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Es ist Regenzeit. Mit geradezu epischer Kraft strömen die Wasser vom Himmel herab – weiße Sturzfluten, die senkrecht zwischen den sich duckenden Häusern, zwischen den gleich ganz durchnäßten Bäumen hindurchschießen. Batavia schwimmt in Schlamm und Regen. Keine Sonne, kein Licht. Gar seltsam berührt dieses verschwommene, graue Dämmerlicht in einem Lande, das man sich als sonnengeweiht vorstellt. Manchmal regnet es einen ganzen Tag, manchmal auch nur ein paar Stunden lang, aber kein klares Tageslicht bricht je durch, und um vier Uhr ist es schon dunkel. In den Zimmern und Gängen brennt, wenn auch nicht den ganzen Tag, so doch schon sehr früh künstliches Licht. Oft erhebt sich ein heftiger Wind und fegt durch Gänge und Zimmer, daß die Scheiben klirren.
Man mag gegen Temperaturwechsel verschieden stark empfindlich sein, etwas »unbehaglich« aber dürfte sich wohl ein jeder in diesen Regenzeiten fühlen. Unbehaglich, schwül drückend ist die Luft, nur hin und wieder aufgefrischt durch einen jähen Wind. Menschen, die lange in Indien wohnen, lieben diesen Wind. Sie atmen auf, sobald er sich erhebt. Ganz leicht gekleidet setzen sie sich mitten in den frischen Luftzug. Sie trinken darin ihren Tee, sie speisen, sie spielen Bridge darin, wenn auch die Karten beinahe wegfliegen. Wer aber eben erst aus Europa herübergekommen ist, tut besser, sich vor diesem übermächtigen Winde im Hause ein wenig in acht zu nehmen, denn er ist ein Stück von dem Klima, das dem Europäer so unhold ist, dem Klima, das immer tückisch darauf lauert, ihm zu schaden. Er muß sich erst »akklimatisieren«; er muß sich an Wärme, Schwüle, an vieles Schweißvergießen gewöhnen, ehe er den Wind ungestraft über seinen schweißbedeckten Körper streichen lassen darf, sonst wird er von Fieber und mehr oder weniger ernsten Darmbeschwerden befallen.
Hin und wieder hören wir etwas von unseren Reisegenossen vom Dampfer. Der eine leidet an Wechselfieber, der andere an Typhus, dieser hat eine Ohrenaffektion, jener ist eben wieder aufgestanden, einer ist leicht erkrankt, der andere schwerer. Auf sie alle hat es der tückische Feind abgesehen; und wenn sie ihn erst einmal besiegt haben, so wird die Parole weiterhin lauten: »Vorsicht!« Es genügt nicht, daß man sich gegen Typhus, Cholera, Pocken impfen läßt, es genügt nicht, darauf zu hoffen, daß die Pest einem nach allen Regeln europäischer Hygiene gepflegten Körper nichts anhaben könne, es genügt nicht, Wassertrinken zu vermeiden und weder Fisch noch Salat zu essen. Nein, es ist dringend anzuraten, daß man sich jeden Tag genaue Rechenschaft über sein Befinden gibt und schon wegen einer leichten Störung, die man in Europa kaum beachten würde, hier lieber gleich den Arzt zu Rate zieht. Eine gewisse Mattigkeit und Mutlosigkeit, Regen, Wind, gar keine Sonne, ja nicht einmal Tageslicht, ein allgemeines Suchen nach neuen Reizen des Lebens: das alles schafft die Atmosphäre, die mich während der acht Tage meines Aufenthaltes in Batavia umgab. Dann macht man sich zu tun, man versucht sogar, viel zu tun, so wie hier jeder viel tut; man öffnet seine Koffer, und man packt aus und ein und um, und man sieht nach, wie all die mitgenommene europäische Garderobe aussieht, und bedauert, daß man nicht einmal einen Pelz mit hat und keinen Zylinder – und dabei geht man doch nach China und Japan!
Da es an diesem Abend mal ein paar Stunden nicht regnet, so wollen wir tun, was jeder tut, der sich acht Tage in Batavia aufhält: die alte Stadt besichtigen, an Jan Pieterz denken. Coen, das Kastell Batavia, die Energie unserer Vorfahren, der Kaufleute, werden wir bewundern; all die europäische Energie und Leistung unserer abgehärteten Seefahrer und der Männer von der Ostindischen Kompagnie. Wer so seine Gedanken auch nur eine kurze Stunde in die Vergangenheit und auf die Größe und Kraft früherer Jahrhunderte gerichtet hat, fühlt sich wunderbar getröstet.
