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XI

Ein Radja – Ein Glücksvogel – Die heilige Stelle – Pilgerfahrten – Javanische Kolonisten

Solch ein Morgen ist unvergeßlich. Erst im Auto bis nach Tiga-Dolok (Drei Hügel), dann zu Fuß mit dem Gouverneur zu einem fremdartigen Heiligtum der Batakker, der Hindus ... wer vermöchte das zu sagen? Wir gehen zwischen Alang-Alang-Wäldern, durch die ein Weg gebahnt ist, denn im Auto ist das Heiligtum nicht zu erreichen. Um diese Zeit wird es schon sehr warm, und ich frage, noch ganz erfüllt von den Tigergeschichten der vorigen Tage: »Kommen hier nicht Tiger herangeschlichen, wenn die Dämmerung hereinbricht?« »Ja, natürlich kommen sie hierher.« Plötzlich gewahren wir – zwar keinen Tiger, doch einen Batakker in Begleitung von jemand, der hinter ihm her trippelt. Ganz zufällig treffen wir so den Radja von Tiga-Dolok mit einem Trabanten. Und der Radja erkennt den Gouverneur, schlägt die Hände zusammen und ruft: »Warum hat der Herr Gouverneur mir nur seinen Besuch nicht angezeigt?«

Der Radja sieht nichts weniger als fürstlich aus. Er trägt einen an den Ärmeln sehr verschlissenen, weißen Rock über seinem Sarong, und seine Zähne sind, der Batak-Sitte gemäß, oben abgefeilt; ein schrecklicher Anblick, wie sie so aus seinem mit Betel purpurrot gefärbten Munde hervorstecken. »Will der Herr Gouverneur sich wieder die steinernen Grotten ansehen?« fragt der Radja voll heimlichen Entsetzens. – »Ja«, erwidert dieser. »Will der Herr sich denn noch öfter die Grotten und Bildnisse ansehen?« Wieder lautet die Antwort: »Jawohl!« »Dann werde ich künftig dafür sorgen, daß der Weg besser gepflegt ist!« ruft der Radja, und scheinbar ist er ganz verzweifelt darüber, daß diese Holländer für einiges Felsgestein und ein paar verwitterte Steinblöcke, die an menschliche Formen gemahnen, ein so auffallendes Interesse zeigen. Er hatte sich wohl gedacht: ein-, zweimal sind sie nun schon besichtigt worden, jetzt könnten sie wohl wieder unter den wuchernden Farnkräutern versinken, wenn auch der Platz dort drüben noch so heilig ist! Der Radja flüstert dem Manne, der ihm folgt, ein paar Worte ins Ohr, und der läuft nun im Eiltempo vor uns her. Eine neue Überraschung, aber ... noch kein Tiger! Nur ein sehr großer Vogel, ein Nashornvogel wohl, der mit zitternden, weit ausgebreiteten Flügeln über den Weg fliegt, und zwar von rechts nach links. »Ein gutes Vorzeichen«, sagt der Radja, jetzt anscheinend etwas erleichtert. Vorher hatte er wohl einen Tadel wegen der schlechten Instandhaltung des Weges gefürchtet. »Wäre der Vogel von links nach rechts geflogen, so könnte das ›Tjelaka‹, Unheil, bedeuten.« Was für ein großer, majestätischer Vogel! Wenn er einmal aus Versehen von irgendeinem Dummkopf geschossen wird – denn eigentlich darf er nicht geschossen werden –, so stirbt der Radja oder zum mindesten sein Sohn. Und um die Seele des Vogels zu versöhnen, veranstaltet man dann eine feierliche Aufführung: ein Mime, der sich ein Tuch über den Kopf gebreitet und einen Vogelschnabel vorgebunden hat, spielt dabei den Vogel. Auf meine wiederholte Frage, ob es hier keine Tiger gäbe, erklärt der Nadja: »Ja, gewiß kommen sie bis hierher. Erst kürzlich haben sie mir eine Kuh weggeholt.« Aber kein Tiger stört uns. Es ist nicht die rechte Stunde dafür. Der stolze Nashornvogel hat sich hoch in den Äther emporgeschwungen. Hier ist der Kampong der Timoer-Batakker. Hier ist das Haus des Radjas, dort seine Padi-Scheune, da seine Frau. Radja, Haus, Scheune und Frau sind ganz, ganz alltäglich, und ich habe nicht die Absicht, das alles auch nur im geringsten auszuschmücken. Aber so ein Radja ist hier der selbständige Verwalter der ganzen »Landschaft«. Sein Trabant hat, während wir den abschüssigen Weg weiter hinuntergehen, schon seine Pflicht getan: ein paar Männer haben sich eiligst an die Arbeit begeben und sorgen noch rasch dafür, daß der Weg zum Heiligtum gangbarer wird.

