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Auf dem Wege, der von Mykenä gen Süden führte, drängten sich die Mykener dem Herakles entgegen, dessen Kommen Eilboten bereits gemeldet hatten. Denn die Mykener wußten, daß Herakles sein elftes Werk vollbracht hatte, und sie wußten um den letzten Auftrag, das zwölfte Werk, das letzte, das allerletzte. Und alle, die ihn liebhatten, wollten jetzt dem Helden entgegengehen, um ihn willkommen zu heißen und zugleich ihm zu melden, welches sein letztes Werk sein würde. So flutete denn die Bevölkerung aus der Stadt des Königs Eurystheus über den Weg, gleich als hätten alle Mykenä verlassen: Priester des Zeus, des Poseidon, der Athena und der Artemis und des Apollo, weise Greise aus des Königs Rat, Krieger und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen und Kinder, und über der Freude, Herakles wiederzusehen, vergaßen sie beinahe, wie schwer das neue Werk ihnen allen erschienen war, das letzte Werk, das sie ihm jetzt künden sollten, bis plötzlich aus den vordersten Reihen ein Jubel erscholl und sich wie Feuer allen Mykenern mitteilte, die da folgten: und alsbald lenkte Jolaos unter dem Jubel der Liebe und Bewunderung die zwei wilden weißen Rosse blitzschnell durch das dichte, zur Seite weichende Gedränge der Mykener, und sie sahen Herakles, den geliebten Helden, wieder, der ihnen in seiner geöffneten Handfläche die drei leuchtenden Äpfel zeigte, indes Lorbeer- und Myrtenzweige vor seinen Siegeswagen gestreut wurden.
Jolaos hielt die Rosse an, und Herakles sprang vom Wagen und überreichte die heiligen Äpfel dem Oberpriester des Zeus, und sie umarmten ihn alle: Priester, Weise, Männer und Frauen und Jungfrauen und Jünglinge und Kinder. Und als sie ihn umarmten, sahen sie, daß er älter geworden war. Tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn, unter der die blauen, gütigen Augen matter zu blicken schienen. Matter wölbten sich auch die Lippen zu dem noch immer gütigen Lächeln, und von grauen Fäden war das goldblonde, lockige Haupt- und Barthaar durchzogen, und nur in dem über die Maßen kräftigen Körper, in den breiten Schultern, in der stolzen Brust, in den gewaltigen Armen und Schenkeln, in der ganzen Riesengestalt, die sich, so wohlbekannt, so von allen geliebt, mit Löwenfell und Bogen und Keule zeigte, schien sich die Jugend des Mannes erhalten zu haben. Aber dennoch blickte aus diesen graublauen Augen so trübe Wehmut, spielte ein so müdes, so trostloses, mit leichtem Spott vermischtes Lächeln um die bärtigen Lippen, schien matte Unlust selbst über den kräftigen Gliedern zu liegen, daß alle es sehen mußten, wie der Held gealtert war, mehr vielleicht an Seele denn an Leib. Denn die Seele leuchtete ihm wie eine müde Flamme aus dem geliebten Antlitz, aus den geliebten Augen.
Und während sie ihn dort auf dem Wege liebevoll umdrängten, verlor ein jeder den Mut, ihm zu künden, was sein letztes Bußwerk sein sollte, und nur des Zeus Oberpriester sprach, nachdem er mit den anderen Greisen einen Blick des Einverständnisses gewechselt hatte: »O Held, den die Mykener lieben, o Herakles, Liebling der Götter, dessen Buße endlich auch die göttliche Hera versöhnen soll, vertraue dem Priester des eigenen Vaters die heiligen Äpfel an, die er dem König Eurystheus bringen wird, und dir, o Herakles, dir, o Held, wird es sicherlich großes Glück bedeuten, wenn du deinen Wagen zu dem Kreuzweg lenken darfst, von dem die Straße zu den Triften von Trachin am Fuße des weißgipfligen Oita führt. Dort wird den Helden die getreue Gattin und der zum Jüngling heranreifende Sohn erwarten. Dort werden des Herakles die getreuen Diener harren, und die zahllosen Herden werden ihn umringen, und endlich wird er sie zählen, und einmal noch wird er in der lieblichen Landruhe rasten, bevor er sein letztes Werk vollbringt.«
