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Wochen waren vorübergegangen, und weder in Mykenä noch in Argos hatte man etwas von Herakles vernommen. Sogar der getreue Jolaos trauerte um seinen Herrn, der sich zornig verborgen hielt, niemand wußte, wo.
Der Held weilte im Walde. Da zog sich ein Dickicht üppiger Schlingpflanzen zwischen den Stämmen der Steineichen, der Birken, der Pappeln hin. Und der Wald war nur von Pan und Nymphen bevölkert. Denn in diesem Walde hatte jeder Baum seine Dryade, die ihn beschirmte und mit ihm lebte und webte und starb. Und des Nachts, wenn sich der Held in trübem Sinnen und voll düsterer Traurigkeit neben seiner Keule im duftigen Moose zur Ruhe legte, sah er sie durch den Vorhang der Schlingpflanzen auf den Lichtungen zwischen den Bäumen einen kunstvollen Reigen tanzen, bis sie, plötzlich erschreckt, entflohen und von dem arkadischen Bocksgott, dem Pan, verfolgt wurden. Oftmals auch sah Herakles in der glühenden Mittagsstunde des goldenen Lenzes die Dryaden hinter ihren Bäumen hervorlugen, unter denen er böse und unwillig rastete. Dann lachte er ihnen zu, und auch sie lachten, die scheuen Wesen des Waldes, versteckten sich aber sogleich wieder zwischen den schwanken, von Lenzesblütengold übergossenen Zweigen, unter denen in traumverlorener Ferne eine sonnige Wiese sich öffnete. Aber weil er träge, unwillig und finster liegen blieb und sein Lächeln sogleich wieder auf seinen Lippen erstarb und der Glanz in seinen graublauen Augen sogleich wieder erlosch, schauten sie alsbald wiederum hinter den Stämmen hervor und blickten verstohlen auf ihn und spielten mutwillig ihr heiter lockendes Spiel mit dem ruhenden Jäger, während sie am Raine entlang lachten und winkten. Er rührte sich nicht, er blieb liegen, er zürnte den Göttern, zürnte den Menschen, dem Schicksal: er blieb gleichgültig und stumpf gegen alles, was rings um ihn her vorging.
Er dachte an Deianeira, des Meleagros Schwester, die ihm im Traume erschienen war, die von Freiern und Feinden bedrängte Jungfrau. Und in seiner dumpfen Traurigkeit, in seinem grollenden Grübeln sehnte er sich vor allem nach ihrer Liebe und versagte sich den Dryaden, bis sie in Mondennächten, die silberne Fäden spannen, sich durch die Schlingpflanzen hindurch dorthin wagten, wo er, schien's, schlafend lag, und bis er sie dann inmitten aller Geheimnisse des wollustzitternden Waldes umarmte. Des Morgens entglitten sie dann beim ersten Tagesschein seinen Armen, schwebten weiß wie Schemen an den Stämmen entlang und verschwanden in dem schimmernden Laub ihrer Bäume. Oder sie wurden, wenn sie den sie sichernden Baum noch nicht erreicht hatten, von dem Bocksfuß aufgescheucht, und Herakles sah, wie der die Dryaden verfolgte, wie er sie umarmte, wie er sie unter dem goldbeschienenen Laube mit seiner Liebesglut bestürmte. Dann lächelte er belustigt, wendete sich um und schlief, an die Knorren seiner Keule gelehnt. Kaum daß er sich den langen Tag über rührte. Wie viele Tage waren bereits vorübergezogen, seit er dem Eurystheus Gehorsam verweigert hatte? Er wußte es nicht, zählte nicht die aufgehenden Sonnen. Er lag murrend oder sinnend, trübe schmachtend oder schlafend da. Oft fiel milder Regen auf ihn herab, er aber rührte sich nicht, träumte geschlossenen Auges bei der Melodie des rauschenden Regensanges und ließ sich von der durch die Blätter herabstürzenden Flut baden. Oftmals brachen die Zweige unter dem breiten Geweih eines Hirsches, der sich den Weg bahnte. Er öffnete die Augen, blickte das erschreckt stillstehende Tier an, und der Hirsch verschwand mit hohem Sprunge.
