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Oh, die Wonne, daheim zu sein. Oh, die Wonne, nach Trachin am Fuß des Oita zurückgekehrt zu sein. Oh, die Wonne, die Lande und Weiden und Wälder wiederzusehen, die der König Ceyx ihm geschenkt hatte! Die vollen Ähren unter den blitzenden Sensen fallen, die strammen breiten Rinder auf den hochhalmigen Wiesen grasen zu sehen! Auf den grünen Hängen der Hügel die Hirten und Hirtinnen ihre schwereutrigen Ziegen und wolligen Schafe werden zu sehen, zu sehen, wie die Dolden des Dionysos die eichenen Säulen des niedrigen Landhauses schwellend umrankten! Und oh, die Wonne, Hyllos jauchzen zu hören, wenn Deianeira ihn an ihren Händen dem Helden entgegenführte! Die Wonne, Hyllos hoch auf den Händen emporzuheben, froh, daß er geboren war, froh, daß es dem allzeit Umherirrenden vergönnt schien, Heim, Habe, Gattin und Nachkommenschaft zu besitzen! Es war ein sanftes Glück, das nicht laut jubelte, aber es war Glück, war die Ruhe inmitten aller, die ihn liebten: Frau und Kind und Bauern, inmitten von Hirten und Landleuten und Schäfern, bei Iolaos und Iole. Noch verweilte Oichalias Fürstentochter, die sich als Sklavin des Helden erachtete, in Trachin. Noch verweilte sie, bis die großen Dankopferfeste zu Ehren der gütigen Götter, zu Ehren des Zeus und des Apollo, der Artemis und der Athena, der Aphrodite und des Dionysos vollbracht sein würden. Deianeira war stolz darauf, daß sie alle dem Herakles günstig waren: der göttliche Vater, die göttlichen Brüder und Schwestern, ungeachtet des Hasses der unversöhnlichen Hera, und sie rüstete kostbare Opfer und Feste. Hundert weiße Stiere wurden in des Zeus Eichenwald geopfert, Reinigung und Sangeswettstreit zu Ehren Apollos in dem Lorbeerhaine vollzogen, wo sich das Bildnis des Gottes erhob. Ein reichgewebter Peplos wurde feierlich in dem Olivenhof der Athena ausgelegt. Der Jungfrauen Reihen zog sich um das Heiligtum der Artemis, deren Priester derzeit dem Herakles heilsamen, heilenden Balsam bereitete. Das Rosenfest der Aphrodite, das Traubenfest des Dionysos folgten. Bis zum Anfang des goldenen Herbstes währten die Feste, wurden die köstlichen Dankesopfer dargebracht, und Deianeira, die den Göttern dankbar und stolz auf ihre Gunst war, dachte zugleich voll weiblicher List, daß sie durch eine so große Anzahl frommer Feste Herakles in seinem Heim zurückhalten könne, bis er völlig genesen sei. Denn wie ein Schleier lag es noch über seinem Hirn und wollte sich von seinem Gedächtnis nicht mehr heben. Er hatte vergessen. Dennoch glaubte er, daß längeres Weilen ihm nicht vergönnt sei, und daß Eurystheus ihn zu dem neunten Auftrag erwarte. Und zugleich gedachte er zärtlich der Admete, vermochte sich aber nicht daran zu erinnern, um was sie ihn gebeten hatte.
Allen ringsum hatte Deianeira befohlen, zu verschweigen, was Herakles vergessen hatte, und nicht der Hippolyta Gürtel zu erwähnen, bevor Athena und Apollo selber des Herakles Geist erleuchteten. Inmitten der frommen Feste schaute Deianeira spähend auf Iole und spähend auf Herakles, und sie litt unter ihrem Zweifel und ihrem Mißtrauen, darin sie nicht wußte, ob ihr Gemahl die Jungfrau liebte. Denn der Iole Liebe las sie in deren Augen, auf den schweigenden Lippen, in der ganzen Anhänglichkeit dieser fürstlichen Sklavin, die zu Trachin wie eine Fürstin geehrt ward, weil alle und Deianeira selber ihr dankbar waren, daß sie gekommen war, Botschaft zu bringen von dem verstört umherirrenden Helden. Dann sann Deianeira darüber nach, ob ihr Gemahl ihr untreu sei, ob ihr Gemahl der Treue nicht achtete, und ob er die Jungfrau, die ihn so liebte, wiederliebe oder nicht. Und sie erschloß die geheime Lade der bronzenen Truhe und betrachtete lange einen purpurnen Ball, den sie in einer Kugel aus Blattgold verwahrte. Es war das geronnene Blut des Zentauren, sein ihr vermachtes Geschenk, bevor er sterbend sie unberührt dem Herakles übergeben hatte. Die goldene Kugel, darinnen der purpurne Ball lag, ruhte in ihren Händen, indes Deianeira über ihr Frauenleid und über ihre Eifersucht nachdachte, und nicht war sie sich dessen bewußt, daß des Nessos Gabe ein Geschenk des Schicksals gewesen, und nicht ward sie sich dessen bewußt, daß sie in ihrer Hand ein entsetzliches Gift hielt, das Gift der Hydra, das sich von des Herakles Pfeilspitze in des Zentauren Blut ergossen hatte, und das, wieder herausgeträufelt, zum purpurfarbenen Zauberball geronnen war.