»Würdigster Greis, heiligster Priester von Herakles' Vater Zeus,« antwortete jetzt der Held, »sicherlich sehnt sich Herakles nach Trachin, nach der treuen Deianeira, nach dem lieben Hyllos, nach König Ceyx, nach allen denen, die ihm teuer sind und die ihn liebhaben. Doch wisse, o würdigster aller Greise, daß Ungeduld des Büßers Herz erfüllt, Ungeduld, das Werk der Buße zu vollenden, Ungeduld, dann erst nach Trachin zurückzukehren, frei, ganz frei, endlich von der Buße frei! So frei, wie nur ein freier Mann sein kann, wie ein freier Bauer nur sein kann. O Priester, frei wie nur einer sein kann, der nicht auf göttliche Sohnesrechte pocht, ja, nicht einmal mit seinen Herrscherrechten von mütterlicher Seite prahlt, dem es aber vergönnt ist, hinzugehen, wohin immer er mag, auf eigenem Lager, im eigenen Heime zu ruhen, ohne von neuem daraus zu neuem Werk vertrieben zu werden, und sicherlich niemals ohne der Unsterblichen Gunst! Nein, Priester des Zeus, nach Trachin zu gehen, Deianeira und Hyllos zu umarmen, um sie dann noch einmal zum Lebewohl zu küssen – glaube mir, wenn ich es dir sage: dazu fühlt Herakles die Kraft nicht mehr in sich. Er ist müde, wenngleich seine Glieder noch kräftig sind: er ist müde bis zur Erschöpfung: müde ist vor allem seine Seele, die seine Missetaten und seine wilden Triebe erschöpften, und wenn er jetzt nach Trachin zurückkehrte, so würde er nicht die Kraft finden, sich noch einmal aus den Armen der Deianeira und des Hyllos loszureißen, um nach Mykenä zu gehen und den letzten, o ihr Götter, den letzten Auftrag zu vernehmen. Ihr Priester, Herakles fühlt es, er würde selbst während einer kurzen Rast in Trachin weich werden bis zur Kraftlosigkeit, und darum, o heiligster Priester von Herakles' Vater Zeus, dulde, daß ich euch alle nach Mykenä begleite, daß ich vor des Eurystheus Thron trete und ihn anflehe: sage mir, o herrlicher Fürst, sage mir, o strahlender Perseide, welches Werk trägst du zum letzten dem Sklaven auf, auf daß seine Buße vollbracht, auf daß Herakles endlich entsühnt werde?«
Um Herakles drängte sich dichter das Volk von Mykenä und ein rauschendes Stimmengewirr fuhr durch die Menge, und alsbald riefen die Männer: »Melde, o Priester, den Auftrag! Künde, o Priester, den Auftrag! Wir alle wissen um den Auftrag! Wir alle sind gekommen, um Herakles den Auftrag zu künden, auf daß er ihn nicht aus anderer Munde vernehme, als von jenen, die ihn lieben! So künde denn, Priester, den Auftrag!«
Dichter und dichter drängten die Tausende heran, und des Herakles Rosse bäumten sich hoch auf, und Iolaos schaute, sie im Zaume haltend, angstvoll auf die wimmelnde Schar herab. Allein jetzt rief Herakles aus:
»O heiligster Priester, künde mir den Auftrag, so Eurystheus ihn dir bereits kundtat.«
Da nahte sich der Priester des Zeus dem Helden und sprach, während seine Stimme vor Rührung und Liebe fast brach: »O Held, so du die Buße vollbringen willst, ohne erst Heim und Habe wiederzusehen und Weib und Sohn zu umarmen, so steige hinab in den Tartaros, überwältige dort des Hades dreimäuligen Höllenhund, den Zerberus, das unsterbliche Ungeheuer, um es lebendig der erstaunten Welt zu zeigen.«
Jolaos schrie vor Jammer laut auf, und die Rosse bäumten sich ob seines Schreies. Doch in Herakles zuckte nicht einmal Entrüstung auf, während der Priester des Zeus ihn umarmte, wie nur ein Vater den Sohn umarmt. Langsam machte sich Herakles aus des Greises zitternden Armen los, und langsam sprach er mit dumpfer Stimme: »In den Tartaros hinabsteigen, den Höllenhund überwältigen und ihn lebend der Welt zeigen? Nein, Greis, dies ist ein Werk, das unausführbar ist. Ungeheuer habe ich getötet, und auch den Zerberus würde ich, so Hades es mir vergönnte, töten können. Doch das Ungeheuer lebend überwältigen, es lebend aus dem Tartaros hinausführen, es lebend der Welt zeigen, während es links und rechts mit den drei Mäulern nach seinem Überwältiger schnappen würde: glaube mir, wenn ich dir's sage, daß Eurystheus dieses Mal ganz Unmögliches verlangt. Auch fehlt es mir an Kraft und Lust, nur den Versuch zu machen, das Werk zu vollbringen, Priester. Denn jetzt, das weiß ich, naht das Ende. Ich gehe, ich ziehe in die Ferne, ich gehe als Büßer, dem das Werk seiner Buße nicht gelang. Ich gehe weg aus Hellas, fort von Mykenä, fort von Hyllos, von Deianeira, die, wehe, nicht mehr vor dem Büßer sicher sein würden, dem Hera immer wieder die Sinne verwirrt. Fern von hier werde ich umherirren, und niemals werden Argiver und Mykener mehr von Herakles hören. Denn, Priester, jetzt weiß ich, daß mir das Ende naht.«
