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Ist jemals eine Reise ermüdender und trostloser als die, welche durch das gleiche, einst unbekannte, nun aber nicht mehr unbekannte Meer führt? Durch das Meer, das der nun mutlos gewordene Reisende vorher schon zum ersten und zum letzten Male zu durchqueren glaubte – und durch den bereits einmal durchwateten roten Wüstensand, darinnen niemals ein Wässerlein floß, hin zu den weißen Türmen und Zinnen, den weißen Städten entgegen, die in weißen Wäldern voll tief herabhangender, langer Fächerblätter an dünnen durchsichtigen weißen Stämmen auftauchen? Städte und Wälder, die, wenn sich der Reisende nahet, verschwinden, davonschweben, immer weiter und weiter dem Horizont entgegen! Die Reise, die endlos, endlos währt und durch die schon einmal erschauten Nächte voll umherwirbelnder Funken und schwebender Feuerzungen, durch die rosigen Morgen voller lichten Glanzes führt, darinnen die nämlichen Traumtiere wieder durch die nämlichen Haine irren: riesengroße Mammuttiere, schweifschleppende Chimären, Sphinxe und Greife und Lemuren, und mitten zwischen ihnen allen Falter, wie Vögel so groß, und ungeheure Skarabäen, deren gesprenkelte Schilde sich dunkel von der Sonne abheben. Bis zur Ohnmacht erschöpft, schritt Herakles durch die nämlichen seltsamen Traumvölker, durch wilde Wimmelhaufen schwarzer Wesen mit weißen Augen, weißen Zähnen, roten Mündern, roten Kehlen, die Federn rings um die Hüften trugen und Vogelmenschen gleich waren, die schrill schrien. Allein sie erkannten den Helden wieder und flohen vor ihm, er aber überdachte, daß sie ihn, wenn sie nicht vor ihm geflohen wären, vielleicht erschlagen hätten... Er war sehr müde, und sein Fuß schritt matt einher und schleppte sich am Gestade des Meeres hin, und immer wieder stützte er sich auf seine starke Keule wie ein Wanderer auf seinen Stab. Gleichgültigkeit erfüllte sein Herz, als Helios ihm von neuem scherzend die scharfen Pfeile in Schädel und Nacken bohrte, daß dem Helden schwarz vor den Augen ward. – Jetzt wurde er nicht mehr halb wahnsinnig vor Schmerz, allein so vorwurfsvoll richtete er den matten Blick zu Helios empor, daß dieser mitleidsvoll seinen roten Glanz in Nebel hüllte und sogleich das goldene Zauberschifflein, das aus kaum zwei, drei Abendsonnenstrahlen zusammengefügt war, durch die Lüfte herabgleiten ließ. Dankbar und todmüde ließ sich der Held darin nieder, und das göttliche Sonnenschifflein schoß leuchtend gen Westen.
Nun sah Herakles ganz gerührt die vier Säulen wieder, die er zu einem rohen Tempel zusammengefügt, und er betete, Hände und Arme weit ausgebreitet, zum göttlichen Vater, zu den göttlichen Brüdern und Schwestern, und seine Müdigkeit beugte ihm den Rücken, der doch noch immer breit war wie ein Wall und stark, und seine gespreizten Finger zitterten, während die Keule, als wäre sie müde nach so vielen bereits vollführten Werken, an des Helden Schulter lehnte. Seine Augen hoben sich matt, sein bebender Mund verzerrte sich bitter unter dem goldfarbenen Barte, in dem bereits silberne Fäden zu glitzern begannen.