Sie war sich dessen nicht bewußt. Keiner der günstigen Götter, die angstvoll um den Willen des Schicksals besorgt waren, hatte den Mut, es ihr durch Traum oder Vorahnung zu künden. Deianeira blieb durch ihre Eifersucht verblendet und litt schmerzlich, und wiederum: bei dem großen Glück ihrer Liebe ahnte sie nicht das Entsetzen, das sie, von blattgoldener Hülle umfangen, in ihrer Hand hielt, und das sie dann zaudernd und ohne noch zu wissen, warum, von neuem in der Tiefe der Lade barg. So schlummerte des Nessos Gabe, das Geschenk des Schicksals, in der bronzenen Truhe am Fußende des Lagers, auf dem Herakles sie umarmte, und an der Wiege, wo Hyllos mit geballten Fäustchen schlief.
Die freudvollen, frohen Tage vergingen. In der Nacht irrte Herakles durch die Wälder umher, vorüber an seinen schlummernden Triften und Feldern, irrte umher in seiner Wehmut. Seiner Wehmut um all das, was er verloren hatte. Seiner Wehmut um all das, was er noch besaß, und was dort in der Nacht schlummerte. Seiner Wehmut sowohl um Hera, die ihn haßte, wie um Alkmene, die er ermordet hatte. Seiner Wehmut um Megara und die Kinder, die er erwürgt und erschlagen hatte, und seiner Wehmut um Deianeira und Hyllos, die er vielleicht dereinst auch erschlagen müßte, die dann von ihm den Tod empfangen würden, wenn Hera ihm das Hirn erhitzte, die alles wider ihn beschloß. Und allzeit war es ihm in seiner Geistesverwirrung, die dem Tod des Abderos gefolgt war, als läge ein Schleier lastend auf seinem Geist, und wenn er in der Nacht umherirrte, war ihm gar traurig zu Sinne, und dabei schmachtete er nach Liebe und ward noch trauriger, als er sich dessen bewußt wurde, wie Deianeira ihn liebte, wie Iole ihn liebte – und in seinem Sehnen nach Liebe gedachte er der vielen Frauen, der vielen Nymphen, die er besessen, und sehnte sich dennoch und strich sich mit der Hand über die Stirn und gedachte sehnend der Admete und versuchte sich zu erinnern und glaubte, daß für ihn die Zeit gekommen sei, sich nach Mykena aufzumachen. Und müde und traurig ward er bei seinem ohnmächtig sinnenden Denken, bis er unwillig langsamen Schrittes zu seiner Behausung zurückging.
Eines Nachts, da Herakles traurig umherirrte und sehnsuchtsvoll an Admete dachte, fühlte er es in seinem sich langsam erhellenden Hirn, daß er sie, die Jungfrau, die Tochter des Eurystheus, liebe, wie er noch niemals eine andere geliebt. Mit der Hand strich er sich über die Stirn und versuchte sich zu erinnern. Er trat hervor aus dem nächtlichen Walde und sah im matten Sternenschein die üppigen Weiden. Und plötzlich sah er, wie eine leuchtende Gestalt ihm entgegenschwebte, und fragte sich verwundert, welche Gottheit auf seine Triften zu Trachin herabgestiegen sei. Und er erkannte, wer ihm entgegenkam. Der weiße geflügelte, blondgelockte Knabe mit den schlanken Schultern, den runden, jungfräulichen Armen und den schlanken Beinen, das Lichtgebild der Schönheit im nächtlichen Schatten ...
»O göttlicher Sohn der Aphrodite,« sprach Herakles verwundert, »erkenne ich dich und bist du es wahrlich, der in dieser Nacht über meine Wiesen irrt, die von der stillen Wehmut des Sternenscheines übergossen sind? Was suchte Eros zu dieser Stunde auf des Herakles nächtlichen Triften?«
Der Götterknabe lächelte, und er war so schön, daß sich des Herakles Herz daran erfreute. »Eros sucht Herakles selber«, flüsterte die goldene Stimme des göttlichen Knaben.
»Mich?« fragte der Held verwundert.
