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Am nächsten Morgen erhob sich die Königin erst gegen neun Uhr, ihr Gesicht zeigte Spuren von Tränen, ihre Wangen waren bleich.
Plötzlich hörte die Königin draußen Lärm. Etwas Ungewöhnliches schien vorzugehen.
Man hörte deutlich die Stimme Webers, die Stillschweigen gebot.
Die Königin rief nach ihrem treuen Kammerdiener.
In demselben Augenblicke ward es still.
»Was gibt's denn, Weber?« fragte die Königin; »was geht im Schlosse vor, und was bedeutet der Lärm?«
»Es scheinen Unruhen in der Stadt ausgebrochen zu sein; man sagt, es sei ein Aufstand wegen des Brotes, jedoch die eingehenden Berichte widersprechen sich sämtlich.«
»Geh geschwind in die Stadt, Weber, überzeuge dich mit deinen eigenen Augen und dann erzähle mir, was du gesehen hast. Wenn der Doktor Gilbert sich meldet, so soll man ihn nicht warten lassen, Weber! er ist immer wohl unterrichtet und wird uns alles erklären, was vorgeht.«
Weber eilte auf die Brücke zu, folgte dem Menschenstrom und kam auf den Notre-Dame-Platz.
Das Geschrei wurde immer wilder, man hörte deutlich Rufe wie: »Es ist ein Kornwucherer! . . . Zum Tode, an die Laterne mit ihm!«
Plötzlich wurde Weber in eine Seitengasse gestoßen; hier wälzte sich eine tobende Menge, in deren Mitte sich ein Mann verzweifelt wehrte.
Ein einziger Mann nahm ihn gegen die Menge in Schutz; es war Gilbert.
Unter der Volksmasse waren einige, die ihn erkannten und riefen:
»Den Doktor Gilbert müssen wir anhören.«
Es folgte eine kurze Ruhepause, die Weber benutzte, um sich bis zu dem Doktor einen Weg zu bahnen. »Herr Doktor Gilbert!« rief er.
»Ah, Sie sind's, Weber! – Sagen Sie der Königin, daß ich vielleicht später kommen werde, ich habe zuerst ein Menschenleben zu retten.«
»O ja!« sagte der Unglückliche, ein Bäcker namens Oenis François, der die letzten Worte hörte: »Sie werden mich retten, nicht wahr, Doktor? . . . Sagen Sie den Leuten, daß ich unschuldig bin; sagen Sie ihnen, daß meine junge Frau schwanger ist . . . Ich schwöre Ihnen, Doktor, daß ich kein Brot versteckt habe!«
»Freunde!« rief Gilbert, der sich mit übermenschlicher Kraft gegen die Wütenden wehrte, »dieser Mann ist ein Franzose, ein Bürger wie ihr, man kann, man darf einen Menschen nicht morden, ohne ihn anzuhören . . . Führt ihn zu den nächsten Bezirkskommissaren, und das Weitere wird sich finden.«
Inzwischen waren vier bis fünf Personen dem Doktor zu Hilfe gekommen und hatten den Unglücklichen umstellt, um ihn gegen die Wut des Volkes zu schützen.
Glücklicherweise waren in dem allgemeinen Lärm alsbald die Worte zu verstehen:
»Da kommen die Bezirkskommissare!«
Die Drohungen verstummten; die Menge machte den Beamten Platz. Man führte den Unglücklichen zum Stadthause.
Der erbitterte Pöbel war nicht abzuwehren, ein Teil drang mit in das Stadthaus. Kaum war der arme François unter dem Portal des Stadthauses verschwunden, wurde das Gebrüll draußen immer lauter und drohender.
»Es ist ein vom Hofe bezahlter Kornwucherer; deshalb will man ihn retten.«
Zum Unglück war es noch sehr früh am Tage, und keiner der Männer, die das Volk in der Gewalt hatten, weder Bailly noch Lafayette, waren da.
Die Aufwiegler stürmten in das Stadthaus und drangen in den Saal, wo sich der unglückliche Bäcker unter Gilberts Schutz befand.
Die Nachbarn des Angeklagten, die inzwischen herbeigeeilt waren, erklärten einstimmig, daß er seit dem Anfange der Revolution den größten Eifer an den Tag gelegt, daß er täglich bei zehnmal gebacken und selbst einigen anderen Bäckern Mehl überlassen habe.