Allein des Helden müde und matte Seele war voller Dankbarkeit, als er jenseits des schmalen Deiches, in den schäumenden Wogen des Ozeans das göttliche Sonnenschifflein rötlich leuchten sah. Im Westen breitete sich dort, bis gen Süden, die ewige Weltennacht, und diese Nacht war nicht wie die bekannten Nächte der anderen bekannten Welt, nicht wie die Nacht, die mit dem Tage wechselt und wohltätig ist wie eine Mutter: diese Nacht war die unbekannte Traumnacht, die aus des Hades eigenem Reich emporsteigt, die sich mit den wirbelnden Wassertrichtern und den Strudeln voll wühlenden Gischtes dort drüben an dem westlichen Weltenhorizont vereint. Hinter jenem Horizont ist das Nichts. Im Norden schimmerte flüchtig Eurythia, das Eiland, das jetzt nicht mehr von Herden roter Rinder bevölkert ward, seit Herakles sie für Eurystheus raubte...
Herakles hatte den anderen Saum des Deiches erreicht und setzte sich in das Schifflein. Durch die Weltennacht leuchtete es wie Kupfer so rot und wiegte sich auf den Wellen, den Wellen des Weltmeeres und des Höllenozeans, der wogenlos und unergründlich, ein Abgrund voller Ungeheuer, sich zum Tartaros hinabzieht. Wo im Norden zwischen dem Deich und Eurythia die Wogen nur über niedrigen Sand hinwegfließen, da hatte Herakles sie mit den Rindern durchwatet. Wie er jetzt im Süden im Schifflein über sie dahinfuhr, schien die sausende, schwindelerregende Tiefe, die fürchterliche Tiefe ihn hinabziehen zu wollen. Er wagte es nicht, auf das Meer zu schauen: er richtete die entsetzten Augen immer höher und ließ sich in dem Schifflein treiben, denn seine Kundigkeit im Seefahren war hier nutzlos. Hier schützten ihn nur Helios und Hades: er aber wußte, daß die Götter ihm günstig seien. Und wenn sie ihm und seinen Werken nicht weiter günstig wären, nun wohlan: was läge denn daran, endlich, endlich, müde des allzu schweren Werkes, sich in die salzige Tiefe hinabzustürzen, auf daß alles zu Ende sei? Was läge denn daran, ach, Hellas niemals wiederzusehen, Deianeira und Jolaos, die getreue Frau und den getreuen Freund, niemals wiederzusehen? Ein Ende ist allem gesetzt, vielleicht gar auch den Unsterblichen? So müßte denn auch ihm, dem Göttersohn ohne göttliche Rechte, ein Ende beschieden sein.
Und dennoch: diese brodelnde Tiefe, diese wirbelnden Strudel, diese Trichter voller Gischt, zwischen denen das Schifflein sich hindurchwand, ohne sich hineinziehen zu lassen, gleich als ob Helios selber sein beinahe schwebendes Zauberschifflein leite – diese Tiefe, diese schwirrenden Strudel, diese Trichter: entsetzlich dünkten sie den jetzt ganz willensmüden Helden, wie ihn niemals etwas gedünkt hatte: kein Löwenrachen, keine Hydrazunge, kein Eberzahn, kein Vogelfederpfeil, kein Stallgestank, kein Stierhornstoß oder Pferdebiß oder was sonst ihm begegnet sein mochte ... Oh, ihn schwindelte, ihn schwindelte grauenhaft! In ihm war etwas, das er – dessen wurde er sich trotz seiner müden Gedanken bewußt – eigentlich noch niemals gekannt hatte: Schwindel vereinte sich in ihm mit Angst. Der Held ängstigte sich, er klammerte sich fest an die schlanken Flanken des Schiffleins, das hin und her geschleudert vorwärts schoß, und schloß die Augen. Und plötzlich fühlte er sich still und unbewegt und nicht mehr schwindlig. Die bangen Augen öffnend, gewahrte er, daß er am Strande auf einem flachen Felsen lag. Nacht war um ihn. Eine unermeßliche fahle Nacht, die sich weithin dehnte, dehnte, endlos dehnte ... Nacht ohne Sterne. Und tief, tief unter des Herakles Blicken lag das Meer, das entsetzliche Meer, so tief, daß seine Schaumkronen nicht mehr sichtbar waren, sondern daß es schien wie eine endlose, endlose Fläche.