Allüberall erblühten die Blumen. Wie duftender Schnee fiel es von den Mandelbäumen, und die purpurnen Blüten der Anemonen leuchteten. Das Geißblatt streckte seine tausend goldenen Trompeten durch die weißen Wunderkelche der Schlingpflanzen. Rings um Herakles schossen in dem Grase die blauen Glockenblumen und die frohen weißen Maßliebchen auf. Es summte von Insekten, und es sang von Vögeln, und in den Nächten schluchzte der Nachtigallen Tang.
In einer Nacht, während Herakles inmitten der mondlichtübergossenen Blumen auf seiner Keule lag, sah er aus der weiten, silbergleich schimmernden Ferne eine luftige Lichtgestalt dahereilen. Sie schien in der Mondennacht nicht minder weiß wie der Mond selber. Sie hob sich von seinen Strahlen nicht minder strahlend ab wie der eigene Glanz des sommerlichen Mondes. Sie näherte sich wie mit silbernem Schein übergössen, und ihr zur Seite eilte, nicht minder behende als sie, ein leichtes, luftiges Tier. Herakles verwunderte sich und richtete sich auf seinen Ellenbogen auf. Vor der lieblichen, schnell, wunderschnell einhereilenden Gestalt waren die verstohlen ausschauenden Dryaden entflohen, und Herakles erkannte jetzt erstaunt die göttliche Jägerin, die leichtfüßige Artemis. Sie näherte sich, eine schlanke, behende Jungfrau. Die kräftigen Glieder, die denen eines Jünglings glichen, waren in Glanz getaucht, als wenn der Mondenschein sich verliebt an sie schmiegte, wie er auf den stolzen Zügen ihres Ephebenantlitzes ruhte, darum das blonde Haar sich wie ein goldener Helm zu legen schien. Von einer Schulter hing der offene Ärmel herab, über der anderen, die in silberner Nacktheit schimmerte, der goldene Köcher. Den goldenen Bogen hatte sie in der Hand. Der kurze Rock der Göttin fiel kaum bis auf ihr Knie herab, und ihre schlanken Beine eilten, eilten auf den leicht sich biegenden goldenen Kothurnen, die ihre schmalen Füße umschlossen. An ihrer Seite eilte, behende wie sie, ihre liebliche Hirschkuh, deren goldblondes Fell von silbernem Lichte übergossen war, wie die Göttin selber.
Die schnellfüßige Artemis hatte sich dem Helden genähert und stand vor der Stätte still, wo er lag, und die Hirschkuh hielt ruhig ihrer göttlichen Herrin zur Seite. Es war die Hirschkuh von Cerynitis, und Herakles sah voller Staunen von der strahlenden Göttin auf das edle Tier. Das blickte ihn mit seinen sanften, goldbraunen, fast jungfräulichen Augen ruhig und furchtlos an, als begriffe es. Herakles bewunderte die Hirschkuh; sie war so lieb, so zart und stark zugleich, wie er noch niemals eine gesehen hatte. Ihr schmaler Kopf mit dem zierlichen Maul und den leicht gezackten goldenen Hörnern, unter denen ein Paar vorstehender Augen unentwegt in die des Helden blickten, bog sich anmutig auf dem schlanken Halse gleich dem Kopf einer Frau. Die Flanken des kaum vom Atem bewegten Leibes fielen unter der flachen Brust leicht herab: ein strahlendes Haarbüschel stand wie ein Stern mitten auf dem glatten, goldig-seidigen Fell, und ihre zierlichen Füße schienen so zerbrechlich, so zart, so fein, als wären sie aus Goldglas gesponnen, waren aber dabei doch stark und nervig. Die Hirschkuh stand ruhig und still unter der Hand der Göttin da, die sie liebte wie nichts auf dieser Welt, und immerfort blickte sie den Herakles ruhig und furchtlos an, unentwegt starrten ihre jungfräulichen Augen sanft und goldbraun in die bewundernden Augen des Helden, bis Herakles endlich erstaunt und voller Verwirrung murmelte:
»Wie ist sie schön, deine Hirschkuh, o Artemis! Wie ist sie so wunderschön, die cerynitische Hirschkuh der Artemis! Wo in der Welt ward eine Hirschkuh gesehen, die der golden- und silbernglänzenden Ceryneis mit ihren goldenen Hufen und Hörnern, ihren zerbrechlichen Füßen und den haselnußbraunen jungfräulichen Augen vergleichbar wäre!«
Da sprach die Göttin, die leichtgeschürzte, leichtfüßige Artemis, die da in der Nacht vor Herakles stand:
»Höre, Herakles: wir haben dich lieb, Phöbus-Apollo und ich, so wie Athena dich liebt und Dionysos dich liebt, du unser Menschenbruder. Eurystheus hat dir befohlen, meine Hirschkuh einzufangen, doch du, o Herakles, hast dich dem Gebot deines Herrn widersetzt, weil du mir, deiner göttlichen Schwester, fromm ergeben bist. Und dennoch, o Herakles: wenn du bei deiner Weigerung verharrst, beleidigst du das heilige Orakel deines Bruders, des strahlenden Apollo, in dessen Heiligtum du bereits den Dreifuß ergriffen hast, um ihn gegen das Haupt der ihres Gottes vollen Pythia zu schleudern. O Herakles, verharre nicht länger bei deiner Ablehnung des Gebotes. Phöbus-Apollo liebt dich trotz all deiner unbändigen Triebe und beschützt dich, so wie wir alle es tun: seine Strahlen verscheuchten ja auch den erymanthischen Spuk. Beleidige nicht länger, o Herakles, den langmütigen, doch eifernden Gott; vollführe des Eurystheus Befehl und jage und fange, wenn du es vermagst, meine liebliche Hirschkuh. Artemis selber gestattet dir, ihre Hirschkuh zu jagen, sie einzufangen; doch bedenke, daß sie so zart ist, wie schnell, und verwunde sie nicht. Auch wenn du sie, die unsterblich ist, niemals zu töten vermöchtest: zerbrich ihr mit deiner ungeheuerlichen Kraft keinen ihrer Läufe, reiße ihr kein Horn aus, denn zu heilen wäre sie nicht, und niemals, o Herakles, könnte ich meinen Schmerz überwinden, so du meiner geliebten Hirschkuh Schaden tätest. Jage sie, fange sie, doch verletze sie nicht, Herakles, der du der Artemis so fromm ergeben warst. Und dann wird wiederum ein schweres Bußwerk unter den Augen dessen vollbracht sein, der dich behüten wird.«
So sprach, voller Bewegung und voller Sorge um ihre Hirschkuh, die sie liebte und doch nun der Verfolgung durch Herakles auslieferte, die göttliche Jägerin, die leichtgeschürzte, schnellfüßige Artemis, und der Held erhob voller Dankbarkeit die gefalteten Hände und wollte in Demut vor seiner göttlichen Schwester auf die Kniee sinken, um zitternd den Saum ihres Gewandes zu küssen. Doch sie war bereits in einem silbernen Nebel verschwunden, der sich einem Mondenstrahl gleich rasch nach dem Himmel hin zog. Lieblich anzusehen, so nahe, daß er sie fast berühren konnte, stand da in der Nacht die sanftmütige Hirschkuh vor ihm und schaute ihn an. Ihm wollte es scheinen, als lachten ihre Augen gleich denen einer gefallsüchtigen Frau.