Plötzlich stürmt eine wütende brüllende Rotte in den Saal, durchbricht die Reihe von Nationalgardisten, die den unglücklichen François umgibt, und trennt ihn von seinen Beschützern. Von diesem Augenblicke an ist er verloren. Er wird die Treppe hinuntergeworfen, und auf jeder Stufe bekommt er eine Wunde; als er unter dem Portal erscheint, ist sein Körper fast zerschmettert.
In einer Sekunde ist der Kopf des unglücklichen François vom Rumpfe getrennt und sitzt auf der Spitze einer Pike.
Niedergeschlagen ging Gilbert von dannen. Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter; vor Überraschung stieß er einen leisen Schrei aus; der Mann, den er erkannt hatte, schob ihm ein Billett in die Hand, legte einen Finger auf den Mund und entfernte sich in der Richtung des erzbischöflichen Palastes.
Der Mann wünschte ohne Zweifel unerkannt zu bleiben, aber ein Marktweib erkannte ihn und rief in die Hände klatschend:
»Es lebe Mirabeau, der Verteidiger des Volkes!«
Als die Letzten des Zuges, der dem Kopfe des unglücklichen François folgte, dieses Vivatrufen hörten, kehrten sie um und begleiteten Mirabeau jubelnd bis an den erzbischöflichen Palast.
Nunmehr las Gilbert das Billett, das ihm Mirabeau zugesteckt hatte, zweimal durch und fuhr in die Tuilerien.
Marie Antoinette erschrak, als sie den Doktor Gilbert erblickte, dessen Rock zerrissen war und dessen Hemd Blutspuren zeigte.
»Was ist aus dem Unglücklichen geworden, Herr Gilbert?«
»Er ist tot . . . das erbitterte Volk hat ihn ermordet, in Stücke zerrissen!«
»Gibt es denn kein Mittel, die Mörder zu bestrafen?«
»Wir wollen unser Möglichstes tun«, erwiderte Gilbert; »aber noch besser wäre es, weitere Mordtaten zu verhüten, als die Mörder zu bestrafen.«
»Aber, mein Gott, wie ist das möglich?«
»Eure Majestät, stellen Sie an die Spitze der Regierung Männer, die das Vertrauen des Volkes besitzen, und derlei Vorfälle werden sich nicht mehr ereignen.«
»Ach, ja . . . Herr von Mirabeau und den Marquis von Lafayette, nicht wahr?«
»Ich hoffte, Eure Majestät hätten mich rufen lassen, um mir die Zustimmung des Königs zu der von mir vorgeschlagenen Ministerkombination zu melden.«
»Sie glauben also, Herr Gilbert, daß Mirabeau sich entschließen würde, unsere Partei zu ergreifen?«
»Er ist Eurer Majestät mit ganzer Seele ergeben.«
»Aber er hält es schon mit dem Herzoge von Orleans?«
»Eure Majestät täuschen sich. Mirabeau hat sich, nachdem der Prinz vor den Drohungen Lafayettes nach England geflohen ist, von ihm losgesagt.«
»Das söhnt mich einigermaßen mit ihm aus,« sagte die Königin mit gezwungenem Lächeln, »und wenn ich glaubte, daß man wirklich auf Herrn von Mirabeau zählen könne, so wäre ich vielleicht weniger abgeneigt als der König, mich ihm anzuschließen . . .«
»Eure Majestät, vor einer halben Stunde erhielt ich von Mirabeau ein Billett . . .«
»Darf ich das Billett sehen?«
»Es ist für Eure Majestät bestimmt.«
Gilbert zog den Brief aus der Tasche.
Die Königin nahm das Papier und las:
»Das heutige Ereignis ändert die Lage der Dinge. Man kann aus dem soeben abgeschlagenen Kopfe großen Nutzen ziehen. Die Nationalversammlung wird sich fürchten und die Verkündigung des Kriegsgesetzes verlangen.
Mirabeau kann den Antrag unterstützen und das Kriegsgesetz zum Beschluß erheben, er kann behaupten, daß nur von einer kräftigen vollziehenden Gewalt die Rettung zu erwarten sei; er kann Herrn von Necker stürzen. Statt des Ministeriums Necker ernenne man ein Ministerium Mirabeau und Lafayette; dann bürgt Mirabeau für alles.«
»Gut . . . Herr von Mirabeau schicke mir durch Sie eine Denkschrift über die Lage des Landes und den Entwurf eines Ministeriums zu; ich werde seinen Plan dem Könige vorlegen.«
»Und darf Herr von Mirabeau inzwischen die Verkündung des Kriegsgesetzes verlangen?«
»Ja, das steht ihm frei.«
»Aber der Sturz des Herrn von Necker kann dringend notwendig werden; würde dann ein Ministerium Lafayette und Mirabeau nicht ungünstig aufgenommen werden?«
»Von mir? Nein . . . Ich will beweisen, daß ich bereit bin, meine persönliche Abneigung dem Wohl des Staates zu opfern; aber Sie wissen, daß ich für die Zustimmung des Königs nicht bürgen kann.«
Die Königin entließ den Doktor mit einer Handbewegung.