Herakles schaute sich um, schaute empor, schaute hinab. Dies war nicht mehr die ihm bekannte Welt. Dies lag außerhalb der Welt, war etwas Entsetzenerregendes. Und dennoch: er hatte nicht mehr das Gefühl des Schwindels. In ihm war Nutze. Tief atmete er auf. Vielleicht, dachte er, bin ich tot. Vielleicht wird alsbald Hades erscheinen, vielleicht werde ich bald die Schatten sehen, die über die Wasser irren, über die herrlich ruhigen, tiefen, tiefen Wasser.
Plötzlich hörte er unter sich ein Knurren. Es klang menschlich und doch wieder nicht menschlich. Aber was es auch sein mochte: er war nicht allein, unter ihm war jemand. Wiederum, wiederum knurrte es! Deutlich war es unter dem Felsen wahrnehmbar! Um es zu ergründen, kroch Herakles näher über die flache Steintafel heran, auf der er lag, und schaute abwärts – in die tiefste Tiefe hinein. Anfangs packte ihn ein unwiderstehlicher Schwindel, doch dann ermannte er sich, und nun wollte es ihm plötzlich scheinen, als ob er mit anderen als menschlichen Augen in die Tiefe schaute, und er sah, sah jemand und konnte kaum glauben, daß er ihn wirklich sah ...
In der fahlen, weißen Weltennacht sah er einen riesengroßen Titan, der größer war als er selber; gebückt stand er da und schien auf dem bergesbreiten Rücken etwas zu tragen und im Gleichgewicht zu halten. Und der Titan wölbte die Schultern, beugte den Nacken, hielt die mit hügelgleich schwellenden Muskeln bedeckten Arme gebeugt empor und breitete die großen Handflächen aus, als trüge er ... Was er trug, sah Herakles nicht, doch wohl hörte er, daß der Titan zornig brummte. Er brummte, wenn er die Füße bewegte, wenn er das eine Bein erst und dann das andere leicht beugte und sich flüchtig in den Hüften wiegte, gleich als verschiebe sich das schwere Gleichgewicht dessen, was er da hoch in den Händen hielt.
Rings um ihn webte sichtbarlich mit grauen Ätherwogen die Weltennacht. Und Herakles fragte, über seine eigene Stimme entsetzt, wie ein Kind einen Riesen gefragt haben würde, der ihm im Traum erschien: »Wer bist du?«
Der Titan unter ihm blickte auf und antwortete auf des Herakles Frage: »Wer bist du selber denn, der du von dort oben mir in den Weltentag schaust?«
»Ich bin Herakles,« antwortete der Held, »und ich bin auf dem Wege zu meinem elften Werk.«
»Glaubst du etwa, daß ich jemals von dir gehört habe,« brummte der Titan, »und von deinen zehn Werken? Du mußt schon ein vermessener Sterblicher sein, um zu wähnen, daß sie mich kümmern könnten. Ich bin Atlas, und mein erstes Werk war, daß ich mit meinen Brüdern gegen den Olymp und die Götter anstürmte: allein Zeus schleuderte mich in den Tartaros herab. Mein zweites Werk bestand zur Strafe für meinen Übermut darin, daß ich die Erdkugel schleppen und sie auf dem Joch meiner Schultern tragen muß. Und mein drittes und letztes Werk wird es sein, die Erdkugel von mir zu werfen, sobald ich es vermag. Doch wann wird dieser Tag kommen? Wenn ich sie von mir werfe, werden ihre kristallenen Scherben auf mich herniederprasseln, und die Sterne werden mich verbrennen ...«
»Die Sterne?« fragte Herakles.
»Wähnst du denn, daß keine Sterne rings um die Erdkugel stehen, weil du sie bei Tage nicht siehst?« brummte der Titan.
»Bei Tage?« fragte erstaunt Herakles.
»Ist es denn nicht Tag zu dieser Stunde?« fragte höhnisch Atlas.
»Ich glaubte, dies sei die Weltennacht,« antwortete Herakles unterwürfig.
