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An der südlichen Küste von Hellas erwartete Jolaos die Rückkehr seines Herrn. Seit Wochen bereits harrte er, und die zwei wilden weißen Rosse weideten auf Lakoniens üppigen Hügeln, während ihr Lenker mutlos über die weite, weite See starrte. Und auf einer Felsplatte, die höher war als der Fleck, von dem aus er spähte, hatte sich ein junger Ziegenhirt niedergelassen: ihm deckte nur ein laubumranktes Hütchen das lockige Haar. Neugierig, den Lenker und die zwei prächtigen Rosse und den zweirädrigen Wagen zu schauen, der fast völlig in dem wogenden Gras versank, hatte der kleine Hirte sich über den Felsblock gebeugt: aus frischem Schilf hatte er sich kunstvoll wohllautende Doppelflöten geschnitten und die zwei durchbohrten Pfeifchen mit etwas Wachs am Mundstück befestigt. Und der müßige kleine Hirte flötete nun, während seine Geißen rings um ihn gierig in den von Sonnenglut übergossenen Halmen grasten, aus denen sich der Felsblock emporreckte.
Die Hand vor die Augen gelegt, spähte Jolaos nach dem Horizont. Und der neugierige kleine Hirte sah, daß der Lenker schmerzvoll Ausschau über das Meer hielt, und daß Seufzer auf Seufzer sich seiner schwer atmenden Brust entrang, bis das Kind endlich schalkhaft von oben herabrief: »Du Lenker der zwei wilden weißen Rosse, wen erwartest du? Wer soll über das Meer gezogen kommen? Um wessentwillen seufzest du? Weißt du denn nicht, o Fremdling, daß dieses Meer die große See ist, die große See mit den schäumenden, oft himmelhohen Wogen, die große See, über die selbst die kühnsten Schiffer nicht zu fahren wagen? Dort drüben, dort drüben, fern gen Süden, wohnt Helios in einem goldenen Palast. Dort drüben, dort drüben, fern gen Osten schwebt Eos aus den goldenen Himmelspforten. Dort drüben, dort drüben, fern im glühenden Westen blühen die Gärten voller Geheimnisse, die der Menschen Fuß nimmer betrat. Du Lenker der zwei wilden weißen Rosse, wen erwartest du auf dem Meere? Wer soll über die tiefen, schäumenden Wogen aus dem Südwesten daherfahren, dahin du starrest? Wer soll aus dem kühlen Garten der Träume kommen? Niemals habe ich ein Ruder die Wogen der großen See durchschneiden sehen. Niemals habe ich Menschen auf den schäumenden Wogen des Meeres fahren sehen. Lenker, o Lenker, du wartest vergebens.«
»O du schalkhafter kleiner Hüter der weißen Ziegen,« rief Jolaos grollend dem kleinen Hirten zu, »wen ich erwarte? Um wen ich bange? Um wen meine beklemmte Brust Seufzer auf Seufzer ausstößt? Weißt du denn nicht, du scherzender Knabe, daß mein Herr über das Meer zog, daß er, der kühnste Schiffer, es wagte, über die schäumenden, tiefen, oft himmelhohen Wogen zu fahren? Dort drüben, dort drüben, wo, wie du sagst, Helios in einem goldenen Palast wohnt, landete mein Herr bereits zum zweiten Male. Dort drüben, dort drüben, wo im goldenen Westen die goldenen roten Rinder weideten, wo die Gärten voller Geheimnisse blühen, betrat er bereits zum zweiten Male den äußersten Weltenrand, und der, um dessentwillen mein Herz Pein der Unruhe leidet, ist Herakles, mein Held. Nun so lange schon halte ich Ausschau, und noch immer nicht sehe ich ihn auf den schäumenden Wogen des großen Meeres daherkommen. O kleiner Hirte, o kleiner Hirte, warte ich denn vergebens?«
»Ist Herakles denn ein großer Held, daß er über das große Meer fuhr?«
»Keinen größeren als ihn gebar Hellas. Wer zählt die Ungeheuer, die er vertilgte, die Räuber, die Riesen, die er besiegte? Wer wüßte nicht von Löwen, Hydra und Eber, die seine starke Hand erschlug? Nicht von der Hirschkuh, die sein flinker Fuß einholte: nicht von den Stymphalischen Vögeln und von Augias' Stall, von Rossen und Stier, von Hippolytas Gürtel und von den rotgoldenen Rindern? Wer wüßte nicht von den Werken des Herakles?«
»Ist Herakles denn ein so guter Held, daß du, o Lenker, ihn also liebst und lobst?«
