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Wir sind nun schon mehrere Tage Gäste im Hause des Herrn Westenenk, Gouverneurs der Ostküste von Sumatra. Die Eindrücke, die ich unter der Führung meines Gastgebers empfangen durfte, sind überwältigend reich: ich will versuchen, sie in meiner Erinnerung zu ordnen und sie dann in Worten neu erstehen zu lassen.
Wir stehen am Beginn der Regenperiode. Kein blauer Himmel, kein ewig ungetrübter Azur. Über uns ein schweres Grau, hinter dem alle Schätze der Regenwolken aufgespeichert zu sein scheinen, die sowohl den Menschen wie der Natur so wohltätig sind. Feuchter Nebel treibt in Schwaden umher. Es tropft nicht, es nieselt nicht. Anscheinend wissen die Regengötter im Himmel des Ostens besser als die hinter westlichen Himmeln das Herniederströmen der wohltätigen Wasser zu regeln. Darum gießt es nun, wie es in dieser Jahreszeit gießen muß. Das Wasser stürzt aus dem Himmel herab. Die Götter der Passatwinde schütten volle Kannen und Schalen aus. Das gibt einen weißen, schäumenden Regenwasserfall, windgepeitschte, starke, tosende, weiße Ströme. Alles trieft. Die Flüsse schwellen an und brausen daher. Gras und Erde sind durchtränkt. Bäume und Pflanzen baden sich und atmen tief auf und schlürfen mit Zweigen und Wurzeln, mit jedem Blatt, mit jeder Faser den üppigen Wassersegen ein. Reichtum, Überfluß, wie überall im Osten. Es regnet eine Stunde, es regnet viele Stunden. Nicht immer bricht dann gleich die Sonne durch. Die Regengötter, die dort oben gar eifrig sind, sammeln neuen Vorrat, füllen ihre grauen Wolken, bis sie zu riesengroßen Wassersäcken anschwellen, füllen ihre Kannen und Schalen; ist dann alles bereit, so gießen sie von neuem Kannen und Schalen über die unersättliche Erde aus, öffnen wiederum die geschwollenen Wassersäcke und lassen die weißen Sturzfluten herniederströmen.
Dieser Regen ist eine Naturerscheinung von geradezu epischer Größe. Nicht dumpfe Melancholie weckt er, wie an nordischen Gestaden. Eine überwältigende, herrliche Kraft liegt darin, wie sich dieser Reichtum aus dem Himmel über eine Erde ergießt, die sonst verkümmern müßte. Der Zeitpunkt, zu dem sie in neuer Üppigkeit ersteht, ward von den Göttern glücklich gewählt. Die Stunde des Beginns dieser neuen Fruchtbarkeit schlägt in Sumatra etwas früher als in Java – ich erinnere mich sehr wohl, daß der Tag der Regen dort im östlichen Winkel von den Regengöttern auf den 5. Dezember angesetzt war. In Deli schlägt diese gesegnete Stunde bereits im Oktober. Die schmucke weiße Stadt Medan, mit ihren eleganten weißen Gebäuden und Villenvierteln, liegt wie unter einer Dusche. Hier ist es niemals so schmutzig und häßlich, wie bei Regenwetter in den Städten oder auf dem Lande im Westen. Das prächtige Laub der Kokospalmen, die üppige Nadelpracht der Tamarisken, die breiten, atlasglänzenden Blätter der Bananen: alles hat eine leuchtend grüne Farbe angenommen; es ist, als berge sich Gold unter diesem Grün. Die Zikaden lassen unaufhörlich ihren Jubelruf ertönen, die Grillen fiedeln auf ihren schrillen Geigen. Die rosigen und roten Blüten des Hibiskus und Waroe, die gelben des duftenden Oleander sind zwar vor der Gewalt des Regens gefallen, doch sobald der Regen nachläßt, erblühen alle Knospen gleich zu neuer Pracht, so daß es Welken und Absterben niemals gibt. Denn lebenweckende Götter haben diese Wechselerscheinungen in dieser Natur, in dieser seltsamen Welt geregelt und halten die Herrschaft darüber in Händen.