Das ist nun freilich sehr eigenartig. Was ist es? Was war es? Stammt es von Hindus? Von den Batakkern? Oder von keinem von beiden? Eine seltsam geheimnisvolle Atmosphäre umgibt diesen Ort, der hier, mitten zwischen Abhängen, im Urwald ganz versunken liegt. Ein Fluß schlängelt sich heran und verschwindet wieder zwischen Felsgestein. Eine Erhöhung aus Tuffstein sieht aus wie eine Mauer, wie ein Wall, wie eine formlose Masse, eine Masse, die nicht von Menschen erbaut, sondern von der Natur geschaffen wurde, und die dann die Menschen, die einst hier gelebt haben, offenbar zu einer Art Heiligtum umgeformt und neugestaltet haben. Denn unzählige kleine, von den Füßen frommer Beter ausgetretene Stufen sind, kaum noch gangbar, in den Stein gehauen. Wir sind darüber hingeschritten. Aber weil diese Stufen kaum noch gangbar waren, lief sozusagen eine wandelnde Lehne neben mir her, als ich an dem Tuffstein-Massiv emporkletterte. Diese wandelnde Lehne bestand aus einem langen Bambusstab, den einige Batakker festhielten. Diese barfüßigen Leute eilten mit dem schräg gehaltenen Bambus behende die steile Höhe empor, über die von frommen Betern ausgetretenen Stufen, und meine Hand konnte, wohin ich auch meinen Fuß setzen mochte, immer nach dieser Bambuslehne greifen, die mir zur Seite stets mitging. Auch stützten die Batakker meinen Fuß, wo ich ihn aufsetzte – ja, mehr noch: sie hielten ihn fest, sobald er zwischen den Farnkräutern und Schlangen auf dem schlammigen Tuffstein auszugleiten drohte. Und so gelang es mir, den Gipfel des Heiligtums zu erreichen. Dort befand sich eine »Stupa«, eine Kuppel, mit einem sehr großen, aus Stein gehauenen Salamander. Ob aber unter dieser Stupa etwas verwahrt wird, vermag ich nicht zu sagen. An den Felsen hinauf schlängelte sich eine aus Stein gehauene, lange Kobra-Schlange. Besonders ihr Kopf war noch deutlich zu erkennen. Weiterhin zeigten sich die Umrisse eines ungeheuren Frosches oder einer Kröte, ganz von Moos überwuchert. Dann zwei Bildnisse eines Mannes und einer Frau, plump und primitiv, aus einer noch sehr kunstlosen Periode. Die menschliche Form, naiv wiedergegeben, durch die Zeiten verwittert, von hohen Farnkräutern überwuchert, die abgeschlagen wurden, damit wir die Bildnisse besser sehen könnten. Wegen der einem Elefanten gleichenden Form, die der Stein jenseits des schäumenden Flusses aufweist, wird die Stelle, die »kramat«, heilig, ist, »Batoe Gadjah«, das ist Elefantenstein, genannt. Viel Volk eilte herbei, die alten Nenes – Großmütter und Tanten – des Radjas und seine drei kleinen Söhne näherten sich, in den Händen purpurne Darangblumen, die sie uns reichten. Am interessantesten waren die zwischen den ausgetretenen Stufen in den Tuffstein gehauenen Nischen und Grotten. Was war dereinst in diesen Nischen, diesen Grotten? Bildnisse nur – oder gar Eremiten, tief nachdenkliche Einsiedler? Möglich, daß primitive Bildnisse darin standen, so wie wir sie oben auf dem Steinmassiv als Mann und Frau, Gatte und Gattin, antrafen, wahrscheinlicher aber, daß in jenen Nischen – so klein sie auch sind – Einsiedler hausten, die ihren Nabel beschauten, oder Grübler, die ihren Körper ganz starr werden ließen, indes ihre Seele von allem Irdischen hinwegschwebte. Möglich auch, daß eine fromme Menge in früheren Tagen hierherpilgerte, daß sie langsam die Stufen emporschritt, um die Einsiedler, die Grübler in jenen Nischen anzubeten. Ihre mageren, fleischlosen Glieder vermochten sich vielleicht mit knapper Not nur in diese engen Bogen zu fügen.

Sie waren ganz verwachsen und verkrüppelt; sie regten sich nicht mehr. Sie glichen nach all ihrem Fasten kaum noch Menschen. Ernährten sie sich doch nur von einem Reiskorn, das ihnen die frommen Pilger brachten: mehr als ein einziges Korn brauchten sie nicht. Möglich, daß die Pilger ihnen, wenn ihnen die Augen aus den Höhlen traten und auf ihre dünnen Lippen letzter Speichel trat, in einer Kokosschale ein paar Tropfen Wasser aus dem Brunnen reichten. Dann ließen sie sich die Lippen anfeuchten, tranken vielleicht, ohne sich dessen bewußt zu sein, und dann wohl starben sie in ihren Nischen, in Verzückung ... Die Knochen wurden darauf, so stelle ich es mir vor, aus ihren Nischen herausgebrochen und feierlich bestattet. Und andere Einsiedler, andere Grübler, die schon lange am Flusse gewartet hatten, nahmen die Plätze jener Toten ein, sie zwängten sich nun in die engen Grotten, wurden bei dieser steten Unbeweglichkeit selber zu mißgestalteten Krüppeln, starrten und starben langsam, dieweil ihre Seele längst entrückt war ...