Eine Viertelstunde nachher war Gilbert in der Nationalversammlung.
Die Abgeordneten waren sehr aufgeregt, Mirabeau allein blieb ruhig auf seinem Platze. Er wartete, seine Augen waren auf die öffentliche Tribüne gerichtet.
Als er Gilbert bemerkte, heiterte sich sein Löwenantlitz auf.
Gilbert riß ein Blatt aus seinem Taschenbuche und schrieb:
»Ihre Anträge sind angenommen, wenn auch nicht von beiden Parteien, doch wenigstens von der, die nach Ihrer und meiner Meinung die einflußreichere ist.
Man verlangt auf morgen eine Denkschrift und auf heute ein Ministerprogramm.«
Dann faltete er das Papier in Briefform zusammen, schrieb die Adresse darauf und schickte das Billett an den Abgeordneten von Aix, der es überbringen sollte.
Mirabeau las das Billett mit dem Anschein der größten Gleichgültigkeit und schickte seine Antwort sofort an Gilbert:
»Morgen sende ich die Denkschrift ein. Ich schicke Ihnen hier die verlangte Liste. Zwei oder drei Namen können geändert werden.
Herr von Necker, Premierminister. (Man muß ihm jede Gelegenheit nehmen, durch seine Unfähigkeit zu schaden, und gleichwohl seine Popularität zu erhalten suchen.)
Erzbischof von Bordeaux, Kanzler.
Herzog von Liancourt, Kriegsminister. (Er ist dem Könige persönlich zugetan.)
Herzog von Larochefoucauld, Minister des königlichen Hauses und Gouverneur von Paris.
Graf von Lamark, Marineminister.
Bischof von Autun, Finanzminister.
Graf von Mirabeau, Staatsrat ohne Departement. (Die kleinlichen Bedenklichkeiten und persönlichen Rücksichten dürfen nicht mehr in Betracht kommen.)
Target, Bürgermeister von Paris.
Lafayette, Staatsrat, Marschall von Frankreich, provisorischer Generalissimus, um die Armee neu zu organisieren.
Herr von Montmorin, Gouverneur, Herzog und Pair. (Zuvor sind seine Schulden zu bezahlen.)
Herr von Ségur (aus Rußland), Minister der auswärtigen Angelegenheiten.
Mousieur, Bibliothekar des Königs.
Chapellier, Intendant der Gebäude.«
Unter dieser ersten Note stand eine zweite:
»Für Lafayette:
Minister der Justiz, der Herzog von Larochefoucauld.
Minister der auswärtigen Angelegenheit, der Bischof von Autun.
Minister der Finanzen, Lambert, Haller oder Clavières.
Marineminister . . .
»Für die Königin:
Minister des Krieges oder der Marine, Lamark.
Minister des öffentlichen Unterrichts, der Abbé Sieyès.
Geheimsiegelbewahrer des Königs . . .«
Diese zweite Note deutete offenbar die Veränderungen und Modifikationen an, die in der von Mirabeau vorgeschlagenen Ministerkombination gemacht werden konnten, ohne auf seine Absichten und Pläne störend einzuwirken.
All dies war mit etwas unsicherer Hand geschrieben; Mirabeau war also wohl nicht so ruhig, als es schien.
Gilbert eilte mit der Liste sofort zur Königin. Sie warf einen Blick auf die Note Mirabeaus. »Es ist gut, Doktor,« sagte sie, »lassen Sie mir die Note da; ich werde Ihnen morgen die Antwort sagen.«
Um sieben Uhr abends brachte ein Diener dem Doktor folgendes Billett:
»Die Sitzung war heiß! Das Kriegsgesetz ist votiert. Buzot und Robespierre wollten die Einsetzung eines obersten Gerichtshofes. Ich habe den Beschluß durchgesetzt, daß der Hochverrat an der Nation von dem königlichen Gerichtshofe des Châtelet gerichtet werden soll. Ich habe die Rettung Frankreichs unbedingt in das Königtum gesetzt und Dreiviertel der Nationalversammlung haben mir beigestimmt.«