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Das Dementi tat seine Wirkung.
Sogar die betreffende Zeitung beschränkte sich auf die Bemerkung, daß man ein späteres Mal auf die Sache zurückkommen werde.
Einer verblümten Andeutung in einem Schmutzblatt, daß die plötzliche Erkrankung des Departementschefs die Zuverlässigkeit des Dementis in Zweifel ziehe, wurde von der gesamten Presse mit einem zornigen Protest begegnet, indem man offen die Oppositionszeitung dafür verantwortlich machte, durch ihre Ehrabschneidung einen alten, ehrliebenden Beamten krank gemacht zu haben.
Svend hatte in den ersten Tagen nach dem Erscheinen des Artikels den Redakteur vergebens zu treffen versucht. Als er jetzt sah, welche vollkommene Genugtuung seinem Schwiegervater überall zuteil wurde, gab er es auf, den Ehrabschneider persönlich zur Rechenschaft zu ziehen. Es war ja offenbar, daß der Schurkenstreich bereits auf seinen Urheber zurückgefallen war.
Mit Kruse ging es langsam bergab.
Als er Ellen sah, blitzte ein plötzliches Wiedererkennen in seinem leeren Blick auf; aber dieser Blitz verlöschte wieder im nächsten Augenblick, und er fuhr fort, seiner Umgebung fremd zu bleiben.
Das Gesicht fiel zusammen, die Züge wurden schlaff. Auch seine Sprache wurde nach und nach dick und unverständlich.
Svend kam täglich auf seinem Wege von Didrichsen zum Ministerium bei ihm vor. Er frühstückte mit Ellen zusammen, und wenn er Zeit hatte, kam er noch einmal des Abends, wenn die Kinder schliefen.
Svend konnte den Niedergang von Tag zu Tag erkennen. Der Arzt gab gar keine Hoffnung. Es war nur eine Frage der Zeit.
Ellen war zuerst trostlos, gewöhnte sich aber mit ihrer leichten Natur schnell an die Krankheit.
Sie pflegte ihren Vater treulich und war nicht zu bewegen, in ihr Heim zurückzukehren, bevor nicht eine Veränderung eingetreten war.
Sie stand dem Hauswesen vor, empfing den alten vornehmen Umgangskreis, der Besuch machte, um sich nach dem Befinden ihres Vaters zu erkundigen. Sie empfing ihre Freundinnen und teilte ihren Tag, wenn sie nicht bei dem Kranken war, ganz wie früher ein, so daß sie nach und nach so in ihr Mädchendasein zurückglitt, daß sie sich wunderte, wie wenig sie sich nach ihrem eigenen Heim sehnte.
Sie vermißte die Kinder mehr als Svend und war böse auf ihn, wenn ein Tag verging, ohne daß das Kindermädchen Zeit gefunden hatte, sie vormittags mit den Knaben zu besuchen.
Dagegen vermißte Svend sie, wenn er ganz ehrlich gegen sich sein wollte, nur in der allerersten Zeit. Er hatte jetzt solch wunderbaren Arbeitsfrieden zu Hause. Er sah sie ja täglich beim Frühstück, und außerdem hatte er die Kinder in der kurzen Zeit am Nachmittage, die er ihnen widmen konnte, ganz für sich.
Einen Monat später wurde Kruse in der Nacht von einem zweiten Schlaganfall betroffen. Als Ellen des Morgens wie gewöhnlich mit dem ersten Frühstück zu ihm hineinkam, fuchtelte er mit dem rechten Arm durch die Luft, der linke hing schlaff und unbeweglich über den Bettrand hinab.
Seine ganze linke Seite war gelähmt, und er hatte die Sprache verloren.
Ellen und die Krankenpflegerin gaben ihm abwechselnd sein Essen. Er mußte in allem und jedem wie ein kleines Kind versorgt werden; und der Arzt betrachtete von dem Tage an seine endliche Auflösung als nahe bevorstehend.
Eines Nachts in den ersten Tagen des November sah die Pflegerin, daß es zu Ende ging. Sie weckte Ellen.
Kruse lag mit geschlossenen Augen unter den hochgezogenen buschigen Brauen. Schweißperlen liefen ihm über die blanke Stirn und die kahlen Schläfen, deren Fältchen die Krankheit geglättet hatte. Er bewegte seine rechte Hand tastend auf der Bettdecke. Ellen ergriff sie mit beiden Händen und drückte sie weinend an ihr Gesicht.
Dann kam ein röchelnder Laut tief aus der Kehle. Ein Seufzer drängte sich durch die schmalen Lippen; und das Licht war ausgeblasen.