»O Hirschkuh,« sprach lockend Herakles, »du liebliche, du wunderschöne mit dem glänzenden Fell und dem goldenen Gehörn, den zerbrechlichen Läufen auf goldenen Hufen und dem schalkhaft wedelnden Schwänzchen: wird mein schwerer Schritt dein luftiges Schweben einholen können, selbst wenn ich ein Jahr lang hinter dir her eile? Und wenn ich dich auch je erreichen sollte, wie könnte ich dich, liebliche Hirschkuh, wohl greifen, ohne dir ein Leids anzutun und dir ein liebes Pfötchen zu verletzen oder, ohne es zu wollen, dir ein Horn an dem schlanken Köpfchen zu zerbrechen? Hirschkuh, liebliche Hirschkuh, komm her und laß dich einfangen, ohne daß ich erst versuchen muß, es dir in raschem Laufe gleichzutun; liebliche Hirschkuh, komm!«
Allein die Hirschkuh hatte sich in schalkhafter Gefallsucht langsam, ganz langsam entfernt und trippelte, sich flüchtig umschauend, an den moosigen Felsen empor, aus denen ein rauschender Bach hervorsprang. Sie nippte zierlich von dem Wasser, leckte sich mit ihrer rosafarbenen Zunge, blickte dann auf: der Held stand da und bewunderte sie noch immer und lächelte freudig ob ihrer Schönheit. Ruhig stieg sie die Felsen wieder herab, langsam, Schritt vor Schritt, kam sie auf ihren leuchtenden goldenen Hufen näher. Sie stand jetzt, von Mondenglanz übergossen, zwischen den weißen Maßliebchen und den dunkleren Anemonen äsend in den langen Grashalmen und zog sie zwischen den Zähnen hindurch, indes sie den schlanken Hals zierlich drehte.
»Hirschkuh, kommst du denn nicht?« sprach Herakles lockend und näherte sich ihr mit ausgestreckten Händen. Allein die Hirschkuh sprang alsbald, noch bevor er ihr nahe war, lustig, als flöge sie, wieder die Felsen hinauf und verschwand im dichten Gestrüpp. »Ich werde ihr nun folgen müssen, doch nimmermehr werde ich sie einfangen.«
Sie war verschwunden, und Herakles meinte, daß es wohl leichter gewesen wäre, den Löwen, die Hydra oder den Eber zu töten, als der Artemis Hirschkuh einzufangen. Würde er wohl je diese Hirschkuh erreichen? Er wußte es nicht: der Held fühlte sich schwerfällig und müde, dünkte sich selber zu groß und zu stark, um solch ein feines Tier mit seinen mächtigen Fäusten zu greifen, ohne ihm ein Leids anzutun. Nun dachte er nach. Er legte Löwenfell, Keule, Bogen und Pfeile neben sich nieder und begab sich an den murmelnden Bach. Plötzlich sah er dort, wo der Mondschein seine silbernen Fäden spann, an einer lichten Stelle die Hirschkuh, die, bereits ferne, zu ihm hinabschaute. Und es war, als lachte sie mit ihren haselbraunen Augen, als spotte sie schalkhaft und gefallsüchtig. »Kommst du noch nicht?« schien sie zu fragen, »kommst du noch immer nicht? So fang mich doch ein, wenn du kannst!« Allein Herakles zauderte mit Absicht, bis es Tag wurde. Er bettete sich in die Anemonen und Maßliebchen und stellte sich, als schliefe er. Und als er dann unversehens aufblickte, sah er die Hirschkuh ganz in seiner Nähe. Doch sogleich war sie mit zwei luftigen Sprüngen wieder fern und verschwunden.
