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Vor zwanzig Jahren erstieg ich einmal nachts den Papandajan. Ich entsinne mich der Krater, der rötlichen Rauchsäulen, der Klüfte, der gelbglühenden Schwefeldämpfe, die uns umringten und einhüllten; der violetten, oft beinahe blauen, blaugrauen, purpurfarbenen Dämpfe dort oben, zu einer Stunde, die nicht mehr Nacht und noch nicht Tag war, und die doch nichts vom Morgengrauen verriet.
Ich weiß noch, wie anstrengend es war, und wie die behenden Pferdchen vor all dem Dämonischen, das sie witterten, angstvoll schnoben. Den Ausflug zu dieser wunderseltsamen Hexenküche haben wir nicht wiederholt. Wir haben diesmal nur angesehen, was wir von früher her noch nicht kannten: den Kawo-Kemodjan. Von Garoet ging es im Auto nach Tjiparai, und schon am frühen Morgen stiegen die drei Riesen – Papandajan, Goentoer und Tjikorai – mit ihren Abhängen aus den nach letzten Regenschauern langsam aufsteigenden Nebeln rings um uns auf. So wird der Wagemut belohnt, mit dem wir in Regen und Nebel aufgebrochen waren – und plötzlich entschädigte uns die klare Frühsonne, die wie das goldene »Auge des Tages« – Mata-Hari – auf uns schaute und uns zwischen den Bergpässen und Bergstraßen langgestreckter Täler entgegenlachte. »Tandoes« stehen bereit, und da ich sie sehe, bereue ich es fast, nicht doch lieber ein Pferd genommen zu haben, wenngleich das Reiten die Berge hinauf vielleicht eine ebensowenig ideale Art der Fortbewegung bedeutet, wie das Daherschwanken in einer von acht Kulis getragenen Sänfte. Ich habe auch einen psychischen Widerstand zu überwinden, ehe ich in einer ziemlich bequemen Sänfte Platz nehme, die, bambusgedeckt, zwischen zwei starken Bambusstäben befestigt, auf jeder Seite von vier schwitzenden Kulis getragen wird. Allein diese Kerle bleiben heiter, als wollten sie meine Skrupel hinweglachen, während sie ruckweise – so daß mein Magen in Aufruhr gerät – die engen Pfade emporklimmen, von denen aus die Schluchten vor meinen hinabstarrenden Augen in die Tiefe stürzen. Heiter bleiben sie, und hungrig sind sie, glaube ich; wenigstens stellen sie sich so, um hier an einem Warong, dort bei einer kleinen Tragküche den »Mandoer« rasch für ein paar Cents ein wenig »Lemper« kaufen zu lassen: das ist Reis, der in einem Pisangblatt gekocht worden ist – wie ein dicker viereckiger Brief sieht er aus. Und der »Mandoer«, der unbeschwert den Zug begleitet, reicht jedem Kuli rasch ein Lemperpäckchen, das dieser, während er die Sänfte weiterschleppt, gar behende mit einer Hand ergreift, worauf er den Inhalt verzehrt.
Ich versuche meine sozialen Skrupel zu bekämpfen, die aus der neuzeitlichen Idee von der Gleichberechtigung aller Menschen herzuleiten sind. Es ist ja nun doch einmal nichts an der Tatsache zu ändern, daß ich mich von acht Kulis schleppen lasse. Sie schwitzen, sie keuchen, sie schleppen, sie lachen – ich plaudere mit ihnen; sie sind nicht unfreundlich – und doch wünschte ich, daß ich auf einem Pferdchen säße! Auch das wäre, wie ich schon sagte, nicht gerade ein Vergnügen, aber in dieser Sänfte werde ich wie ein willenloses Bündel hin und her geschüttelt, und es ist mir, als säße mir der Magen bereits an der Kehle! »Dalek« rufen die Kulis von Zeit zu Zeit – das heißt soviel wie »wechselt um!«, und dann legen sie die Bambusstöcke von der linken auf die rechte Schulter oder umgekehrt. Ein Ruck, eine heftige Erschütterung, und die Bambusstöcke sitzen auf der ausgeruhten Schulter. Nach einer Weile ruft wieder einer, den die Schulter schmerzt, »Dalek«, und mit Ruck und Erschütterung wird mein Schwergewicht von neuem verlegt.