Seit der Pajong – der Sonnenschirm – als Symbol der Autorität, gold und weiß, silber und weiß, grün und weiß, geschlossen oder geöffnet, von einem »Oppas«, einem Bedienten, nachgetragen, über oder hinter den Kopf des Beamten gehalten, abgeschafft wurde, hat auch dieser selber etwas von seinem Glanz und seiner Glorie eingebüßt. Doch der Glanz und Pomp, die Vornehmheit, die einen hohen Beamten in Deli, in Medan umgibt, hat sich daher ungefähr in der alten Form erhalten. Ein Palast wie der des Gouverneurs der Ostküste von Sumatra in Medan ist ein großartiger Bau, von dem sich der Europäer, der den Osten nicht kennt, keine Vorstellung machen kann. Medan ist die weiße Stadt zwischen grünen Bäumen und grünen, sorgfältig gepflegten und geschorenen Rasenflächen. Und in seinem Park – ich sage absichtlich Park, obwohl es kein indisches Wort ist und man hier nur von dem schönen »Garten« um das Gouverneurshaus spricht – liegt geschützt und verborgen der zweistöckige Palast – ja, ich betone: der Palast, und das ist nicht übertrieben – mit seinen feinen, weißen Umrissen, die hinter Tjemara-, Fikus-, Palm- und Tamarindenbäumen halb versteckt sind. Das alles ist von einer großzügigen Vornehmheit und stets zu offiziellen Empfängen bereit. Durch einen Portikus fahren die Autos ein. Zu beiden Seiten ziehen sich gleichmäßig große, säulengetragene Vorhallen hin. Eine Mittelgalerie führt als breiter Gang zu der sehr geräumigen hinteren Halle, die ganz offen, hoch und weit zwischen ihren Säulen daliegt und trotz ihrer ungeheuren Dimensionen einen behaglichen Speisesaal und Wohnraum bildet. Zu beiden Seiten der mittleren Galerie liegen die Wohnräume und Bureauräume; die Schlafgemächer des Gouverneurs und seiner Familie befinden sich im ersten Stock. Das Gebäude mit den Fremdenzimmern ist, wie sehr häufig in den Residenzhäusern in Indien, ein besonderer »Pavillon« (dies ist das richtige Wort), zu dem von der hinteren Halle aus ein überdachter Gang führt. Alle Räume, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Diele, Badezimmer, sind groß und bequem, und der Gast kann sich, wenn es ihm beliebt, zurückziehen, so daß er seinem Gastgeber nicht im geringsten zur Last fällt.
Die Nebengebäude verbergen sich hinter Hecken aus chinesischem Bambus und blühendem Hibiskus. Der Deli fließt, hoch angeschwollen, hinter dem Garten vorüber und schimmert im Mondenschein, hin und wieder auch im Regen, wie mattes Silber. Ein paar Hirsche irren am Ufer entlang. Ein Papagei plappert allerlei freundliche Worte, doch wenn man ihm nicht antwortet, kann er auch sehr böse werden. Einige Bediente – nicht so viele, wie ich früher in solchen Häusern gesehen zu haben glaube (auch hier Dienstbotennot?) – gleiten leise auf nackten Sohlen umher und verrichten ihre Arbeit oder bedienen den Gast mit der ruhigen Grazie und vornehmen Art, die gute javanische Bediente in solcher Umgebung stets zur Schau tragen. Man hört sie nicht, man sieht sie kaum, und doch ist stets alles in so tadelloser Ordnung, daß jeden Augenblick ein großer offizieller Empfang stattfinden könnte. Ich weiß diese Großzügigkeit im Leben unserer hohen Beamten zu schätzen, und sie war mir nicht überraschend, denn ich hatte schon vor Jahren Gelegenheit, sie in den Residentenhäusern auf Java kennenzulernen. Unsere demokratische Zeit scheint also doch nicht mit jeglicher Vornehmheit und Schönheit der Lebenskunst im täglichen Leben aufgeräumt zu haben. Stets sind ein paar Polizeibeamte neben den Bureaus des Gouverneurs stationiert. Sie stehen höflich auf, sobald der Gast auf seinem Wege vom Pavillon zur Hintergalerie an ihnen vorübergeht. Die Fahnenstange stand früher vorn im Garten; jetzt flattert die Fahne oben auf dem Hause.
Sumatra ... ich müßte mindestens ein Jahr lang hierbleiben, um Sumatras Vergangenheit und Gegenwart auch nur einigermaßen kennenzulernen. Aber ich habe nur drei Wochen! Was kann ich in so kurzer Zeit sehen, und was vermag ich dann meinen Lesern zu beschreiben? Ich bin in Medan, dem Hauptort und Zentrum verschiedener Petroleum-, Kautschuk-, Tabak-, Tee-, Öl-, Kaffeeunternehmungen. Hier findet alle erfolgreiche Bemühung und Arbeit des Europäers ihren vollkommensten Ausdruck. Ich möchte von Belawans neuem Hafenwerk erzählen. Ich möchte auch von dem erzählen, was der Europäer hier alles tun und unternehmen will. Aber im Augenblick zeigt sich mir Sumatra erst mal als uralter Grund und Boden, als das legendenumwobene Eiland, dessen Sagengeschichte noch bis über Alexander den Großen, den Vorvater aller malaiischen Fürsten, zurückreicht, die ihn Iskander Dsoelkarnain, den Doppelhörnigen, nannten; zurückreicht bis in jene fernen Jahrhunderte, da aus Hinterindien vorderindische Stämme die Halbinsel Malakka verließen und südwärts zogen und sich auf Sumatra niederließen, wo sie keinen Autochthonen Rechenschaft für ihr Tun schuldig waren. Diese uralten Stämme, die, um der arischen Herrschaft zu entrinnen, nach Kambodscha (Kmer) entflohen, brachten dorthin, wo sich später Bangkok erhob, allerälteste vorderindische Kultur an die Ostküste von Sumatra nach Java. Die Bataks auf Sumatra stammen nach der Ansicht des Herrn Westenenk von diesen »Negritos« ab, kleinen, kraushaarigen, schwarzen Kannibalen. Diese »Negritos« hatten jene tätowierten Gesichter, wie man sie bei den Hindus in Deli noch heute findet. In Medan gibt es zwei Hindutempel, die wir uns ansehen wollen: in ihnen walten Brahmanen, deren Kopf und Brust mit allerlei Symbolen rot und grün und weiß tätowiert sind, ihres Dienstes.