Es war, als ob der haßerfüllte Angriff auf Departementschef Kruse und das dadurch hervorgerufene Dementi den Sturmlauf, den man gegen den Finanzminister geplant, abgeschwächt hatte.
Ob man tatsächlich keine eigentliche Grundlage für einen Angriff besaß oder ob man die allgemeine Stimmung gegen sich hatte und aus Rücksicht auf die Abonnenten nicht fortzusetzen wagte, oder ob man einsah, daß der allmächtige Welten ganz allein durch eigene Pfiffigkeit und die Dummheit der Regierenden, also ohne heimliches Kommissionssalär, seiner eigenen Bank den unbestreitbaren Vorteil durch einen allzu niedrigen Emissionskurs zugewendet hatte – genug, die angekündigte Untersuchung blieb aus, und die Sache geriet in Vergessenheit.
Beim Ableben des Departementschefs flackerte die Indignation gegen die Zeitung von neuem auf und machte sich in überströmenden Lobreden auf den Verstorbenen in allen Zeitungen, die sich zur anständigen Presse rechneten, Luft.
Das Begräbnis, das im Namen der Familie von Justizrat Didrichsen geordnet wurde, versammelte die Spitzen aus allen Ministerien. Der König und der Kronprinz ließen sich vertreten, Prinz Adolph, der Premierminister, Geheimrat Welten und Kammerherr Tithoff waren persönlich zugegen.
Der Geistliche hielt eine wundervolle Rede, und der Sarg wurde durch ein Spalier von Palmen und florumwundenen Kandelabern von Assessoren und Referendaren aus Kruses eigenem Departement getragen.
Justizrat Didrichsen und Svend dankten im Namen der Familie nach der Trauerfeier.
Kruse hinterließ kein Testament. Svend und Ellen, die in Gütergemeinschaft lebten, erbten das ganze Vermögen, wie Kruse es einmal seinem Schwiegersohn gegenüber angedeutet hatte.
Ellen überwand den Schmerz rasch; der Tod war ja nicht unerwartet gekommen. Von dem Tage an, wo Kruse gelähmt wurde und die Sprache verlor, war er im eigentlichen Sinne für sie tot gewesen.
Nachdem das Begräbnis überstanden war, begannen sie an die Zukunft zu denken.
Svend war plötzlich ein wohlhabender Mann geworden. Sowohl bei Didrichsen wie im Ministerium merkte er die Veränderung. Seine Worte hatten ein Gewicht bekommen, das sie früher nicht gehabt hatten, wie wohlbegründet und überlegt sie auch gewesen sein mochten.
Einige Tage nach dem Begräbnis rief Didrichsen ihn in sein Privatkontor und sagte:
»Ich weiß nicht, lieber Herr Byge, ob wir uns der Hoffnung hingeben dürfen, Sie hier zu behalten.«
»Ja, weshalb nicht?« fragte Svend.
»Ich meinte, ob Sie sich vielleicht wegen der veränderten Verhältnisse auf Ihre Tätigkeit im Ministerium beschränken wollen. Sie sind ja jetzt, wenn auch kein reicher, so doch ein wohlsituierter Mann. Aber wenn ich Ihnen raten darf, so glaube ich, daß es klug wäre, keine Veränderung zu treffen.«
Didrichsen begann von dem Nachlaß zu sprechen, für den er als Erbschaftsvollstrecker eingesetzt war.
Er erhob sich und bot Svend eine Zigarre – eine von den feinsten aus dem Schrank.
Indem er Svend ein Streichholz reichte, sagte er:
»Sehen Sie, was Briefe und Dokumente und dergleichen anbelangt, so erinnere ich mich, daß Ihr Schwiegervater seine private Korrespondenz in dem alten Sekretär in seinem Zimmer aufbewahrte.«
Er machte eine Pause. Als Svend aber nichts sagte, fuhr er fort: »Sicher werden darunter Sachen sein, die für die Ordnung des Nachlasses von Interesse sind. Wäre es darum nicht das beste, wenn ich selbst hinkäme und das rein Private von dem Geschäftlichen sonderte?«
»Ja – a!« sagte Svend gedehnt. Er meinte, daß er niemandem Zugang zu Kruses heimlichen Fächern geben könne, bevor er Ellens Erlaubnis dazu bekommen hatte.
»Wir können es ja gemeinsam tun!« beeilte Didrichsen sich hinzuzufügen; als Svend aber zögerte – er suchte nach einer passenden Antwort, die nicht verletzend wirkte –, sah Didrichsen mit einem hastig forschenden Blick von der Seite zu ihm auf.
