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Pitou hatte während seiner Anwesenheit in Paris den Doktor Gilbert aufgesucht, dem er über die Verwendung seiner fünfundzwanzig Louisdor Rechenschaft ablegte, und den Dank der dreiunddreißig Nationalgardisten überbrachte; und der Doktor Gilbert hatte ihm weitere fünfundzwanzig Louisdor mit der Weisung übergeben, diese Summe für seine eigenen Bedürfnisse zu verwenden.
Bei dieser Gelegenheit hatte Gilbert Pitou vorgeschlagen, seinem Sohn Sebastian einen Besuch zu machen. Pitou klatschte vor Begeisterung in die Hände wie ein Kind.
»Ich wäre schon gern hingegangen,« sagte er, »aber ich getraute mich nicht, Sie um die Erlaubnis zu bitten.«
Gilbert schrieb einige Zeilen an seinen Sohn.
»Hier,« sagte er, »nimm einen Wagen und fahre zu Sebastian; wahrscheinlich wird er durch dieses Billett bewogen werden, einen Besuch zu machen; du wirst ihn begleiten, nicht wahr, lieber Pitou, und wirst ihn vor der Tür des betreffenden Hauses erwarten?«
Pitou nahm einen Fiaker, fuhr zu Sebastian, schloß ihn in seine Arme und küßte ihn zärtlich; dann stellte er ihn wieder auf den Boden und übergab ihm den Brief seines Vaters.
Sebastian küßte den Brief mit der aufrichtigen Ehrerbietung und Zärtlichkeit, die er für seinen Vater hegte; dann fragte er nach kurzem Besinnen:
»Lieber Pitou, hat dir mein Vater nicht gesagt, daß du mich irgendwohin begleiten sollst?«
»Jawohl, wenn es dir angenehm ist.«
»Ja, ja,« sagte der Knabe lebhaft, »ja, es ist mir recht angenehm, und du wirst meinem Vater sagen, daß ich mit Vergnügen bereit gewesen sei.«
Sebastian war kein Kind mehr; er war fast siebzehn Jahre alt; sein Gesicht war regelmäßig schön und ausdrucksvoll, sein üppiges kastanienbraunes Haar wallte in natürlichen Locken auf seinen Nacken herab, und aus seinen blauen Augen leuchtete das erste Jugendfeuer.
»Ich weiß nicht, wohin wir fahren«, sagte Pitou, ehe sie einstiegen; »du mußt also die Adresse angeben.«
»Dafür laß mich nur sorgen,« erwiderte Sebastian, »Rue Coq-Héron Nr. 9,« sagte er zu dem Kutscher, »das erste Haustor von der Rue Coquillière.«
»Aber, lieber Pitou,« sagte Sebastian, »wenn die Person, die ich besuche, zu Hause ist, so werde ich wohl eine Stunde, vielleicht noch länger bei ihr bleiben.«
»Das tut nichts,« antwortete Pitou, »ich bin darauf vorbereitet!«
Als der Wagen in die Nähe des bezeichneten Hauses kam, schien Sebastian unruhig, fast fieberhaft aufgeregt zu werden. Er richtete sich im Wagen auf, steckte den Kopf zum Schlage hinaus und rief:
»Geschwind! Kutscher, geschwind!«
Als sie angelangt waren, öffnete Sebastian selbst den Schlag, drückte seinem Freunde Pitou noch einmal die Hand und eilte in den Pavillon.
Nach fünf Minuten tat sich die Wagentür auf, der Türhüter machte einen Bückling und sagte:
»Die Frau Gräfin von Charny bittet den Herrn Kapitän Pitou, sich gefälligst hineinzubemühen.«
Pitou stieg aus und folgte dem Türhüter ganz verblüfft in den Pavillon. Seine Verlegenheit wurde noch größer, als er im Vorzimmer eine schöne Dame erblickte, die Sebastian an ihre Brust drückte und, ohne ihn loszulassen, dem Eintretenden die Hand reichte.
»Herr Pitou,« sagte sie zu ihm, »Sie haben mir eine so große, so unverhoffte Freude gemacht, daß ich Ihnen persönlich danken wollte.«
Pitou machte große Augen, er stammelte einige unverständliche Worte, aber die Hand der schönen Dame ließ er unberührt.