»Keinen besseren als ihn gebar Hellas! Der beste Sohn ist er der heiligen Mutter, als die uns unser heiliges Land gilt; und sollte ich denn meinen Herrn nicht lieben und loben, da er mir doch von allen Männern der teuerste ist? Wehe, noch immer halte ich vergeblich Ausschau! Wehe, wird auch dieser Tag wieder zur Nacht werden und Herakles noch immer nicht zurückkehren?«
»Die Sonne steht noch hoch, o Lenker, kaum neigt sie sich gen Westen; und wenn der Held am westlichen Horizont daherführe, würde Poseidon sicherlich seinem Kommen günstig sein, denn sieh, kaum kräuseln sich die Kämme der ruhigen Meereswogen.«
»Und der Wind legt sich.«
»Und die weißen Nereiden wiegen sich.«
»Auf dem kaum bewegten Blau.«
»O Lenker, ich sehe, du hast eine Einzelflöte?«
»Und ich hörte schon, o Knabe, daß an deinen Lippen die Doppelflöte sang.«
»Lenker, laß unsere Flöten zusammen dem Poseidon lobsingen!«
»Um ihn zu bitten, daß er wohlgeneigt bleiben möge, bis Herakles kommt? Ja, Knabe, laß unsere Flöten zusammen ertönen.«
Und die beiden Flöten ertönten über das blauende Meer in dem noch helleuchtenden Sonnenschein. Die weißen Ziegen hatten sich rings um die beiden Rosse zur Ruhe gelegt, und drunten am Felsen blies Jolaos auf seiner Flöte die alte Weise. Und die Doppelflöte begleitete mit ihren perlenden Tönen das fromme Lied, das in der reglosen, windstillen Luft langsam über das Meer glitt. Und von fern schauten die Nereiden zu, und der Sang der Einzelflöte ertönte in schmachtendem, flehentlichem Verlangen, und die perlengleichen Töne der Doppelflöte erzitterten unter diesem Sang gleich vereinzelten herabfallenden Tropfen... bis die Brise aus dem Westen daherfuhr, die Sonne gen Westen sank, die Nereiden sich schwimmend vereinten, die See schäumende Wogen warf und Jolaos plötzlich einen Schrei ausstieß.
»O kleiner Hirte, Hirtenknabe!« rief Jolaos, »sieh, dort drüben aus dem Südwesten nähert sich schnell wie des Zephyrs Atem die Barke meines Herrn, das Schiff des Herakles! Er ist es! Er ist es! Er vollbrachte das elfte Werk! Er pflückte der Hera goldene Äpfel, ihrer drei! Er naht sich! Sieh, die Nereiden umschwimmen sein Fahrzeug! Meer, Wind, Nereiden, alle Gunst des Poseidon treibt Herakles Hellas entgegen. Laß uns gemeinsam, du kleiner Hirte, auf unseren Flöten das Willkommenslied blasen! Die frohe Weise nach dem frommen Lied, das dankbare Lied nach dem Gebet! O mein Herr! O Herakles!«
Und über das brausende Meer erklangen in dem noch leuchtenden Sonnenschein die beiden Flöten, sang die Einzelflöte die jubelnde Weise, während die Doppelflöte mit ihren perlenden Tönen jauchzende Triller ertönen ließ, die über das schäumende Meer dem dahereilenden Zephyr entgegenklangen. Und der Held winkte mit der Hand und lenkte sein Schifflein um das felsige Riff in die schaumweiße Brandung hinein und stieg aus und umarmte Jolaos.
»O Held!« rief der kleine Hirte jubelnd, »o Held von Hellas, den ich erschaue, o Herakles, den ich jetzt erst kenne, o du kühnster Schiffer auf dem großen Meere, sage mir, warst du im Garten der Träume und hast du den Drachen und die drei Jungfrauen gesehen?«
Herakles hob die Hand. »Dort pflückte ich die drei Äpfel«, sprach er mit so wehmütigem Lächeln, daß Jolaos gerührt ward. Allein der kleine Hirte stürzte von dem Felsen herab und sah begehrlich auf die glänzenden Früchte, die der Held in der Hand hielt, und in denen sich die Glut der schon westwärts gekehrten Sonne spiegelte.
»O Herakles!« rief jubelnd der kleine Hirte, während der Held vor Glück weinend Jolaos mit dem anderen Arm an seine Brust drückte. »Nimmermehr sah ich so wunderschöne, leuchtende Früchte, und willst du, der sie pflückte, geronnene Milch und Honigkuchen in der Hirtenhütte mit mir teilen, so wird es deinem demütigen Gastgeber zum Heile gereichen, wenn diese heiligen Äpfel aus dem Westen eine einzige Nacht unter seinem Schilfdach liegen werden.«
»So gehe uns denn voran, du demütiger Gastgeber,« sprach der Held gutmütig lachend, »und deine beiden Gäste werden dir folgen.« Fröhlich tummelte sich der Knabe von dannen; die Geißen sprangen meckernd um ihn her, und in der sinkenden Nacht ging er seinen Gästen voran, während Herakles die beiden sich an ihn drängenden Rosse mit den Armen umschlang.