Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Schalmeienspieler, der so schön seine Sroenai zu blasen wußte, daß er von Kampong zu Kampong zog und allen Bekümmerten seine Weisen vorspielte, war noch jung. Gleichwohl sah er schon aus wie ein ganz alter Mann. So früh gealtert war er, weil er mit seiner Flöte gar vielen Kummer vieler Menschen in vielen Kampongs hinweggeblasen hatte. Und all der Kummer all der anderen hatte sich auf ihn selber herabgesenkt.
Wollte er in der Dämmerung auf seiner Sroenai spielen, so brachte er sich ein »Bantal-tikar« mit, ein Kopfkissen, das er in seine kleine Matte eingerollt trug, und legte sich unter die Palmen am kleinen Weiher, als wäre er ganz müde, und spielte – denn nur im Liegen vermochte er so schwermütige Weisen zu spielen. Und sein melancholisches Spiel, das er aus dem Kummer gar vieler schöpfte, vertrieb für Tage die Trübsal der Zuhörer, die ihm nächtelang andächtig lauschten. Er selber ward, so jung an Jahren, nach solchen Nächten immer wieder um vieles älter und trauriger – denn wiederum hatte sich dann das Leid vieler auf ihn herniedergesenkt.
Heute will ich von einem Besuche erzählen, der mich tief erschüttert hat. Die Geschichte wird, denke ich, gar manchen meiner Leser rühren, andere vielleicht abstoßen. Aber wie dem auch sei: mich dünkt es Pflicht, von jenem Besuch zu berichten, den ich Laoe-si-Momo abgestattet habe. Dieser Name bedeutet etwa: »Wasser, das Blasen aufwirft.« Ich will von dem Dorfe erzählen, das ich sah: von Koeta-Keriaken, dem »Freudendorf«.
Dieses »Freudendorf« ist eine Siedelung von Aussätzigen. Es liegt in einem weiten Tal mitten in den Bergen, und als wir dort anlangten, spannte sich blau der Himmel über das sanftere Blau der Berge. Grün und golden schimmerte das Laub von Bananen und Palmen, just so wie in den Landen, da keine Aussätzigen wohnen. Hier aber, in diesem Dorfe, diesem »Freudendorfe«, wohnen alle Aussätzigen beieinander, und leuchtender Glanz der Sonne und des Himmels liegt über ihnen wie über allen anderen.
Mir ist die Arbeit der Missionare nicht durchaus sympathisch. Ich hege die Überzeugung, daß die christliche Religion wegen ihrer für primitive Menschen unbegreiflichen, unfaßlichen Grundlehre: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, diesem Worte des Herrn, auf das letzten Endes seine ganze Lehre gegründet war, nicht für Leute geeignet ist, die nicht schon seit Jahrhunderten fühlen und denken gelernt haben. Aus dem Fetischismus, aus dem Animismus (Ahnen- und Seelenkult) ohne jeden Übergang, ohne jegliche die Seele erhebende Anbetung der Naturgottheiten in die reine Verstandes- und Gefühlswelt des Christentums einzudringen, erscheint mir für die primitive Seele geradezu unmöglich. Und sehe ich dann, daß es trotzdem erreicht worden ist, so scheint mir das »angelernt«, aber weder empfunden noch verstanden.
Jedoch alle diese Einwände, alle diese Bedenken waren verschwunden an jenem sonnigen Morgen, da ich die Lepra-Krankensiedelung in Laoe-si-Momo besuchte und sah, was Herr van den Berg im Jahre 1906 dort begonnen und Herr van Eelen seither fortgeführt hat – zur Genesung und zum Heile einer weit ausgedehnten Kolonie von Mitmenschen, die an jenem Leiden kranken, auf das der Gesunde seit den ältesten Zeiten nur voller Furcht und Abscheu zu blicken vermag. Schon im Jahre 1802 war der Vorschlag gemacht worden, Missionare nach Deli kommen zu lassen. Es war äußerst wichtig, die Bevölkerung so weit zu einer höheren Moral heranzubilden, daß sie nicht mehr mordete und sich keiner Brandstiftung mehr schuldig machte. Denn die Bataks, die Karoe-Bataks in diesen Karoe-Ländern, verhielten sich allem europäischen Wesen gegenüber gar feindselig.