»Viel eher, du Tor,« brummte Atlas, »könntest du diese Dämmerung den Weltentag heißen, wenngleich der Tag durch den Schatten der Erdscheibe grau ist. Allein die Nacht, die Weltennacht, wird im Lichte der nämlichen Sterne leuchten, die du jetzt durch diese Dämmerung nicht siehst.«
»Ich verstehe dich, o Atlas«, sprach Herakles. »Wiegt die Himmelskugel schwer?«
»Minder schwer, als es scheint, du Vollender so vieler Werke. Denn der Sterne Gleichgewicht läßt mich ihre Schwere nicht fühlen, und die Kugel selber ist wie eine Glasblase, die ich gern an etwas Hartem in Scherben stoßen möchte. Allein dieses Harte ist nicht da, und auch wenn es da wäre, so würden dann doch die Scherben mich in Stücke schneiden. So trage ich denn meine Kugel und mein Schicksal, wo nicht du, o Werkereicher, mir den Himmel einstmals auf deine Schultern abnimmst, die ich, breit wie die meinen, ihren Schatten über mich werfen sehe.«
»Ich werde es nicht können, o Atlas,« sprach Herakles, »doch sage mir, weißt du, wo sich der Garten der Hesperiden ausbreitet?«
»Was hast du in dem Garten der Töchter der Nacht zu suchen, du Werkevollbringer?« spottete Atlas, und Herakles sah, daß er die Achseln zuckte, gleich als verschiebe er mit den beiden geöffneten Handflächen ein schweres Gewicht, während es durch das Dämmern zu leuchten begann.
»Ich soll, o Atlas, dort drei goldene Äpfel von dem Baum rauben, den Gäa aus ihrem Erdenschoß ersprießen ließ, als sie Hera ihre Hochzeitsgabe verehren wollte. Ich soll dort, o Atlas, aus dem Brautschatz der Göttin selber drei Äpfel rauben!«
»Ein schweres Werk, o Werkgewaltiger, denn wenngleich die Töchter der Nacht allzeit in beschaulichem Traume befangen sind, so ist doch der hundertköpfige Drache nicht schläfrig, sondern bläst aus hundert Mäulern seine Feuerglut. Lieber trage ich die Erdkugel, als daß ich solchen Raub vollführen müßte.«
»Auch mich, o Atlas, dünkt dies Werk schier unausführbar,« fuhr der Held wehmütig fort, »und dennoch bleibt mir nichts anderes übrig, als daß ich es zu vollbringen suche, wenngleich Herakles sicherlich diesmal unterliegen wird. Und darum, o du Träger des Weltalls, sage mir, wo findet der Werker den heiligen Hesperidengarten?«
»Gehe«, so sprach der Titan, »am Rande der Erdscheibe entlang gen Westen. Und plötzlich wirst du in der Weltennacht, die dann im Sternenschein leuchten wird, eine Halbinsel emporragen sehen, die da draußen schwimmend umherzutreiben scheint wie eine Wolke, und rings um diese Wolke wirst du die Glut des Feueratems aus den hundert Köpfen des Drachens gewahren.« Und wiederum rückte sich der Titan seine Last auf der Schulter zurecht, indes er mit beiden Händen die Wand des klaren Kristalls umklammerte, so daß es unsichtbar ward.
