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Als Svend aus der Bank herauskam, schien die Sonne. Die Luft war mild, der Himmel hoch und klar.
Er blieb stehen und freute sich, wie das Leben sich während der acht Jahre, die er fort gewesen war, in Kopenhagen entwickelt hatte. Elektrische Straßenbahnen klingelten und Automobile kreuzten hin und her.
Er ging an dem Ministerium vorbei und blickte zu dem roten Gebäude hinauf, wobei die Erinnerungen auf ihn einstürmten. Und ohne recht zu wissen, was er tat, befand er sich auf dem Schmerzensweg, den er damals nach der Enttäuschung wegen der Erbschaft gegangen war.
Er suchte das Haus des Rechtsanwalts Fratz. Ja, richtig, da stand »Dr. Fratz, Rechtsanwalt« auf dem Porzellanschild.
Doktor Fratz würde große Augen machen, wenn er plötzlich Besuch von Svend Byge bekäme. Das Geld, das er ihm schuldete, hatte er ihm schon vor langer Zeit aus London geschickt.
Dann lenkte Svend seine Schritte wie unbewußt auf den Stadtwall zu. Er ging längs der Zickzacklinie des Pfades und durchlebte alles in Gedanken noch einmal. Als er die Brücken, die nach Amager führten, erreichte, blieb er stehen, und blickte die lange, schmutzige Straße hinunter. Die alten Bäume und der tiefe Graben waren noch da; aber es waren neue hohe Mietshäuser gebaut, wo früher altmodische Gartenhäuschen gelegen hatten. Er sah sich nach dem Eckcafé um, wo er Lisbeth an dem Neujahrsabend getroffen hatte; aber es war nicht mehr da.
Dann ging er denselben Weg zurück.
Er blieb an der Ecke stehen, wo der Kanal still und vornehm dalag, an dessen Ufer das Haus stand, wo der Departementschef gewohnt hatte. Als er die hohen Fenster in der zweiten Etage wiedersah, stürmte all das Alte wieder auf ihn ein – bis zu der Nacht, als er allein an Kruses Schreibtisch gesessen und dessen heimliche Papiere durchstöbert hatte.
Er dachte an Ellen. Die Bitterkeit, die er gegen sie empfunden hatte, war schon längst aus seinem Gemüt entschwunden. Es war gekommen, wie es kommen mußte. – Zu ihrem und seinem Besten; dennoch fand er, daß sie als Mutter seiner Knaben mit seinem Leben verbunden blieb, wie sehr sie sich auch voneinander getrennt hatten.
Als Svend in sein Hotel zurückkam, teilte der Portier ihm mit, daß eine Dame nach ihm gefragt habe. Sie hätte ihren Namen nicht sagen wollen, würde aber später am Tage wiederkommen.
Svend zerbrach sich vergeblich den Kopf. Wer von seinen wenigen Bekannten wußte überhaupt, daß er zurzeit in Kopenhagen war?
Er war mitten in einem Brief an Lisbeth, als der Liftboy nach oben kam und ihm eine Karte gab. Es war Ellens.
»Ich lasse die Dame bitten!« sagte er und sprang auf.
Es dauerte einige Minuten, dann stand sie in der Tür. Ein halb bewegtes, halb verlegenes Lächeln spielte um ihre spitzen Lippen; ihre zarten Wangen waren etwas gerötet, und das güldene Seidengespinst ihres blonden Haares glänzte unter dem weichen Olivengrün eines prachtvollen Herbsthutes.
Sie zog die Schultern etwas in die Höhe, wie sie dort mit den Händen in dem Muff dastand, während sie ihn, den Vater ihrer Kinder, betrachtete und vergeblich den alten Svend hinter dem neuen zu finden suchte.
»Ellen!« sagte er und ging ihr mit ausgestreckter Hand entgegen.
Da erkannte sie ihn an seinem Lächeln, und damit war das Schlimmste überstanden.
»Svend!« sagte sie und reichte ihm ihre schmale Hand, die er einen Augenblick in der seinen behielt.
Jetzt kam Leben in ihre sanften, blauen Augen und ihre ausdrucksvolle Stimme zwitscherte drauflos. Nicht mehr so verhätschelt wie früher, und ihre Rede erschien ihm nicht mehr so zierlich. Die Augen aber waren noch dieselben.
»Ich traf Flindt gestern auf der Straße, er sagte, daß, daß Sie –«
»Daß du,« verbesserte Svend, indem er ihr Muff und Pelzkragen abnahm.
»Daß du,« lachte sie nervös, »hier in der Stadt seiest. Da dachte ich, daß ich zu dir gehen und dir gratulieren wollte. Er sagte, daß du es seiest, der – aber du bist ja ein ganz berühmter Mann geworden!«
»Das hast du wohl nicht erwartet!«
»Ehrlich gesagt, nein! Aber es freut mich aufrichtig.«
Sie zögerte einen Augenblick und sah zur Seite. Dann fügte sie hinzu, indem ihr Gesicht plötzlich ernst wurde:
»Ich wollte dir sagen, ob wir nicht Freunde sein wollen. Hennings und Jörgens wegen.«
Sie ließ ihm keine Zeit, sie zu unterbrechen.