Es ist ein ganz eigenartiges Volk, auf das die mohammedanischen Malaien, und insbesondere die Javaner, sehr verächtlich herabsehen. Sie sind vorwiegend »Animisten«; sie verehren die Seelen ihrer Vorfahren. Eigentliche Gottheiten kennen sie nicht. Ihre »Sjamanen« (Priester) können eine göttliche Seele in sich hineinrufen. Und die Sjamanen-Frauen tanzen in höchster Verzückung mit Schlangen, winden sich selbst gleich ihren Schlangen. »Goeroes« (Lehrer, hier: Zauberer) deuten Geschicke aus alten Zauberbüchern oder aus den Eingeweiden geopferter Hühner. Ihr Charakter ist von dem der übrigen Malaien sehr verschieden. Sie sind geistreich, was man von den Malaien im allgemeinen nicht gerade behaupten kann. Sie sind gute Redner und – berühmte Schachspieler. In Medan gibt es einen Schachkönig: Si-Narsar. Das Schachspiel, das aus Vorderindien stammt, ist uralt. Sie haben Sinn für Humor. Sie sind voller Dünkel, dabei aber sehr begabt. Im übrigen sind sie Sänger, Tänzer, Dichter, Erzähler. Weniger angenehm zu vermelden ist, daß sie häufig geradezu widerlich unsauber sind. Man kann sich nur sehr schlecht in einigermaßen gewählten Ausdrücken darüber aussprechen, aber ich muß es doch erwähnen, wenn ich einen Besuch im Batak-Kampong schildern soll. Das Schwein, das dem Moslem als verabscheuungswürdig gilt, und der Hund sind bei ihnen Haustiere, und noch mehr als das!
Unter diesem Volk nun brach die Lepra aus. Jeder Aussätzige wurde aus dem Dorfe verstoßen; er irrte umher und starb vor Hunger und Elend. Herr van den Berg begann damit, hier und da kleine, niedrige Bambushütten zu bauen, in denen diese Unglücklichen vor Sonne und Regen Schutz finden konnten. Ihre Angehörigen sollten ihnen Nahrung bringen. Vergaßen sie das, so rotteten sich die Aussätzigen zusammen und zogen in einer Hungerrevolte durch das Land. Und dieses prächtige Land voller Sonne, voll goldener und grüner Bäume war nun erfüllt von diesem düsteren Elend, dieser entsetzlichen Qual.
Die Bataks waren Kannibalen, waren es noch bis vor kurzem. Es heißt, noch im Jahre 1907 sei Menschenfleisch auf den Markt gebracht worden. Diebe und Ehebrecher wurden an einen Pfahl gebunden, sie bekamen einen Stich in den Rücken, und ihr Leib wurde noch zuckend, halb lebend, in Stücke gehackt und verschlungen. Im Krieg, der hier allezeit zwischen Dorf und Dorf herrschte, tötete der Kämpfende seinen verwundeten Kameraden vollends und verspeiste ihn. Backe und innere Handfläche galten als besondere Leckerbissen. Ich besitze die Photographie eines alten Mannes, der noch Menschenfleisch verzehrt hatte, und es laufen deren noch viele herum. Das Alter wurde hier nicht geehrt. Ihren alten Vater oder Großvater zwangen die Söhne, auf einen Baum zu klettern. Dann schüttelten und rüttelten sie an den Ästen und sangen dazu: »Die Frucht ist reif, die Frucht ist reif!« Wenn der alte Mann dann endlich von dem Baum herunterfiel, wurde er getötet, vielleicht gar verschlungen. Sein Schädel aber ward voller »Frömmigkeit« in einer Art von Käfig in dem Baume verwahrt.
All diesen Greueln haben die Missionare ein Ende gemacht. Wer vermöchte da für sie anderes zu empfinden als Bewunderung? Alle Bedenken müssen vor der christlichen Größe ihrer Tat schwinden. Auch der heilige Franziskus von Assisi trat unter die Aussätzigen, um sie zu trösten: ich vermag unsere Missionare nur mit dem Größten aller Christen zu vergleichen.