»Ich danke dir, o du Träger des Alls«, sprach wehmütig Herakles und wollte sich aufrichten, blieb aber vor heiligem Staunen auf den Knieen liegen und breitete die Arme und Hände weit aus, als bete er. Denn rings um ihn waren leuchtend die Sterne aufgegangen, und sie funkelten so hell und waren ihm so nahe, daß sie flammenden Feuerkugeln glichen, und zwischen diesen Feuerkugeln sah der Held entsetzt die glänzenden Abbilder aller der Wesen wimmeln, die über die wunderbaren Sterne herrschen. Nachdem Leben und Schicksal ihnen grausam gewesen, strahlten sie jetzt schwebend im ewigen Glanze und lebten ein Leben voll seliger Glorie. Herakles sah den blondlockigen Knaben Hesperos mit der Fackel in der Hand dort, woher der Abendstern seine langen zitternden Strahlen schoß. Er sah vor allem die helleuchtenden Gestirne des das Weltall umgürtenden Tierkreises und die Glanzgestalten, die seine strahlenden Gebilde beherrschten: Bock, Stier, Krebs und Löwe: er sah die Sterngötter, zu denen der liebliche Schenke Ganymed und die zwei schönen kräftigen Dioskuren geworden waren, und er sah den riesigen Jäger Orion mit seinem flinken Jagdhund Sirius und die keusche Jungfrau Asträa. Er sah Fische und Steinbock, Wagschale und Skorpion. In der kristallenen Unermeßlichkeit der Himmelskugel, die Atlas trug, wimmelte es rundum von heller und heller aufleuchtenden Wesen und goldflammenden Tieren, und durch den himmlischen Äther zogen träumend Bär und Bärin, Kasseiopeia mit ihrer Tochter Andromeda, der Schlangenträger Asklepios: ein Gewimmel hellen Schein ausstrahlender seliger Gestalten ... bis Herakles plötzlich in ihrer Mitte das weiße Leuchten der Flut von Heras heiligen Milchtropfen gewahrte, die ihrer Brust entflossen waren, als er selber ihr von der listigen Athena, die über der Alkmene Kind wachte, an die Götterbrust gelegt worden war. Trunken von dem Anblick so leuchtenden Glanzes erhob sich endlich Herakles, und seine Kniee zitterten an diesem Tage, der die Nacht war, und den das menschliche Auge von Hellas und Libyen aus nur matt und verschwommen zu erraten vermochte.
Umglüht und geblendet von dieser seligen Helle, entsann sich der Held der Worte des Atlas und schritt am Rande der Erdscheibe entlang gen Westen. Plötzlich sah er, wie aus dem in Glanz gebadeten strahlenden Morgengrau eine Halbinsel sich erhob und schwebend auf den leichten Wellen trieb gleich einer Wolke. Und rings um diese Wolke lachte eine rote Glut wie der Widerschein unterirdischen Feuers, und Herakles sah, daß rings um die Halbinsel hundert Drachenköpfe sich ringelten, und daß der Drachenkörper sich unter der schwebenden Halbinsel selber schlängelte und wand. Seltsam ward es dem Helden zumute, während er der Grenze von Welt und Unterwelt, Erdscheibe und Himmelskugel näher schritt: doch es war, als habe der Sternenglanz ihn mit seligem Rausche erfüllt, und seine mutlose Müdigkeit vergessend, eilte er auf die schwebende Halbinsel zu, die der Garten der Töchter der Nacht, der träumenden Hesperiden, war.
In diesem Meer von Glanz, in der Glut des Drachenatems blieb die Insel kühl und grün und grau und nachtfarben; immer und immer blieb dort der kühle Garten, der ruhige Hain der Träume. Die Bäume, die Herakles nicht zu nennen vermocht hätte, erhoben ihre Laubdome ruhig in dem reinen Winde, und ihre zitternden Umrisse wurden in diesem güldenen Glanze sichtbar. Allein inmitten dieser Bäume erhob sich der allzeit Früchte tragende Apfelbaum, den Gäa der Hera geschenkt hatte: ihr Hochzeitsgeschenk, als die Göttin dem Gott sich vermählte. Dort, wo alles Irdische ein Ende hatte, erwuchs dieser Baum; dort, wo alles Himmlische seinen Anfang nahm, ließ dieser Baum üppig seine rosigen Blüten aufgehen; umwoben vom ewigen Traum seiner Hüterinnen, der drei Töchter der Nacht, welkte der Baum nicht dahin, sondern seinen Blüten entsprossen immer und immer fort die heiligen Früchte, die göttlichen Äpfel aus eßbarem Golde, das geheimes Wissen verleiht, in beschaulicher Betrachtung gewonnen ...