Der Mond scheint durch feuchte Wolken, durch Dunst und Nebel. Wolken am Himmel, Nebel über der Stadt, Dunst über dem Flusse. Wir fahren im Auto in die alte Stadt, die wir im Mondenschein und im Weben perlgleicher Nebel bewundern wollen. Vorüber an den vornehmen chinesischen Häusern fahren wir, durch das Chinesenviertel. Der Abend verwischt alles Häßliche und zaubert pittoreske Reize hervor. Die kleinen Garküchen mit ihren Ölfunzeln und dem kaum erkennbaren Interieur, die Brücken über die Grachten, die aussehen wie Alt-Amsterdam, sind im bleichen Schimmer des feuchten Mondes noch einigermaßen erkennbar. Mir erscheint dieser Mond in Indien immer wie eine Art Zauberspiegel. Und wir sehen die Häuser, in denen unsere Vorfahren Handel trieben und im ersten Jahrhundert ihrer strebsamen Arbeit auch wohnten. Im stillen huldigte ich Coen. Was für gutes, frommes Gedenken löst doch das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert in uns aus! Das »Kastell«, diese Zugbrücke, dieses Rathaus, diese Tore mit den seltsamen Schmuckvasen und den rauhen Torhütern ... das alles kann ich in dem unbestimmten Zauberlicht nicht deutlich unterscheiden, aber ich weiß, daß ich es früher nie so verschwommen, so nebelhaft gesehen habe, und daß es damals nie so auf mich wirkte wie heute, da ich es als Erinnerung an die Vergangenheit empfinde. Jetzt geht es über den Fischmarkt, und hier liegt der »Kanon«, der heilige, berühmte Tempel, wo die unfruchtbaren Frauen Opfer bringen, damit sie ihrem Manne Nachkommen schenken können.
Ich sehe ihn nicht. Es ist zu dunkel. Er muß doch irgendwo dort auf dem Rasen liegen. Früher lag er nicht dort ... »Er hat ganz von selber seinen Platz gewechselt«, sagt der Chauffeur sehr ernst. Wir lachen nicht: lache niemals, o Europäer, wenn ein Mensch im Osten dir Ähnliches sagt: Weißt du denn, ob sich ein heiliger Kanon nicht wirklich von hier nach dorthin bewegen kann? Jetzt sehe ich ihn flüchtig aufschimmern, den Kanon, der ein Ursymbol für die unfruchtbaren javanischen Frauen ist – der bleiche Zaubermond gleitet darüber hin.
Und auch wir gleiten weiter im Mondenschein durch ganz Batavia. Historische Erinnerungen, Jugenderinnerungen. Hier, Kramat ... dort, im Gymnasium Wilhelms III., war ich ein recht unartiger Junge, der nichts lernen wollte.
Was für Spukgespenster weben in diesem perlengleichen, feuchten Mondenlicht! Vom Schädel Peter Erberfelds, des Verräters, der an diesem Tore aufgespießt wurde, bis zum Gymnasium Wilhelms III. ziehen sich die Erinnerungen hin. Ich entsinne mich der Namen der Lehrer, der kleinen Freunde, der vielen, die so jung waren wie ich, oder wenigstens auch noch nicht alt. Alles verschwunden – die historische Vergangenheit wie auch die eigene, alles verschwunden – und was ist geblieben?
Feuchter Mond, und ein Auto, das dahinjagt. Warum loben wir? Wohin streben wir? Was hat Gott mit uns vor?
*
Bald, denn schon beginnt der Mond seinen Schein zu verlieren, wird jetzt wieder die Sturzflut, die ungeheuerliche Wassermasse, vom Himmel niederstürzen.
Wir eilen heimwärts ins Hotel. Und die Flut ergießt sich über die Stadt.
*
Der Malaie – ich wage noch nicht, hinzuzufügen: auch der Sundanese und der Javane; ich will vorsichtig sein – also: der Malaie einfacher Herkunft dient gern. Neue Anschauungen haben auf ihn keinen Einfluß – ob auch die Volksbeglücker ihn darin einzuweihen versuchen, und ob auch strebsame Eingeborene aus vornehmen Familien und von europäischer Kultur selber daran glauben. Der Malaie, den ich meine, ist zum Dienen geboren, dient gern und ist treuherzig. Er läßt sich durch ein einziges freundliches Wort, durch ein Lächeln gewinnen. Durch eine einzige Schroffheit aber verliert man ihn. Er kann seinen Herrn liebhaben und ihn doch nach drei Tagen hassen. Seine Zuneigung kann mit jedem Tage wachsen, sein Haß ist niemals zu löschen. Er sieht in uns stets das fremde Wesen, den Eindringling, den Überwinder. Aber seit Jahrhunderten hat er sich unserer Überlegenheit gefügt. In seinem Innern findet er wohl, daß wir große Dinge tun können, vor Flugzeugen hat er einen geradezu heiligen Respekt – und mit Autos ist er durchaus vertraut –, aber dies alles hindert nicht, daß dieser Malaie der geborene Diener ist.
Er liebt es, seinem Herrn einen hochtönenden Titel beizulegen. Noch immer reicht er ihm alles mit feierlicher Gebärde, eine Hand an den Ellenbogen gelegt, wenngleich die »Volksführer« diese Geste gern abgeschafft sehen möchten. Ihm lebt das im Blut, es lebt ihm in der Seele. Er dient gern, und er paßt sich sofort den Gewohnheiten eines jeden an. Man hüte sich aber, diese zu ändern. Hat man einmal gesagt, daß man seinen Kaffee um sechs Uhr wünscht, so halte man sich daran, solange man Kaffee trinkt, und wünsche ihn nicht etwa schon am nächsten Tag erst um halb sieben. So etwas verwirrt ihn. Dennoch ist er der Stunde nicht immer ganz sicher. Er hat seine Sicherheit verloren, seit er hin und wieder eine Uhr getragen hat. Doch dieser Umstand hindert nicht, daß er seinem Herrn ohne Zaudern den Kaffee serviert, sobald er auch nur glaubt, es sei sechs Uhr.