»Und meine Mutter sendet mich.«
»Aphrodite?«
»Weil die Zeit gekommen ist.«
»Welche Zeit?«
»Entsinnst du dich, o Herakles?«
»O lieblicher Eros, worauf soll ich mich besinnen?«
Leise klang des Gottes Lachen durch die Nacht. Er hatte die Hände auf des Herakles Schultern gelegt und lachte ihm ins Gesicht. In des Helden Seele blühte ein warmes Glück auf. Die Knabenhände auf seinen Schultern drückten ihn sanft, sanft nieder. Und Herakles gab diesem Drucke nach und sank am Saume der Wiese langsam zu Boden: »Ich entsinne mich nicht, o Eros.«
Der Knabe lachte noch immer. Er hatte sich jetzt auf des Herakles Knie gesetzt und schaute ihm lachend in die Augen. Und es wunderte Herakles, daß auch die Augen dieses lachenden Knaben, die lachenden Augen, wehmütig dreinschauten. Und des Helden Hand fuhr sanft und streichelnd über Eros' beide Flügel, gleich als liebkose er einen großen Vogel.
»Entsinnst du dich, o Herakles,« wiederholte der Knabe, »wessen Bild du tiefinnerst im Herzen trägst?«
»Das der Jungfrau Admete?« fragte Herakles.
»Wann, o Herakles, sahst du Admete zum letzten Male?«
»Auf den Stufen zu ihres Vaters Palast?« fragte der Held, gleich als zweifle er.
»Um was bat sie den Herakles auf den Stufen zu ihres Vaters Palast?«
Plötzlich entsann sich der Held, als hätte ein leuchtender Blitz ihn erhellt. Er wollte sich erheben. Allein der Knabe hielt ihn zurück. »Entsinnst du dich, o Herakles«, fragte Eros lachend weiter, während seine Wehmutsaugen tief in die Augen des Herakles schauten.
»Ich entsinne mich«, sprach dumpf der Held. »Athena wandte sich von mir ab, mein Hirn war umdüstert. Nun aber entsinne ich mich.«
»Die Götter, die Herakles liebhatten, haben ihn noch immer lieb«, sprach der Knabe. »Wenn es Athena oblag, des Helden Geist zu umnachten, so ist es des Eros Aufgabe, ihn wieder zu erhellen. Herakles, Admete ist krank.«
»Ist krank?«
»Sie leidet vor Sehnsucht.«
»Nach dem Gürtel der Hippolyta?«
»Und nach dem, der ihr den Gürtel bringen soll.«
»Nach mir?«
»Herakles, wessen Bild trägt Admete tiefinnerst im Herzen?«
»Mein Bild? Niemals kann Herakles ihr Gemahl sein!«
»Doch wen hat sie lieb, und was allein vermag sie zu heilen?«
»Mich? Hat sie mich lieb, o du lieblicher Knabe? Vermag nur der Gürtel, den ich ihr bringen soll, sie zu heilen?« Eros hatte sich von des Herakles Knie erhoben. Plötzlich sah Herakles neben dem Knaben etwas wie dessen eigenen leuchtenden Schatten: einen Knaben, der ihm völlig gleich war. Und der Held wunderte sich, denn die beiden Knaben hielten einander in den Armen.
»Hat sie mich lieb, o du lieblicher Knabe?« fragte Herakles, »so sag' es mir! Sag' mir weiter: wen hältst du in deinen Armen, der dir so völlig gleicht? Du anderer Eros, wer bist du?«
»Anteros,« flüsterte leise der andere Gott. »Neben dem Gotte der Liebe, meinem Bruder, bin ich ... die Gegenliebe.«
»O Liebe, o Gegenliebe!« rief Herakles. »Vermag nur der Gürtel der Hippolyta die Krankheit der Admete zu heilen?« Die beiden göttlichen Knaben nickten lächelnd mit den blonden Köpfen.
»Hat Admete mich lieb?« rief noch immer zweifelnd der Held. Die Götter nickten. Plötzlich wurden sie im silbernen nächtlichen Nebel unsichtbar.
Herakles wankte wie ein Trunkener: er eilte zu den Ställen. »Iolaos! Iolaos!« rief er, seinen Lenker und Gefährten zu wecken. »Erwache, Iolaos! Still, still, wecke keinen anderen im Hause. Verhindere, daß die Rosse wiehern; lege ihnen die Hände auf das Maul! Und dann spann' sogleich das Paar meiner zwei wilden weißen Rosse vor den leichträderigen, rasch dahineilenden Wagen. Schnell, schnell, bevor jemand erwacht, bevor das Morgengrauen den Tag weckt.«
»Wohin soll Iolaos den Herakles führen?« fragte schlaftrunken der verwunderte Lenker.
»Nach dem Skythenland!« sprach leise jubelnd der Held, »zu den streitbaren, den männergleichen Amazonen, zu Hippolyta, die sich des Ares Geschenk, den Gürtel aus kostbarem Gold, um die Hüften legt. Eile, o Iolaos, eile, schon beginnt es im Osten zu dämmern!«
Und bald trieb Iolaos das jagende Gespann, die zwei wilden weißen Rosse, über den weißen, sich windenden Weg gen Norden, und der Wagen flog davon, als sei er geflügelt.
Da erschien Deianeira auf der Schwelle ...