Dreihundertundvierzig Kranke leben hier zusammen, zweihundert wurden getauft. Auf sie hat der Herr Jesus Christus darum besonderen Eindruck gemacht, weil er die Aussätzigen heilte. Das Weihnachtsfest ist für diese Menschen etwas Großes und Heiliges. Aber über das Rote Meer, das Pharao verschlang, und über den kleinen David, der den Riesen besiegte, grinsen sie voll grausamer Freude.
Andere Lepra-Stationen – es gibt auch eine am Deliflusse bei Laboehan – sind mit Stacheldraht umzäunt. Hier ist kein Stacheldraht, nur ein Strich ist über den Boden gezogen, und diesen Strich überschreiten die Aussätzigen nicht. Hier heiraten sie auch untereinander. Sie dürfen sich miteinander vermählen, wenn sie nicht allzu nahe verwandt sind. Der Dorfälteste entscheidet in solchen Fällen. Wenn sie noch Hände und Füße haben, mögen sie heiraten. Manche aber haben keine Hände und Füße mehr, sondern nur noch Stümpfe.
Armut gibt es hier nicht. Alle haben ihr Stückchen Land, und die Angehörigen verabsäumen es auch nicht, ihnen, soweit es nötig ist, Nahrung zu bringen. Hin und wieder genesen auch Kranke. Als einmal vier Patienten aus der Lepra-Station als geheilt entlassen werden und in ihr Dorf zurückkehren sollten, baten sie flehentlich, man möge sie doch in der Station lassen.
Wir besichtigen den »Kedai«, den Laden, wo sie etwas erstehen können. An der einen Seite kaufen die Gesunden, an der anderen die Kranken. Den Strich überschreiten sie nicht. Das Geld, mit dem sie zahlen, wird sofort desinfiziert. Der Laden war eben erst eröffnet worden. Jetzt wird eine kleine Kirche gebaut. Auf achtzig Familien entfallen hier nur vier Kinder. Die Fruchtbarkeit der aussätzigen Frau ist sehr gering, obzwar das Triebleben dieser Unglücklichen sehr stark und rege ist.
Nun sehen wir sie. Sie wissen, daß Fremde gekommen sind, und sie erkennen den Gouverneur, der oft hierherkommt und sich um die Lepra-Station sehr angelegentlich kümmert. Sie grüßen uns; grüßen mit ihrem langgezogenen: »Tabe – Sei gegrüßt!« – den Herrn van Eelen, der zu ihnen allen wie ein Vater ist. Aus ihrem Gruß spricht Dankbarkeit. Ihre unförmigen Gesichter, die oft breit sind wie Löwenköpfe, sind erst sehr ernst, entspannen sich dann aber in einem Lächeln, das einem ins Herz schneidet.