Herakles hatte sich, ganz trunken von Licht, genaht. Um den schweren Stamm des heiligen Baumes sah er die schimmernden Gestalten der drei göttlichen Jungfrauen: eine stand und streckte die weiße Hand nach einem der Äpfel aus, gleich als fühle sie, ob die Frucht reif sei. Die andere saß auf einer Wurzel des Baumes und starrte gedankenvoll über das Weltenmeer. Der dritten Haupt ruhte im Schoß ihrer sitzenden Schwester und starrte in die Sterne hinauf. Und ihre weißen, nackten Nymphenglieder waren von langen, nachtdunklen Locken umwallt, die bis auf die Fersen hinabhingen, so daß sie kaum nackt erschienen, sondern von nachtfarbigem Schimmer umkleidet waren, indes der feurige Odem der Drachenschlünde rings um sie den rötlichen Dampf nimmermehr erlöschen ließ.
Der Held trat näher, immer näher. Dort, wo sich die schwebende Halbinsel an die Erdscheibe heftete, ringelten sich unzählige Feuerdampf ausspeiende Drachenköpfe über dem schmalen Deich, der das Weltmeer durchschnitt und zu dem göttlichen Garten führte, und obzwar Herakles von dem Wunsche beseelt war, daß ihm das Werk gelingen möchte, so zweifelte er doch daran, daß er jemals durch dieses Gewimmel von Drachenhälsen, durch diese ungeheure Menge von Drachenköpfen, durch diesen Brodem aus Drachenschlünden hindurchgelangen könnte, um die drei geweihten Äpfel zu pflücken, bis er Zeus in sich mächtig fühlte, der ihn beseelte und den rechten Gedanken in ihm weckte. Und nun trat er zur Seite, spannte seinen Bogen und richtete den Pfeil auf die Drachenbrust, die er fahlgrau, schuppenlos, verwundbar, unter der Halbinsel selber hervorgereckt sich atmend heben und senken sah; der Drachenschweif hing herab und peitschte unablässig die leicht schäumenden Wogen. Und er zielte und schoß fast übermütig den Pfeil in das keuchende Herz des Untiers, schoß übermütig einen zweiten, einen dritten Pfeil ab, bis zehn Pfeile in dem Drachenherzen staken und der Schweif nicht mehr ringelnd herabhing, sondern sich glatt über die Wasserfläche legte und die vielen Köpfe an den vielen Hälsen wie Blumen auf schlaffen Stengeln hinzuwelken schienen und sich herabneigten, während die rötliche Glut um die Halbinsel erlosch. Und Herakles war verwundert, daß er gar so leicht den Drachen gefällt hatte, und ging, in seinem Staunen noch immer schwankend, Schritt für Schritt über den schmalen Deich, allzeit das Ende und Heras jählings ausbrechende Rache fürchtend. Allein nichts regte sich in der Nacht der Träume unter den funkelnden Sternen, und Herakles näherte sich dem Baume, um den die Jungfrauen kaum ihre Haltung änderten, während sie ihn furchtlos aus ihren traumerfüllten Augen anstarrten. Und in ihrer Mitte erfüllte von neuem Angst des Helden Seele, so wie er niemals noch Angst empfunden zu haben meinte, weder vor dem Löwen, noch vor der Hydra oder dem Eber. Und er ließ seine beinahe zitternde tiefe Stimme ertönen und fragte: »O ihr göttlichen Jungfrauen der Nacht, o ihr heiligen Hesperiden, o ihr Träumerinnen, ist es möglich, daß ihr dem Herakles vergönnt, drei Äpfel von der Hera eigenem Baum zu pflücken?«
Allein die heiligen Träumerinnen antworteten nicht und starrten Herakles nur an, als schauten sie ihm in die zitternde Seele, und der Held entsetzte sich vor Angst ob ihrer nachtdunklen Blicke und zitterte. Nun meinte er jeden Augenblick, Hera wuterfüllt aus dem Zenit herabschweben zu sehen, um ihn mit des Zeus eigenem Donnerkeil zu vertilgen. Doch nichts hatte die heilige Stille gestört außer des Herakles eigener Stimme, und jetzt – jetzt wagte er es, den Arm zu erheben und die zitternde Hand nach einem der glänzenden Äpfel auszustrecken. Er pflückte den Apfel und brach dann, wie sein Mut wuchs, den zweiten und den dritten. Dieweil er pflückte, waren Keule und Bogen ihm entfallen und standen an den Baumstamm gelehnt. Weil er unbewaffnet war, wagte er vor Angst kaum zu atmen und schaute sich bangend um, wie ein Räuber, der sich fürchtet, und fühlte immerfort, wie die Blicke der schweigenden Jungfrauen ihm in die zitternde Seele drangen, bis er plötzlich die eine der Jungfrauen sagen hörte: »Der Drache ist von dem Helden getötet...«
»Doch er wird im Licht wiederaufleben,« flüsterte die zweite Jungfrau.