»Nimm diese Hand und küsse sie, Pitou,« sagte Sebastian, – »meine Mutter erlaubt es.«
»Deine Mutter?« fragte Pitou.
Sebastian nickte bejahend.
»Ja, seine Mutter!« sagte Andrea, deren Augen vor Freude strahlten; – »seine Mutter, der Sie ihn nach neunmonatlicher Abwesenheit wieder zugeführt haben; seine Mutter, die ihn nur einmal gesehen hatte, und die, in der Erwartung, daß Sie ihn noch öfter hierher bringen werden, kein Geheimnis vor Ihnen haben will, obgleich dieses Geheimnis, wenn es bekannt würde, ihr nur verderblich werden könnte.«
»Mein Sohn hat mir gesagt,« fuhr die Gräfin fort, »daß Sie noch nicht gefrühstückt haben . . . Gehen Sie in das Speisezimmer, Herr Pitou, und während ich mit Sebastian plaudere – Sie werden einer Mutter doch dieses Glück gönnen? – sollen Sie bedient werden.«
Als Pitou zwei Koteletts verzehrt hatte und eben ein gebratenes Huhn anschnitt, tat sich die Tür auf, und ein junger Kavalier trat ein, offenbar in der Absicht, sich in den Salon zu begeben.
Pitou schaute auf, der junge Kavalier schlug die Augen nieder; beide erkannten einander und gaben ihre Überraschung durch den Ausruf zu erkennen:
»Herr Vicomte von Charny!«
Pitou stand auf, sein Herz schlug ungestüm; der Anblick des jungen Kavaliers erinnerte ihn an die gewaltigsten Regungen, die er je gefühlt hatte.
Isidor wurde durch Pitous Anblick an gar nichts erinnert; er wußte nur, daß Katharina dem braven Menschen viel Dank schuldig war.
Er ging daher ganz unbefangen auf Pitou zu, in welchem er trotz der Uniform und der zwei Epauletten noch immer den Bauernburschen von Haramont sah.
»Ah! Sie sind's, Herr Pitou!« sagte er. »Es freut mich, daß ich Gelegenheit habe, Ihnen für die Dienste, die Sie uns erwiesen, meinen Dank auszudrücken.«
»Herr Vicomte,« erwiderte Pitou mit ziemlich fester Stimme, »diese Dienste habe ich der Jungfer Katharina und sonst niemandem erwiesen.«
»Doch, Herr Pitou,« entgegnete Isidor mit einer leichten Verbeugung, »ich bin Ihnen meinen Dank schuldig und habe Ihnen meine Hand anzubieten. Ich hoffe, daß Sie meine Hand nicht zurückweisen werden.«
Aus der Antwort Isidors sprach so viel Edelmut und Zartgefühl, daß Pitou, allen Groll vergessend, die Hand des Vicomte mit den Fingerspitzen berührte.
In diesem Augenblick erschien die Gräfin von Charny in der Salontür.
»Herr Vicomte,« sagte sie, »Sie wünschen mich zu sprechen . . . hier bin ich.«
Isidor verneigte sich gegen Pitou und begab sich in den Salon.
Er wollte die Tür schließen, aber Andrea, die ihn vorangehen ließ, gab es nicht zu. Die Tür blieb halb offen.
»Sie wünschen mich zu sprechen«, sagte die Gräfin zu ihrem Schwager . . . »Darf ich fragen, was mir das Glück Ihres Besuches verschafft?«
»Ich habe gestern Nachricht von Olivier erhalten«, erwiderte Isidor. »Wie in den früheren Briefen, die er an mich schrieb, beauftragt er mich auch diesmal, ihn Ihrer freundlichen Erinnerung zu empfehlen. Er kann die Zeit seiner Rückkehr noch nicht bestimmen, und er würde sich sehr freuen, entweder ein Schreiben von Ihnen oder auch nur einen Gruß durch mich zu erhalten.«
»Herr Vicomte,« sagte die Gräfin, »ich konnte den Abschiedsbrief meines Gemahls bis jetzt noch gar nicht beantworten, weil ich gar nicht weiß, wo er ist; aber ich werde mich gern Ihrer gütigen Vermittlung bedienen, um ihm meine Achtung und meine Ergebenheit auszudrücken. Wenn Sie morgen einen Brief abholen lassen wollen, so soll dieser Brief an ihn bereitliegen.«
»Schreiben Sie nur den Brief, Madame«, sagte Isidor; »aber ich werde ihn erst in fünf bis sechs Tagen, und zwar persönlich abholen . . . Ich habe eine sehr notwendige Reise zu machen; sobald ich zurückkomme, werde ich Ihnen meine Aufwartung machen und Ihre Befehle empfangen.« – –
Alsbald begleitete Pitou seinen Freund wieder in das Collège Saint-Louis zurück; er war mit seinem Frühstück und sich zufrieden.