Rosiger Glanz füllte nun den ganzen Wald und spiegelte sich auf den Baumgruppen wider, und die Vögel trillerten in allen Zweigen, und aus allen Bäumen schauten neugierig die Baumnymphen, die Dryaden, hervor. Der Wald war erwacht, das Sonnengold floß durch das Laub und troff über den Bach, über die Felsen, über die gelben Blüten, über das Geißblatt, über die Anemonen und Maßliebchen und durch die sich rankenden Schlinggewächse. Es war ein einziges liebliches Gewirre von Sonnenglanz, Blumen, Vögeln, Blättern und Zweigen. In einem einzigen aufglänzenden Sonnenstrahl summte ein ganzes Volk glänzender kleiner Fliegen. In der weiteren Ferne, die sich wie ein Weg aus flimmerndem Lichtglanz zu der noch heller strahlenden Lichtung öffnete, stand, ferne wieder, die Hirschkuh und äugte, ob Herakles käme. Herakles entschloß sich endlich lachend. Er war nackt und frohgemut, der Herr des lieblichen Morgenwaldes, und jetzt beschleunigte er seinen zaudernden Schritt und lief auf die Hirschkuh zu. Sie sah ihn kommen. Fröhlich machte sie ein paar leichte Sprünge und blieb stehen. Wie war sie in einem einzigen Augenblick, durch einen einzigen luftigen Sprung wieder weit weg! Es mußte ein unvollbringbares Werk werden!
Jetzt lief er hinter ihr her. Sie schien sich nicht im mindesten zu beeilen. Ruhig, doch schnell trabte sie vorwärts. Der Abstand zwischen ihr und dem Jäger ward mit jeder Sekunde größer. Wie sollte er, dachte Herakles, jemals diese Hirschkuh einfangen! Und dennoch, wer weiß, mit Ausdauer ... Nun nahm er sich vor, nicht mehr zu zaudern, nicht mehr zu rasten, bevor er die Hirschkuh erreicht, bevor er sie ergriffen hätte. Und er straffte die Fäuste gegen die Brust, schöpfte tief Atem und begann auf den von Lichtstäubchen übersäten Wegen rasch hinter der Hirschkuh herzulaufen. Hin und wieder schaute sie sich um. Dann aber trabte sie leichtfüßig allzeit weiter, und wenn sie meinte, daß er an Abstand aufholte, tat sie husch, husch! einen Sprung und war alsbald am goldenen Horizont verschwunden. Herakles lief immerfort weiter, wie ein Läufer bei den Olympischen Spielen. Er lief, ohne zu hasten, immer gleichmäßig: doch sein Schritt war schwer; seine Kraft erlaubte es ihm nicht, der Luftigen nachzukommen. Seine weiten Lungen, seine breite Brust machten ihm das Atmen leicht. Er lief weiter und weiter. Er lief den ganzen Tag. Es dämmerte, und die Nacht brach herein, und nun schien er ihr näher zu sein. Plötzlich sprang sie hopp, hopp! zur Seite über das dichte Gras und war wieder zwischen Schlingpflanzen und Zweigen verschwunden.
O schalkhafte Hirschkuh! dachte Herakles. Er wand sich zwischen dem Gestrüpp hindurch. Er riß die Schlingpflanzen auseinander. Die Hirschkuh blickte schlank und lieblich durch Ranken und Gesträuch und verschwand aufs neue. Sie selber schien ihm immer anzeigen zu wollen, wo sie gerade sei. Sie erschien auf einem Hügel inmitten der Steineichen. Der Mond glänzte bereits über die düsteren Stamme. Plötzlich stieß Herakles einen Schrei aus: er war in einen Distelstrauch getreten. Er stolperte den Hügel hinab, besah seinen Fuß und zog den Dorn heraus. Höher als er stand die Hirschkuh und schaute hinab.
In der Nacht kann ich sie nicht jagen, dachte Herakles, und ermattet sank er nieder und schlief ein. Oben auf dem Hügel legte sich auch die Hirschkuh, ihre feinen Beine biegend, so leichtfüßig zur Rast, als fürchte sie, ein Glied zu zerbrechen, und es schien, als bewache sie nun des Herakles Schlaf.