Wenn es nicht durch den Urwald ginge, würde ich es nicht aushalten. So aber hält mich einerseits das Geheimnis dieser Wildnis und andererseits der Abgrund gefangen. Ich beobachte den herrlichen Kampf eines jeden Blattes, eines jeden Zweiges gegen andere Blätter gegen andere Zweige. Was am stärksten wächst, bleibt siegreich. Jeder Baum, jede Pflanze kämpft gegen einen anderen Baum, gegen eine andere Pflanze. Bäume stehen wie Mann gegen Mann, Äste lassen ihre Muskeln schwellen, Arm beugt sich gegen Arm, Blatt stemmt sich gegen Blatt. Jedes Blatt, jeder Zweig will sich seinen Platz an der Sonne erobern. Schattenflecke scheinen mir wie dunkle Spuren dieses Kampfgetobes, ebene Stellen wie das jubelnd erkämpfte Feld der Schlacht. Die Sieger erobern sich ihren Platz an der Sonne, die Besiegten sterben am Wegesrand. Dunkelschattig breiten sich die düsteren Kampfgefilde aus. In Glanz und Glorie jubeln, sonnengolden, die Sieger an den Hängen der Berge. Wunderschöne Vögel singen dort ihre Jubelhymnen, allerlei Getier und Schlangenbrut windet sich zwischen den hinsterbenden Stämmen, den faulen Blättern. Dieses Chaos des Urwaldes, nur von einer Brise bewegt, zeugt von dem stillen Kampf der Bäume und Pflanzen, der kaum mit Ohren zu hören, kaum mit Augen zu schauen ist.
Dort drüben haben die Farne in leuchtender Kraft gesiegt. Aus ihren Stielen schießt es wie gekrümmte Stäbe empor und entfaltet sich zu Riesenblättern einer tertiären Pflanze, die wir daheim gewöhnlich nur in der entarteten Miniaturform kennen. Die Baumfarne triumphieren; sie füllen ganze Schluchten, sie bilden ganze Wälder. Vorüber an den Sawahs und Fischweihern ziehen wir mit ihnen empor, stets weiter empor. Dann liegt der Urwald hinter uns. Neue Aussichten: Wolken im Äther, rauchende Krater, Dampf von Feuern, die Menschen entzündeten. Das alles wird hier und dort sichtbar, verflüchtigt sich wieder. Vergänglicher Nebel aus Rauch und Wasser, Schwefelgeruch allenthalben. Dort rauchen die Krater. Wir verlassen die Sänften. Blau, grau, blaugrau und gelb ist die durch den Schwefel oxydierte Erde, ist das Gras, ist der Boden, sind die Felsen, sind sogar die vorher so sieghaften Farne, die nun schlaff, wie sterbend, herabhängen. Nun sind wir wiederum in einer Hexenküche. Wie aus weiten Mäulern wilder Tiere, wie aus dem Rachen sich bäumender Hydren speit hier die vulkanische Erde zwischen Fels und Grotte Schlamm und unerträgliche Dämpfe aus. Der Schlamm siedet, zischt, kocht, steigt, fällt; der Fuß versinkt, verschwindet in diesem zähflüssigen, kaum geronnenen Schlamm.
Blaugrau breitet sich das Schwefelmeer gleich einem Höllenpfuhl. An jedem Grashalm weißer, grauer, blauer Niederschlag. Wir trotzen den Hydramäulern und wollen sie mit Erdklumpen zustopfen. Da plötzlich bebt die Erde unter unserem Fuß, läßt uns wanken und schwanken, und wütend speit der Hydrarachen fürchterliche Schlamm-Massen aus, die sieden und stinken. Solche Wut nur deshalb, weil wir dieses Maul stopfen wollten?
Wie lebhaft rufen diese vulkanischen Erscheinungen, obwohl sie vielleicht keine unmittelbaren Gefahren und Umwälzungen mehr fürchten lassen, in uns die Vorstellung alles dessen wach, was dereinst, als die Berge rasten und die Erde sich abgrundtief spaltete, hier geschehen sein mag.
Wir gehen zurück. Die Tandoes sind mittlerweile wie kleine Lauben mit grünen Gewinden und Blumen geschmückt. Die Kulis tun das weniger deshalb, weil sie dem, den sie tragen, huldigen wollen, als weil sie hoffen, ein reichliches Trinkgeld zu bekommen. Welcher Reisende vermöchte auch solcher Kranz- und Blumenhuldigung zu widerstehen? Und wie geschmackvoll sie das gemacht haben! Nun geht es wieder abwärts durch den Urwald, den Bergweg hinunter, immer fort auf ihren wiegenden Schultern. Die Mittagsglut gibt Schwüle. In den Zweigen der riesengroßen Kanarienbäume dort drüben hocken menschengroße Affen, die Loetongs. Sie schauen zu uns herüber. Hin und wieder wird im Schatten ihre Gestalt und ihre Farbe eins mit der mächtigen Vegetation, die sie umgibt. Dann plötzlich springen sie jählings auf. Die Äste krachen, Blätter regnen herab. Sie jagen von Ast zu Ast, und erst jetzt sehen wir, wie ungeheuer groß ihre sich so hinüberschwingenden Körper mit den langen, greifenden Armen sind.
Hier halten sich noch hin und wieder Tiger und Panther verborgen. Zu mittäglicher Stunde bleiben die wilden Tiere unsichtbar. Helles Licht dringt durch die Blätter. Wie wundervoll und großartig ist dieser Augenblick in solcher Umgebung! Kaum empfinde ich noch die Unbequemlichkeit der Sänfte, in der ich bei dem jetzt rascheren Abwärtssteigen noch mehr durcheinander geschüttelt werde. Wenn die Sonne plötzlich grell durchbricht, sehen wir rote, gelbe, blaue Vögel mit ganz unwahrscheinlich leuchtenden Farben, sich von Ast zu Ast schwingen.