Das einzige, was ihn hätte verstimmen können, war die dauernde Niedergeschlagenheit Billots. Selbst am Tage der großen Feier auf dem Marsfelde war Billot finster und wortkarg wie stets. Als er am Abend des großen Tages zusammen mit Pitou seine Mahlzeit einnahm, versuchte dieser vergebens, ihn auf andere Gedanken zu bringen; aber Billot ging auf kein Gespräch ein; beide aßen schweigend, als sich ein Fremder an ihren Tisch setzte und sie mit spöttischer Miene anschaute.
Billot war keineswegs in der Laune, diesen Blick zu ertragen, er trat schnell auf den Unbekannten zu; aber ehe der Landwirt den Mund auftat, machte der Unbekannte ein Freimaurerzeichen, welches Billot beantwortete.
Der Unbekannte ergriff zuerst das Wort.
»Ihr kennt mich nicht, Brüder,« sagte er, »aber ich kenne dich, Kapitän Pitou, ich kenn auch dich, Pächter Billot.«
»Richtig, er kennt uns!« sagte Pitou.
»Warum dieses finstere Gesicht, Billot?« fragte der Fremde. »Ärgerst du dich, weil deine Tochter Katharina . . .«
»Still!« unterbrach ihn Billot, der den Unbekannten beim Arme nahm, »davon will ich nichts hören!«
»Warum nicht?« erwiderte der Unbekannte, »wenn ich dir behilflich sein will, dich zu rächen?«
»Nun, das ist etwas anderes«, sagte Billot, zugleich erblassend und lächelnd; – »wenn es das ist, so sprich.«
»Und wie gedenkst du dich zu rächen?« sagte der Unbekannte mit seinem sarkastischen Lächeln. »Willst du eine kleinliche Rache nehmen und einen einzigen Menschen erschießen, wie es deine Absicht war?«
Billot wurde leichenblaß; Pitou schauderte, er hatte Mühe, seinen Schrecken zu verbergen.
»Oder willst du dich durch die Verfolgung einer ganzen Kaste rächen?«
»Jawohl, einer ganzen Kaste,« sagte Billot, »denn das Verbrechen des einen ist das Verbrechen des anderen, und der Doktor Gilbert, dem ich mein Leid klagte, antwortete mir: »Armer Billot! Was dir widerfährt, ist schon hunderttausend Vätern widerfahren!«
»So, das hat Gilbert zu dir gesagt?«
»Du kennst ihn?«
Der Unbekannte lächelte. »Ich kenne alle Menschen,« sagte er, »wie ich dich, Billot, wie ich Pitou, wie ich den Vicomte von Charny, wie ich Katharina kenne . . .«
»Ich habe dich schon gebeten, Bruder, diesen Namen nicht auszusprechen.«
»Warum denn?«
»Weil es keine Katharina mehr gibt.«
Der Unbekannte stand auf und bot Billot den Arm.
»Bruder,« sagte er, »wir wollen einen Spaziergang machen, während unser junger Freund seine Flasche leert.«
»Sehr gern,« antwortete Billot, »denn ich glaube zu erraten, was du mir anbieten willst.«
Nach kurzer Zeit kam Billot zurück und nahm seinen Platz am Tische wieder ein.
»Nun, Vater Billot,« fragte Pitou, »was gibt es Neues?«
»Das Allerneueste ist,« antwortete Billot, »daß du morgen allein abreisen wirst.«
»Und Ihr?« fragte der Nationalgarde-Kapitän.
»Ich?« sagte Billot. »Ich bleibe!«