»Ich bin dir nicht mehr böse, weil du so hart gegen Papa warst. Wenn er gelebt hätte, würde er der erste sein, der sich über dich gefreut hätte.«
Zwei klare Tränen blitzten in ihren Augen, aber sie lächelte sie schnell fort und fügte hinzu:
»Ich höre, daß du die Knaben zur See schicken willst. Das hat Flindt gesagt. Im ersten Augenblick fand ich, daß es furchtbar von dir sei. Aber sowohl Gunnar – das ist mein Mann – und alle, mit denen ich darüber gesprochen habe, sagen, daß es großartig ist. – Wenn sie es nur vertragen können.«
Sie spitzte die Lippen und sah bedenklich vor sich hin.
»Jörgen war solch zartes Kind.«
»Du müßtest ihn jetzt sehen, dann würdest du deine helle Freude an ihm haben. – Ich danke dir, daß du gekommen bist! – Ich habe gerade heute an dich gedacht, als ich an den alten Fenstern am Kanal vorbeiging.«
Er sah fort und fügte ernst hinzu:
»Es ist möglich, daß ich deinen Vater zu hart beurteilt habe, aber ich konnte nicht anders handeln. Und war es nicht vielleicht gut für uns beide, daß es so gekommen ist, wie es kam?«
Er betrachtete sie mit dem Lächeln, das sie so gut von früher her kannte.
»Denn du bist doch glücklich mit deinem Kammersänger?«
»Ja, das bin ich!« bekräftigte Ellen mit glänzenden Augen.
Dann erklärte sie wie zur Entschuldigung:
»Denn siehst du, er paßt auch besser zu mir als du. Du bist immer so tüchtig und so gewesen – weißt du nicht mehr?«
»Der Kammersänger ist doch auch tüchtig,« wandte Svend lächelnd ein.
»Ja, aber anders, auf eine liebenswürdigere Weise.«
Sie lachten beide.
Sie kniff die Augen schelmisch zusammen und sagte:
»Und du – du hast dich wieder verheiratet, wie ich höre. Mit einer Jugendfreundin?«
»Wie gut du unterrichtet bist! Sie heißt Lisbeth.«
Sie wollte ihn etwas fragen, betrachtete ihn mit dem neugierigen Schimmer in ihren Augen, dessen er sich noch so gut erinnerte. Aber sie brachte es nicht über die Lippen.
»Nein, wir haben keine Kinder,« sagte er mit einem Lächeln. Aber glücklich sind wir doch.«
»Und Gunnar und ich haben auch keine,« sagte sie und machte ein ernstes Gesicht.
Sie war etwas rot geworden, während sie das sagte und stand schnell auf.
»Mir kommt eine Idee!« sagte Svend und prüfte dieselbe, während er sie aussprach.
Ellen sah ihn vorsichtig fragend an.
»Komm nächstes Jahr zu uns, wenn wir die erste Schiffstaufe abhalten.«
Sie lächelte vor sich hin, wahrend sie überlegte. Svend begriff, daß sie an Lisbeth dachte.
»Darf ich meinen Kammersänger mitbringen?« fragte sie.
»Unter einer Bedingung: daß er uns etwas vorsingt.«
Sie begann von einem Fuß auf den anderen zu treten. Wie gut er das an ihr kannte! Dann hatte sie etwas auf dem Herzen, was ihr nicht recht über die Lippen wollte.
»Na, was ist denn?« fragte er lächelnd.
»Ich habe Gunnar gesagt, daß er mich hier im Hotel abholen könne. Du hast doch nichts dagegen?«
Svend wurde ernst, aber er faßte sich schnell.
»Es wird mir ein Vergnügen sein,« sagte er.
Und sie gingen zusammen in den Salon hinunter. Dort stand der Kammersänger – jung und schön wie immer – und sagte mit seiner klaren, klangvollen Stimme:
»Es freut mich, unsere alte Bekanntschaft zu erneuern.«
Svend lud sie ein, mit ihm im Hotel zu Mittag zu speisen.
Beim Dessert sprachen er und Ellen vorsichtig von alten Erinnerungen.
»Sag mal,« fragte er, »kannst du mir nicht Falks Adresse geben? Ich möchte ihn gern besuchen und habe ihn vergebens im Adreßbuch gesucht.«
»Weißt du denn nicht? – Falk ist ja tot.«
»Er ist tot?«
Svend blickte betrübt auf die verflossenen Jahre zurück, »ich hatte so gern mancherlei mit ihm besprochen.«
»Er ist in Kairo gestorben. Es ist schon lange her. Die arme Kamma wohnt auf Lindersbo und hat es noch nicht verwunden.« Die Lungen hatten Schaden genommen, wie der Arzt gefürchtet, jetzt im Januar waren es sechs Jahre her. Damals war Svend im »Old Swan« angestellt und bekam nie eine dänische Zeitung zu Gesicht.