Müde und entmutigt hatte der Mund des sich weigernden Helden die müden Worte gesprochen. Sein Zorn schien sich gelegt zu haben, als habe er dessen Nutzlosigkeit eingesehen, als wolle er Hera nicht länger herausfordern, wenn er in Raserei ausbräche. Der Priester des Zeus indessen sprach zu Herakles: »Held, du sagst, daß du dein Ende nahe wissest! Wer von uns weiß um das Ende? Wer von uns? Und wird das Ende nicht allzeit anders sein, als wir Sterblichen es wähnen? Doch wenn du fern von Hellas, von Hyllos, von Deianeira umherirren willst, fern von allen, die dir hier teuer sind, so geh! Was die Schicksalsgötter beschlossen haben, das wird sich vollziehen, ob du gleich in die Ferne eilst oder hier verweilest.«
Der Abend brach herein. Jolaos hatte sich an des Helden Brust gestürzt und schluchzte. »O Gefährte, o Herr!« jammerte er, »ich folge dir, wo immer du hingehst!«
»Freund meiner Seele,« sprach Herakles dumpf, »du bist mir getreu trotz aller Unbill des Schicksals, die euch alle mit trifft, die mich lieben und sich um mich drängen. Führe die zwei wilden weißen Rosse nach Trachin zurück, daß sie dort auf üppiger Weide grasen. Melde der getreuen Deianeira, daß Herakles geht, weil der traurige Büßer, der die Buße nicht vollbrachte, Verhängnis über Hof und Habe, über Weib und Sohn heraufbeschwören würde, wenn er noch einmal sich von so zärtlichem Glück losreißen müßte. Umarme, o Jolaos, den Hyllos und erzähle ihm hin und wieder von seinem unseligen Vater. Wache, o Freund, über Weib und Kind, und empfiehl sie und ihr Heim der Gnade des Königs Ceyx.«
»Soll ich nicht dem Herakles folgen, wo immer er auch hingeht?« rief Jolaos schluchzend aus.
»Weiß denn Herakles, wo er hingehet? Ziellos, wird des Irrenden Fuß nicht gen Westen irren, den er schon zweimal betreten, noch auch gen Süden, wo Helios über Libyens Wüsten herrscht, noch auch zu der nördlichen Steppe, wo einstmals Themiskyra seine Türme erhob, sondern zu dem unbekannten Osten, wenngleich Athena ihn gen Westen wies. Wehe, sie wies vergeblich. Wehe, Hylas, mein Liebling, starb umsonst in der Umarmung der schnöden Nereiden. Wehe, vergeblich wandte Herakles sich von den Helden ab, die das Goldene Vlies holten. Was sucht er jetzt im Osten? O Iolaos, den Tod der Sterblichen, den der Held sich nicht selber zu geben wagt. Den Tod der Sterblichen, weil der Held weder im Westen, noch im Süden, noch im Norden umkam, da ihn dort gütige Götter umschirmten. Sie werden den, der sich weigert, die auferlegte Buße zu beenden, im unheiligen Osten nicht mehr schützen.«
Die Nacht war jetzt völlig hereingebrochen; das schmerzerfüllte Volk hatte sich in angstvoller Trauer ob des Herakles Weigerung bereits stadtwärts gewandt, und im Dunkel waren die traurig gebückten Gestalten der Priester verschwunden.
»Geh, Jolaos,« sprach der Held jetzt strenger zu dem noch immer an seiner Brust schluchzenden Lenker, »gehe, denn Herakles geht allein. Herakles hegt keine Hoffnung mehr für dieses sterbliche Leben noch für das unsterbliche, das er zuvor noch zu erhoffen wagte. Geh, Jolaos, geh, geh zu dem Hause, zu dem Weibe, zu dem Kinde, geh zu allen, denen Herakles Lebewohl sagt, weil er auf ewig verflucht ist und nichts anderes mehr erhofft als den Tod.« Der Held riß sich von seinem Freunde los. Angstvoll und gleichsam verstehend wieherten die Rosse, indes sie sich aufbäumten und mit den Vorderhufen stampften. Von der Seite des Wagens wich Herakles, während Jolaos verzweiflungsvoll die Rosse im Zaum zu halten versuchte: er schritt in das niedere Buschwerk hinein, und unter seinen sich entfernenden Tritten raschelte das rauhe Gestrüpp.
In der sternenlosen Dunkelheit waren Wagen und Rosse kaum noch sichtbar, war kaum noch die runde Linie des Wagens erkennbar, und Iolaos stand, verzweifelt vor Schmerz, verlassen da. »O ihr Götter!« rief er aus, »zürnet ihm nicht, weil er sich weigert. O Zeus, bewahre ihn um unseretwillen!«