Am folgenden Morgen wurde der Held durch einen feuchten Stoß gegen seine Hand geweckt. Rasch richtete er sich auf und sah, daß die Hirschkuh vom Hügel herabgestiegen war und ihn mit ihrer zierlichen Schnauze berührt hatte. Sie stand dicht bei ihm, ein Lachen lag in ihren Augen. Als er sich aber erhob, sprang sie husch, husch! davon und stand gleich wieder auf dem Hügel. Herakles kletterte hinter ihr drein. O schalkhafte Hirschkuh, dachte er wieder, am Ende fange ich dich doch noch ein!
Er wollte nun nicht mehr rasten, nicht mehr schlafen, nicht mehr nach Dornen Ausschau halten und lief, so rasch er konnte, hinter ihr her, die Lungen voller Atem, die Fäuste an die Brust gepreßt. Gleichmäßig lief er hinter ihr her, und es wollte ihm scheinen, als ginge es heute leichter und frischer. Hin und wieder schaute sich die Hirschkuh um, dann beschleunigte sie ihren Lauf. Sie eilte jetzt, sie schwebte wie auf unsichtbaren Hermesflügeln, die an ihre goldenen Hufe geschmiedet sein mußten. Sie schwebte luftig wie der Wind an dem sich windenden Bache entlang, an jeder Biegung schwebte sie, selber biegsam, vorüber. Sie trabte über eine unter der Sonnenglut brennende Ebene, und die Bewegung ihrer Füße war nicht mehr zu sehen. Ihr Trab war wie ein rasches Schweben. Sie schaute sich um und schwebte weiter.
Herakles lief nun bereits drei Tage hinter ihr drein, ohne zu rasten. Der Schweiß floß dem Helden über die Glieder wie nicht enden wollender Regen. Doch statt sich müde zu fühlen, glaubte er, selber stets leichtfüßiger zu werden. Es schien ihm, als ob die Hirschkuh vor ihm zu keuchen beginne. Ihre feinen Flanken hoben und senkten sich auf und ab, auf und ab. Sie war mit goldglänzendem Schweiße bedeckt. Die Nacht brach herein, und noch immer trabte sie weiter, und Herakles eilte hinter ihr drein. Sein Körper schien kein Gewicht mehr zu haben, seine Füße schienen nichts anderes mehr tun zu können, als ihn rasch und immer rascher vorwärts zu tragen. Eine ganze Nacht hindurch eilte er am Strande des Meeres entlang hinter ihr drein. Einen ganzen Tag eilte er durch eine Sandebene hinter ihr drein. Sie stürzte sich in den Strom, und er schwamm ihr nach. Der Abstand zwischen Herakles und Hirschkuh ward sichtbarlich geringer. Nicht mehr schaute sie sich gefallsüchtig um, sie vergewisserte sich nur noch, wie weit er nun hinter ihr bliebe, machte dann eine verzweifelte Anstrengung, ihre erste schwebende Schnelligkeit wiederzugewinnen: keuchte aber, keuchte hörbarer. Ihre armen Flanken schienen zu schwellen, zu bersten, ihre Zunge hing blut- und schweißtriefend aus ihrem schmerzenden Maule. Allein sie eilte vorwärts, eilte immer weiter und bewegte wieder und wieder angstvoll ihr Schwänzchen. Herakles sah nun, wie sie im Bogen zum Walde zurück wollte. Immer näher kam er ihr. Jetzt strauchelte sie, stürzte – und noch kleiner wurde der Raum zwischen ihr und ihm. Sie hatte sich rasch wieder aufgeholfen und eilte weiter, weiter. Jetzt strauchelte sie wieder, fiel auf beide Vorderläufe, riß sich mit ihrer letzten Kraft empor, doch erschöpft strauchelte sie zum drittenmal. Herakles war nun mit einer einzigen Bewegung hinter ihr her, auf sie zu gestürzt, hielt seine Kniee auf ihre Flanken, faßte