Nur direkte Berührung kann zur Ansteckung führen; bei einem flüchtigen Besuch besteht absolut keine Gefahr – so gehen wir durch das Dorf. Die Schar der Aussätzigen begleitet uns. Sie alle sind dunkel gekleidet; sie tragen das Indigoblau der Batakleute. Stets achten sie darauf, daß sie nicht zwischen uns und dem Winde stehen, auf daß der Wind nichts von ihnen auf uns übertrage. Geht die Luft aus anderer Richtung, so drängen sie rasch nach der entgegengesetzten Seite. Die Unglücklichen! Ihre Augen lassen nicht von uns. – Sie arbeiten. Ein jeder von ihnen besitzt sein Stückchen Land. Sie verrichten auch die erforderlichen Schmiedearbeiten. Sie möchten immer hierbleiben, sagen sie, denn ihr Heimatdorf steht bei ihnen nicht in gutem Angedenken. Als sie ausgestoßen wurden, gingen ihnen die Gesunden oft genug mit Äxten zu Leibe. Sie zeigen die Wunden, die ihnen solche Grausamkeit ihrer Angehörigen geschlagen hat. Nein, hier wollen sie lieber leben und arbeiten. Fallen ihnen die Hände ab, so lassen sie sich ihre Werkzeuge an die Stümpfe binden. Drüben sehe ich einen Mann, der buchstäblich über den Boden kriecht; die Füße sind ihm allmählich ganz abgefallen. Noch immer verfertigt er Vogelbauer und Strohhüte. Das sind menschliche Wesen, menschliche Körper – und rings um ihr düsteres Elend leuchtet Sonnenschein, breitet sich ein grün-goldenes Paradies. Sechshundert Morgen Land sind ihnen hier angewiesen, und prachtvoll ist hier zwischen den Bergen der Boden. Dort drüben raucht der Sibajak aus seinen Schwefelklüften. Blau wölbt sich der Himmel darüber. Dort wird Wald um ein neues Dorf angepflanzt, das erst im Entstehen ist. Hier erheben sich schon die neuen Häuschen aus Bambusrohrgeflecht. Weiter hinauf liegt der Kirchhof, auf dem immer wieder das Wort zu finden ist: »Si-mate ... gestorben ...« dann endlich hat all der Jammer ein Ende. Sie sind in Frömmigkeit gestorben. Sie glaubten an einen Gott, der sie vielleicht auf Erden gestraft hat, aber nach ihrem Tode gesund in sein Paradies aufnehmen wird.
Wer wollte ihnen diesen Trost nicht gönnen? Hunde und Schweine sind hier nicht die widerwärtigen Straßenreiniger, wie in anderen Batak-Kampongs. Aller Unrat wird in tiefen Löchern verbrannt. Jeden Sonnabend wird das Gewand gewechselt, in einer Wäscherei wird alles aufs sorgfältigste desinfiziert.
Dieser Mann mit dem breiten Löwengesicht ist ihr Mandoer. Dort drüben liegt das Jungmännerhaus. Die erwachsenen Knaben schlafen dort zusammen, nicht mehr im elterlichen Heim. Ihr Haus liegt unmittelbar neben dem über den Boden gezogenen Strich, der die Trennungslinie zwischen den Aussätzigen und den andern bildet.
Sie rufen uns ihr »Tabe!« nach. Wir desinfizieren uns. Wir begleiten Herrn van Eelen einen Augenblick in sein Haus, das mit seinem gehörnten Dach wie ein Batak-Haus gebaut ist: an den Büffelhörnern hängen irdene Töpfchen, die etwas Geld und ein paar Reiskörner enthalten, womit die bösen Geister versöhnt werden sollen. Lächelnd hat der Missionar bei dem Bau seines Hauses diese Einzelheiten mitübernommen. Im Innern puritanische Einfachheit. An den Wänden ein paar fromme Sprüche. Mehrere andere Missionare mit ihren Frauen und Schwestern, und Herr und Frau van Eelen. Sie sind beide jung, blond, gesund und stark, blühend und strotzend vor Jugend. Das Glück über ihre Mission strahlt ihnen aus den Augen. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen.
Sehr bewegt nehme ich Abschied von ihnen. Es ist mein größtes Glück, längs meines Weges die Schönheit zu suchen. Nun hatte ich an diesem Morgen viel Krankheit gesehen und viel Grauenvolles, aber dennoch ein »Freudendorf«, wie die unglücklichen Kranken ihren Wohnort selbst zu nennen pflegen. Und zuletzt hatte ich auch Schönheit gefunden: in diesem jungen, edlen Menschenpaar, das seine Kräfte und seine Jugend den aller Schönheit Enterbten weiht, sie pflegt und ihnen die Lehre des Herrn Jesus bringt.
Als wir uns unserem Pasangrahan näherten, hörten wir von weitem den Schalmeienbläser auf seiner Sroenai spielen. Es dämmerte bereits. Früh gealtert durch all das Leid der Menschen, das er hinweggeblasen, lag er dort hingestreckt auf seinem Bantaltikar, an dem kleinen Weiher unter der Palme, und spielte die Flöte und nahm die Trauer von den Menschen hinweg, die still rings um ihn kauerten und ihm lauschten – stunden-, nächtelang ...