»Die drei Äpfel sind vom Helden gepflückt worden ...«
»Doch sie werden am nämlichen Zweige wieder reifen,« raunte die dritte Jungfrau.
»Das Schicksal ist durch den Helden erfüllet.«
»Der sich der Erfüllung seines eigenen Schicksals nähert...«
»Heldenfuß betrat den heiligen Garten...«
»Den Menschenfuß nimmer wieder betreten wird...«
»Und niemals wird der Mensch um das heilige Geheimnis wissen...«
»Und selbst die Götter werden es kaum wissen...«
»Bis sie in die heilige Nacht eingezogen sind...«
»Die der Tag alles Wissens sein wird...«
Herakles hatte es gehört, aber nicht verstanden. Sein Herz klopfte hörbar in seiner breiten Brust. Er ergriff Keule und Bogen und schritt über den Deich davon und fühlte noch immer im Rücken die durchdringenden nachtschwarzen Augen der Jungfrauen, die ihm folgten. Neugierig wollte er jetzt selber sehen. Schaute sich ängstlich hinter dem breiten Wall seiner eigenen Schultern um und erschrak heftig und stieß einen Schrei des Entsetzens aus, der die heilige Stille zerriß.
Denn er sah, wie der Drache im Licht wiederaufgelebt war. Der Drache, aus funkelnden Sternen wiedergeboren, umschlang mit seinen hundert feuerglänzenden Köpfen, mit seinem Glut ausstrahlenden, sich windenden Leibe, mit seinem Schweif aus grellen Feuerschuppen wiederum die Halbinsel. Der Drache, ein Gestirn jetzt an des Atlas kristallklarer Himmelskugel, umfing mit breiten Feuerflügeln den himmlischen Garten, darin die heiligen Jungfrauen, die träumenden Hesperiden, ihre Haltung kaum verändert hatten... Und als der Held solches Wunders ansichtig ward, stürzte er vor Entsetzen in dem Taumel, der ihn umfing, bewußtlos zu Boden. Er lag, über die knorrige Keule gelehnt, wie auf den Knieen eines Freundes. Mit der einen Hand hielt er schlafend die heiligen Äpfel umklammert und träumte. Ihm träumte, daß er die Äpfel erst noch rauben müsse, es aber nicht wage, weil heilige Angst ihn erfüllte, und daß er den Titanen bäte, die Äpfel im Garten der heiligen Träumerinnen für ihn zu pflücken. Und ihn träumte, daß der allzeit brummende Atlas ihm, Herakles, die Himmelskugel auf das Joch seiner Schultern lüde, und daß jetzt er sich wiegend und von links nach rechts schwankend dastände und die Sternenkugel im Gleichgewicht zu halten suchte...
Als er erwachte, umgab ihn das Tagesdämmern des Weltenalls. Die Sterne sah er nicht mehr, den Drachen sah er nicht mehr am weiten grauen Himmel. In den kaum vom Tagesschimmer erhellten Schatten des Gartens sah er wie im Dämmer die drei bleichen Jungfrauen. Ihre Haltung hatte sich kaum verändert.
Herakles schlich voll heiliger Angst von dannen, zu dem fernen, fernen Osten, zu der Welt, nach Hellas, zu den Menschen, zu Eurystheus...