Während mein Gastgeber mir von all diesen Dingen erzählt, die er mit viel Liebe und Wissen ergründet hat, und deren Wesentlichstes ich hier nur andeuten kann, bricht der Abend herein. Wir haben es draußen bei unserem Whisky mit Soda nicht einmal bemerkt. Plötzlich läßt uns ein Schlag erschrocken auffahren: das ist ein Iltis, der sich von seiner Lauer aus auf eine uns unsichtbare Beute stürzt. Der Papagei kreischt auf. Es ist nun völlig dunkel geworden. Die zarten, dunklen Umrisse der Waringins und Mangabäume heben sich von einem geheimnisvoll fahlen Himmel ab. Eine große Kröte – »Kodok-Bangkok« –, wie sie auch hin und wieder einmal in ein Haus kriecht und sich hinter irgendeinem Möbel versteckt, stößt ihren Schrei aus und ruft: »Mehr Regen!« Sie prophezeit: »Mehr Regen!« Hoch über den Wolken sind die Wassergötter schon wieder dabei, ihre Wassersäcke zu füllen. Ein geheimnisvoller, indischer Abend. Kein Stern. Beklemmende Schwüle – wie ein drückendes Geheimnis. Dann plötzlich schwerer Duft von Weihrauch – »Doepa«. Es ist Donnerstag abend, und da wird die Doepa verbrannt, weil man sich auf den Freitag, den heiligen Tag der Woche, vorbereitet. »Ich liebe diesen Geruch nicht,« sagte Herr Westenenk, »er erinnert mich zu sehr an jene Zeit in Fort-de-Kock, da in Padang religiöser Wahnsinn einen Aufruhr entfachte und ich eine tolle Menge, die ›laillah Allah‹ rief und bereit war, mit verkrampften Fingern alles zu zerreißen, was ihr in den Weg kam, in der Mondnacht auf mich zutanzen sah.« – Der Doepaduft ist fast betäubend. Alles ruhig und still, beinahe weihevoll und voll beklemmenden Geheimnisses. So ist der indische Abend, der nun um den großen, weißen Palast hereingebrochen ist. Rings um uns liegt die Stadt in abendlicher Stille. Über die Wege rasseln die letzten Grobaks, Karren, die von weißen Ochsen gezogen werden und wie Häuschen mit Palmblätterdach aussehen. Dies ist der indische Abend, durch den der große »Kalong«, der fledermausartige, große Vogel, jagt. Gleich einem Dämon flattert er ganz dicht über unseren Köpfen. Dort drüben in der Stadt liegt das Hotel de Boer: ein großer Komplex weißer Gebäude, hellstrahlendes elektrisches Licht, gedeckte Tische, Scherz und Heiterkeit. Es ist »Hari-besar«, da sind die Kulis ausgezahlt worden und haben einen freien Tag, und die Pflanzer sind in die Stadt gekommen und speisen nun dort drüben mit ihren Damen: das gehört nicht zum »indischen Abend«, das ist vielmehr eine rein europäische, mondäne Angelegenheit ...
Und weiter breitet sich der Abend geheimnisvoll über die Stadt, den Fluß, den prächtigen Palmenweg von Belawan, den Weg, der zwischen Djatibäumen nach Padang Boelan führt. Und ich habe ihn so empfunden, wie ich ihn stets empfand – als Kind schon; und auch in späteren Jahren –, unergründlich, unantastbar, ein Rätsel, dicht umschleiert, wie eine unsichtbare Gottheit, die über uns schwebt ... Währenddessen erzählt mein Gastgeber von den Orang-Boenian, den zarten Geisterfrauen, die sich zuweilen mit irdischen Männern vermählen, und von den Orang-Aloes, ganz durchsichtigen Wesen, seinen allzeit umherschweifenden Schattengebilden. Dann, gegen neun, beginnt das Diner. Die große Kröte hüpft hinein, kleine Eidechsen, Männchen und Weibchen, die sich an der Decke festklammern, rufen einander ein verliebtes: »tjö, tjö!« zu. »Tjokok« ruft die Kröte und kündet so Regen, stets neuen Regen! Spatzen, die irgendwo hoch oben im Kapitell einer Säule nisten, gehen schlafen. Feierlich treten die Diener mit Schalen und Schüsseln herein, wie zu einer Zeremonie.