Ich phantasiere. Vielleicht war es so, vielleicht war es anders. Über diesen seltsamen Ort, den noch die geheimnisvolle Weihe längst vergangener Verzückung und Frömmigkeit umschwebt, ist nichts Genaueres bekannt. Doch sicherlich sind an festlichen Tagen Tausende von frommen Gläubigen hierhergeströmt, haben sich im Flusse gebadet und gereinigt und sind dann diese Stufen emporgestiegen ...

Und Blumen und Weihrauch haben sie der Schlange und dem Salamander, dem Frosch und dem Elefanten geopfert, dem Manne und der Frau, dem plumpen Gott und der plumpen Göttin, die sich dort drüben auf der Anhöhe aus den Farnkräutern erheben. Wer vermöchte jemals mit Gewißheit zu behaupten, wer hierherkam, was sich in den früheren Tagen hier abspielte? Da – wieder eine sich windende Schlange und ein paar riesengroße Falter, die langsam flattern, als sei ihre Flügelpracht ihnen zu schwer. Der Radja zeigt uns einen kristallenen Djimat (Talisman), eine kleine, runde Kugel: wird sie auf den höchsten Punkt des Heiligtums niedergelegt, so beginnt sie wie Feuer zu glühen. Voll heiliger Andacht betrachten wir den Djimat. Doch natürlich bitten wir nicht darum, daß man dieses Küglein wirklich in die Sonne lege, denn das würde Zweifel an den Worten des Radjas bedeuten. Den Tigerpfad entlang schreiten wir zu unserem Auto zurück. Rings um uns wuchert hoch der Rotang, der Brotbaum streut seine verdorrten, raschelnden Blätter uns zu Füßen. Es war ein Morgen voll seltsamer Dinge, die mit dem zitternden Glast des leuchtenden Sonnenscheins harmonisch zusammenstimmten.

Und weil neben diesen seltsamen, unergründlichen Rätseln aus längst vergangenen Zeiten auch das moderne Leben seinen Reiz hat, will ich nach diesem Bericht von Urältestem auch noch ein wenig über die sehr moderne Siedlung der Kulis plaudern, die hier angelegt wurde, als sie von verschiedenen Unternehmungen während einer Flautezeit entlassen werden mußten. Ich spreche von Pematang Bandar, das vor wenigen Monaten noch eine Wildnis war und jetzt schon ein blühender Kampong ist, wo die javanischen Emigranten außer ihrem Häuschen auch ein kleines Stückchen Grund und Boden zu eigen haben, das sie bebauen. Obi (Erdfrucht), Teboe (Zuckerrohr) und Djagoeng (Mais) gedeihen dort üppig, und Brotbaum und Kapokbaum, der eine mit seinen großen, raschelnden Blättern, der andere mit den weißen Haferflocken, die aus der Bohne hervorbersten, ragen zwischen den Bambuswohnungen empor. Die Javaner scheinen hier sehr zufrieden zu sein, diese Javaner, die trotz ihres Heimwehs nicht so bald dahin zurückkehren wollen, wo sie infolge der Übervölkerung voraussichtlich niemals ein so unabhängiges Dasein als einfache Landleute führen könnten.

Später wird ihnen auch eine »Sawah«, ein Reisfeld zugeteilt, wofür dann Wassergeld bezahlt werden muß. Auch eine Schule ist für sie bereits gegründet.

Die Javanerkolonie macht einen guten Eindruck. Vor wenigen Monaten trafen diese Siedler hier in elendestem Zustande ein: Hungerleider, ohne die geringste Habe. Jetzt sind sie in gewissem Sinne schon wohlhabend. Es ist nicht notwendig, daß man sich in Luxus wiegt und ganze Provinzen sein eigen nennt, um glücklich zu sein. Eine Bambushütte, ein Stückchen Erde, eine Sawah, ein Kokosbaum, ein Pisang, ein Gemüsefeld, ein wenig Zuckerrohr und Mais – was braucht der einfache und bedürfnislose Mensch mehr, um mit der Frau seiner Wahl, die den farbigen Sarong über den Busen geknüpft trägt, inmitten der großen Natur, zwischen Bergen und Flüssen, Himmel und Schluchten, tropischer Sonnenglut und Regenperioden zufrieden zu leben? Mehr erstreben seine kühnsten Wünsche nicht. Und wenn er seine Kinder, die noch vor kurzem fast vor Hunger umkamen, jetzt mit dicken Reisbäuchen zwischen den Hühnern über das Gras rollen sieht, lacht er zufrieden und ist sich dessen bewußt, daß er sein Glück gefunden hat, während wir, o Leser, du und ich, tausend andere Dinge begehren, die wir zwar durchaus nicht brauchen, aber doch nun einmal für unentbehrlich ansehen, und mit denen wir nur unser Leben belasten.

Wer ist nun der größere Philosoph: mein Grübler, der sich in die enge Grotte zurückzieht, der sich allem Irdischen abkehrt, grübelt und schließlich ganz verzückt ist, oder der javanische Siedler auf Sumatra, der in seiner kleinen Hütte und auf seinem Stückchen Land glücklich lebt?


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