Nun wir uns dem Kampong nähern, wo wir aussteigen wollen, hören wir sehr seltsame »Randoek«-Musik. Doppelflöte, mehrtönige Rohrflöte – wie antik, wie pastoral muten diese primitiven Instrumente an! Dazu ein langes, hohles Bambusrohr, dem ein hindurchgestoßener Stock zwei, drei begleitende Töne entlockt. Und dann vor allem zwei an einem Gestell hängende, mit Gewichten beschwerte Bambusstämme mit geschnitzten Masken aus schwarzem Holz als Zieraten: der »Fürst« und die »Fürstin«. Sie werden auf und ab, hin und her gerüttelt und geschüttelt. Das alles gibt ein eigenartiges ländliches Konzert. Und zu Ehren der Reisenden und in der Hoffnung auf Trinkgeld wird ein Bockskampf veranstaltet: schöne, starke, junge Böcke, weiße, schwarze und schwarzweiße, rennen mit ihren harten Köpfen gegeneinander und »werfen« einander wie Ringkämpfer.
Das Bagendit-Meer erscheint ein wenig wie für Ausflügler zurechtgemacht, kommen doch aus Amerika und Australien immer mehr Reisende nach Java; ganz anders das stillere Pendjaloe-Meer, das wir von Gaoet aus besuchen. Über der großen Insel Noesa-Gedeh liegt eine stille Stimmung. Dort stehen, nie gestutzt, in üppigstem Wuchs Bäume, in denen es von Bètès – grünen Papageien – wimmelt. Selbst die Kalongs, die entsetzlichen, gespenstischen Fledermäuse, die tagsüber reglos wie große schwarze Früchte an den durch sie ihrer Blätter beraubten und mit der Zeit absterbenden Bäumen hängen, tragen das ihre dazu bei, dem Eiland diese seltsam beklemmende Stimmung zu geben. Noesa-Gedeh – das »große Eiland« – ist »kramat« (heilig). In früheren Jahren wohnte hier der Regent. Sein Regentenhaus – »Kaboepaten« – steht nicht mehr. Er selbst aber hat sich mit seinen Blutsverwandten hier begraben lassen. Die alten, völlig bemoosten, nach mohammedanischer Art angelegten Gräber liegen, wie bedeckt von altem gelben und grünen Samt, tief im Schatten hoher Bäume. Des Nachts spukt es auf diesem Eiland, in diesem dichten Walde und über diesen Gräsern. Immer wieder bemerkt man neue; hier, dort: sie sind eins geworden mit der Farbe des feuchten Bodens, mit Moos und Humus, und haben kaum ihre schmale, längliche Form mit den zwei nur wenig herausragenden Erhöhungen bewahrt, die dereinst herausgearbeitet waren, nun aber moosüberwuchert am Kopf- und Fußende kaum noch sichtbar sind. Während unser überdecktes Floß auf dem stillen Wasser weitergleitet, stoßen die Ruderer schrille Rufe aus; ängstlich wollen die Kalongs auffliegen. Allein sie flattern nur schwerfällig ein wenig empor und hängen dann gleich wieder schlaff, schwarz und unzählbar an den entblätterten Zweigen und warten, bis die Dämmerung hereinbricht.
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Dies alles birgt etwas von jener Wehmut in sich, die so manche javanischen, im Binnenland verborgen liegenden Orte zu wecken vermögen. Man kann das kaum in Worte fassen; es ist, als hätte unsere Sprache kein Mittel, die Stimmung an solchen seltsamen Orten zu kennzeichnen: da hilft weder »heilig« noch »geweiht«; es ist »kramat«, und nur dieses unübersetzbare Wort vermag etwas von der seltsamen Empfindung wiederzugeben, die ein Eiland wie Noesa-Gedeh im Pendjaloe-Meer auslöst.
Wir übernachteten im Pasangrahan, von dessen Vordergalerie der Blick über Meer und Eiland schweifte. Drüben stand der weiße Zaubermond am hellen Himmel, wie ein großes, bleiches Antlitz, das uns anstarrte. Im Wasser, auf dem die Blumenblätter der Opfergaben treiben, die hier in viereckig zusammengefalteten Pisangblättchen den Schatten der Abgeschiedenen dargebracht werden, spiegeln sich der weiße Himmel und das weiße Licht wider. Alles ist unvergleichlich still. Kein Bètèt ruft vom Eiland herüber. Ein letzter Kalong flattert mit müdem Flügelschlage davon. Die entblätterten Bäume, in denen die Fledermäuse tagsüber hingen, heben sich mit ihren nackten, schwarzen Zweigen gegen den farblosen Nachthimmel ab. Drüben, jetzt nicht mehr zu erkennen, sondern nur noch zu erraten, weil wir davon wissen und unsere Phantasie uns hilft, liegen die vielen Gräber der Regenten und derer, die ihnen lieb waren.
Kein Laut, nicht der leiseste Hauch eines Windes, nicht einmal eine leichte Bewegung des Wassers.