Als Svend einige Tage darauf seinen Koffer packte, bekam er einen Brief von Ellen.
»Lieber Svend,« schrieb sie, »vielen Dank für den behaglichen Abend, den wir neulich mit Dir verbracht haben. Aber je mehr ich an all das Vergangene und all das Neue denke, desto fester wird der Entschluß in mir, daß ich nicht zur Schiffstaufe zu Euch kommen will. Denn da ich unseren Knaben jetzt so entfremdet bin, würde es nur schwer für mich sein und für uns alle drei. Aber ich bitte Dich, mir die Knaben einige Wochen zu schicken, wenn sie Ferien haben. Ich verspreche Dir, daß ich sie nicht sehr verhätscheln will. Diese Freude wirst Du mir machen, nicht wahr? – ich danke Dir!! – – Aber da ist noch etwas anderes, was ich auf dem Herzen habe. Ich möchte auch gern etwas zu der großen Sache, die Du ins Leben gerufen hast und von der alles spricht, beitragen. Aber es soll etwas sein, was verschlagen kann; und wenn Du hörst, was ich vorhabe, so wirst Du auch verstehen, weshalb ich gerade das will. Es handelt sich um Wildpark. Ich habe Didrichsen Auftrag gegeben, die ganze Herrlichkeit zu verkaufen. Ich und Gunnar kommen doch niemals dorthin, denn entweder singt er, und dann muß er hier in der Stadt sein, oder wir sind auf Reisen. Und das Geld, das einkommt, will ich in Fischereiaktien anlegen. Ich bitte Dich, dafür zu sorgen, daß dann ausdrücklich bekannt gemacht wird, daß es Departementschefs Kruses Geld ist – das Geld, das Henning und Jörgen einmal von mir erben sollen und was weder Du noch ich verhindern können, wie Didrichsen gesagt hat. Wenn aber Papas Geld auf diese Weise einem nationalen Unternehmen zugute kommt, dann hast Du wohl auch nichts dagegen, daß es seinen Namen trägt –«
»Jörgen-Kruse-Stiftung« – oder etwas Derartiges. Denn Du warst dennoch zu hart in Deinem Urteil.
Frage die Knaben, ob sie sich ihrer richtigen Mutter erinnern; und ich möchte gern einen großen Geburtstagswunsch wissen, den ihnen sonst niemand erfüllen würde.
Einen freundlichen Gruß von
Ellen.«
Svend antwortete sofort.
»Ich danke Dir, liebe Ellen,« schrieb er, »Du hast mich mehr erfreut, als ich dir zu sagen vermag.
Das Geld nehme ich hiermit im Namen des Komitees entgegen. Es soll den Namen Deines Vaters tragen. Willst Du die Zinsen erheben, wenn welche eingehen, oder sollen sie für die Knaben stehenbleiben?
Ich werde Dir Henning und Jörgen in den Ferien schicken. Ich weiß, daß sie sich ihrer richtigen Mutter sehr gut erinnern. Ich weiß auch, daß jedenfalls Henning einen großen, großen Geburtstagswunsch hat, den kein anderer ihm erfüllen kann; aber es ist ein Geheimnis und er muß ihn dir lieber selbst anvertrauen.
Einen freundlichen Gruß von
Svend.«
Er blieb lange mit der Hand unterm Kinn sitzen und starrte aus dem Fenster.
Er versuchte sich den Tag vorzustellen, an dem die ersten Schiffe über die Taufe gehalten werden sollten. Die Namen waren bereits gewählt. »Kasper Byge« und »Jörgen Byge« sollten sie heißen, denn das Komitee hatte ihm die Wahl überlassen.
Er sah alles vor sich – die beflaggte Stadt, das städtische Orchester auf dem Kai, die Honoratioren mit dem Bürgermeister an der Spitze, und die kleinen Rekruten, die zum erstenmal aufs Meer hinaus sollten.
Er sah Henning vorn auf dem Deck, mit der Bygeschen Kopfhaltung und die Lippen fest aufeinander gepreßt, um die Tränen herunterzuschlucken, die ihm im Halse saßen.
Da tauchte eine alte Erinnerung in ihm auf.
Er war es selbst in Hennings Alter. Er saß mit baumelnden Beinen auf dem Dünenabhang an diesem selben Meer und bevölkerte es mit großen Schiffen, mit schwellenden Segeln und weißen Galionsfiguren, während er an die Schiffe dachte, die sein Urgroßvater dem Lande geschenkt hatte, als es in Not war.
Der alte Traum war auf diese Weise in Erfüllung gegangen.
»Ich habe meine Schiffe verbrannt,« sagte er vor sich hin, »aber ich habe mir neue gebaut.«
Ende