mit der Hand nach ihrem Gehörn. Sie lag unter ihm und reckte den keuchenden Hals, den er ihr nach rückwärts bog, dieweil seine beiden Fäuste jetzt um ihr goldenes Geweih lagen. Ihr einer Vorderlauf war verstaucht, der andere lag gekrümmt unter ihren keuchenden Flanken. Eines der Hinterbeine war völlig gestreckt, das andere schmerzhaft zitternd zur Seite gebogen. Der Held erschrak. Wenn er ihr einen Lauf zerbrochen, ein Horn verbogen hatte? Er ließ sie los, erhob sich, und rasch durchzuckte ihn der Gedanke, daß er sie lieber entspringen sehen als ihr ein Leids antun würde. Sie aber lag keuchend, schwer keuchend im Moose. Ihre herausquellenden Augen waren blutunterlaufen. Blutiger Schaum hing um ihr Maul und troff von ihrer zitternden Zunge herab. Allein ihr zierliches Geweih reckte sich hoch auf, es war fast so verzweigt wie das eines Hirsches, und ihre schlanken Beine, die nun von des Jägers Gewicht beschwert gewesen, schienen, so zart sie waren, doch nicht zerbrochen zu sein. Unruhig wedelte das Schwänzchen hin und her.
Herakles kniete nieder, umfaßte sie mit beiden Armen »O Hirschkuh!« rief der Held aus, und auch er keuchte jetzt. »O wunderschöne, schalkhafte, kräftige, frische, der Artemis geliebte Hirschkuh, habe ich dich eingefangen und dir dabei kein Pfötchen zerbrochen, dir kein Horn ausgerissen? O liebliche Hirschkuh, habe ich dich nun endlich ergriffen? Tag auf Nacht, Nacht auf Tag bin ich hinter dir hergejagt, ich weiß nicht mehr, wie viele Tage und Nächte, und jetzt, o Hirschkuh, liegst du sicher in meinen Armen gefangen, und wir sind beide müde, o so müde, so müde! Komm denn, Hirschkuh, und laß dich in meinen Armen, an meiner Brust tragen, denn der Sieger ist stärker als die Besiegte.«
Und Herakles hob die arme keuchende Hirschkuh auf seinen Armen empor und stützte ihre ängstlich zitternden Flanken zärtlich mit seinen Händen. Sie ließ das alles mit sich geschehen wie eine todmüde entführte Jungfrau. Sie gab sich ganz willenlos ihrem Sieger hin. Sie lag keuchend, doch ohne sich zu widersetzen, in seinen starken Armen, und ihr Kopf mit den heraustretenden Augen und der blutigen Zunge hing nieder und ruhte auf des Herakles lockigem Scheitel. – Er erreichte mit ihr die Stelle, wo sie ihm zuerst an der Seite ihrer Göttin erschienen war, und bettete sie behutsam in das blumige Gras. Sie sah ihn jetzt ruhiger und flehentlich an, und der Held leerte seinen Köcher und füllte ihn mit dem Wasser des Baches, und mit den hohlen Händen schöpfte er Wasser, wusch sie, labte sie: mit den feuchten Händen strich er ihr den Schaum von den keuchenden Flanken und küßte sie auf ihr noch feuchtes, zuckendes Maul. Und sie leckte ihn mit ihrer weichen Zunge, die zwischen den perlenweißen Zähnen hervorkam.
Durch das Blätterdach senkte sich eine schwüle Nacht herab. Im Walde begann es zu dunkeln. Auf den schattenübergossenen Laubmassen war Herakles in schweren Schlaf gesunken, ohne daran zu denken, daß die Hirschkuh ihm entspringen könnte. Und die Hirschkuh selber war ihm zur Seite in Schlaf gesunken, das müde Köpfchen ruhte auf des Herakles Schenkel, die jungfräulichen Augen waren geschlossen, während der Atem in dem schlanken Halse und den zarten Flanken ruhig kam und ging.