammen und schicken sich an, das Marsfeld zu verlassen. Aber Billot ruft ihnen von der Plattform des Altars aus zu:

»Brüder! warum diese Furcht? Es sind nur zwei Fälle möglich: das Kriegsgesetz wird entweder geltend gemacht, oder nicht. Wird es geltend gemacht, warum sollen wir davonlaufen? Im entgegengesetzten Falle wird es kundgemacht, wir werden aufgefordert, und dann ist es immer noch Zeit, uns zurückzuziehen.«

»Ja, ja,« rief man von allen Seiten, »wir handeln nach dem Gesetz . . . mir wollen die Aufforderung abwarten . . . man muß uns dreimal auffordern . . . Wir bleiben!«

Man blieb. Die Nationalgarde rückt von drei Seiten auf das Marsfeld. Eine Abteilung, unter der sich Bailly befindet, führt die rote Fahne.

Plötzlich sieht man, wie vorn die Menge vor heransprengenden Reitern in heilloser Unordnung zurückweicht; wer nicht niedergeritten wird, flüchtet sich an den Altar des Vaterlandes wie an ein unverletztes Asyl.

Dann kracht ein lebhaftes Gewehrfeuer, und Pulverdampf steigt auf. – Bailly ist mit Hohn und Spott empfangen worden; dabei ist ein Schuß gefallen und hat einen Dragoner leicht verwundet. Der Bürgermeister, auf den es offenbar abgesehen war, hat Befehl zum Feuern gegeben; aber es soll nur in die Luft geschossen werden, um den Spöttern einen Schrecken einzujagen.

Aber gleich darauf kracht eine neue Salve. – Die Garde schießt; auf wen? Auf die harmlose Menge, die den Altar des Vaterlandes umgibt!

Ein furchtbares Geschrei folgt diesem Gewehrfeuer; dann sieht man etwas bis dahin fast Beispielloses: die fliehende Volksmenge, die Leichen und im Blut sich fortschleppende Verwundete zurückläßt und mitten im Staube und Pulverdampf die den Fliehenden nacheilende Reiterei.

Das Marsfeld bot einen traurigen Anblick. Die Getroffenen waren meistens Weiber und Kinder. Der gegenseitige Groll wurde zur maßlosen Wut, zur rasenden Blutgier. Ein Geschütz wurde aufgefahren, die Kanoniere hielten die brennenden Lunten bereit, um zu feuern. Lafayette hatte kaum noch Zeit, auf die Batterien loszusprengen und sich vor die Feuerschlünde zu stellen.

Nachdem die Volksmenge eine Weile regellos durcheinandergelaufen war, wendete sie sich instinktmäßig zu der Nationalgarde der Vorstadt St. Antoine. Die Bürgersoldaten öffneten ihre Reihen und nahmen die Fliehenden auf. Der Wind hat den Staub und Pulverdampf nach dieser Seite hingetrieben, so daß sie nichts gesehen hatten und wähnten, die Volksmenge habe nur aus Furcht die Flucht genommen.

Als sich der Pulverdampf zerstreute, sahen sie mit Entsetzen die Erde mit Blut bedeckt und mit Toten übersäet.

In diesem Augenblicke sprengte ein Adjutant heran und gab ihnen den Befehl, vorzudringen und den Platz zu säubern, um sich mit den übrigen Truppen zu vereinigen. Aber anstatt diesen Befehl zu vollziehen, schlugen sie auf den Adjutanten und die nachsprengenden Reiter an.

Adjutant und Reiter wichen vor den Bajonetten der Patrioten zurück. Alle Fliehenden, die sich nach dieser Seite hin gewendet hatten, fanden hier sichern Schutz. In wenigen Augenblicken war das Marsfeld leer; es blieben nur die Weiber, Männer und Kinder zurück, die durch das furchtbare Gewehrfeuer der Garde oder von den nachfolgenden Dragonern getötet oder verwundet morden waren.

Nach Einbruch der Nacht warf man die Leichen in die Seine; – die Seine trieb sie dem Ozean zu; der Ozean verschlang sie.

 


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