Dann erhob er sich und sagte:
»Als Exekutor wäre es eigentlich meine Pflicht; aber ich verstehe und achte Ihre Bedenken. Doch muß ich hinzufügen« – hierbei richtete er seine grauen, zutrauenerweckenden Augen fest auf Svends, so daß dieser einen Augenblick überlegte, ob Didrichsens Worte wohl einen besonderen Sinn verbargen –, »daß mir die Verhältnisse Ihres Schwiegervaters recht genau bekannt sind.«
Der Justizrat begann im Zimmer auf und ab zu gehen, von den Fenstern bis zur Tür und wieder zurück.
»Ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, daß Sie den Nachlaß selbst ordnen,« sagte er und blieb stehen. »Sie haben ja bereits zu meiner Zufriedenheit mehrere kleinere Nachlasse geordnet. Dabei verdienen Sie dann außerdem« – Didrichsen lächelte – »einen Anteil des Exekutorhonorars.«
Svend wurde rot und wollte ihn unterbrechen; Didrichsen aber ließ ihn nicht zu Worte kommen.
»Ja, so soll es sein! Das ist die natürlichste Lösung. Dabei können Sie ja selbst beurteilen, was den Nachlaß berührt und was nicht; und Sie und Ihre Frau sind dann sicher, daß nichts in fremde Hände kommt, das – aus irgendeinem privaten Grunde« – Didrichsens graue Augen ruhten wieder einen Augenblick bedeutungsvoll in Svends – »am besten außerhalb bleibt. Ich meine, Sie legen mir ja Rechenschaft ab, und ich werde mich nach Ihren Bestimmungen richten.«
Didrichsen sah auf seine Uhr, drückte Svend die Hand und begleitete ihn – eine Höflichkeit, die nur vornehmen Klienten erzeigt wurde – durch das äußere Kontor auf den Korridor.
Als Svend Ellen von Didrichsens Bestimmung Mitteilung gemacht hatte, gingen sie zusammen in Kruses Zimmer hinter dem Bibliothekzimmer.
Ellen suchte den Schlüssel zu dem alten Sekretär hervor und schloß auf.
Hier lagen Haufe neben Haufe von zierlich geordneten Papieren.
»Das ist eine tüchtige Arbeit!« sagte sie.
Sie beschlossen, bis auf weiteres in Kruses Wohnung überzusiedeln. Das Kindermädchen wurde in einem der Fremdenzimmer installiert. Ellen hatte die Kinder bei sich in ihrer Mädchenstube und Svend bekam Kruses Schlafzimmer.
Schon am nächsten Tage waren sie so weit eingerichtet, daß sie beim Frühstück verabredeten, denselben Abend noch die Sache gemeinsam in Angriff zu nehmen. Svend war wegen des Umzuges zu Hause geblieben.
Nach dem Frühstück begab Ellen sich auf eine Besuchstournee. Den Vornehmsten und Intimsten ihres Umgangskreises wollte sie persönlich für die erwiesene Teilnahme während der Krankheit und beim Begräbnis ihres Vaters danken.
Kurz nachdem Ellen gegangen war, kamen einige Besuche, denen Svend sich verleugnen ließ.
Da klingelte es wieder und diesmal meldete Fräulein Jensen Seine Exzellenz Kammerherrn Tithoff, Svends eigenen Vorgesetzten.
Der Kammerherr erhob sich, als Svend aus dem Bibliothekzimmer in den Salon kam.
»Mein lieber, junger Freund!« sagte er in kondolierendem Ton und streckte Svend beide Hände entgegen. »Ich konnte es mir nicht versagen, noch einmal in das Haus meines alten Freundes zu kommen, wo ich so viele behagliche Stunden verlebt habe.«
Svend dankte ehrerbietig und bat ihn, Platz zu nehmen. Der Kammerherr aber wandte sich zu der offenstehenden Tür des Bibliothekzimmers um, von wo man in Kruses Zimmer sehen konnte, und sagte mit bewegter Stimme:
»Ach, es ist noch alles wie früher. Sie erlauben, daß ich die teuren alten Zimmer betrete.«
Svend folgte ihm.
Tithoff nahm in Kruses bequemem Schreibtischstuhl Platz, lehnte sich zurück und blickte sich im Zimmer um.
»Da steht der schöne alte Sekretär und der Bücherschrank. Ach, ja, ja. – Ich kann mir denken, daß Sie damit beschäftigt sind, die hinterlassenen Papiere durchzusehen?« sagte Tithoff kurz darauf und blickte Svend von der Seite an.
»Noch nicht, Euer Exzellenz –, aber heute abend wollten wir damit beginnen.«
»Wir – ?«
»Ja, Ellen und ich.«
»Die liebe, kleine Frau Ellen – sie ist nicht zu Hause?«
»Sie ist leider ausgegangen, aber –«
»Grüßen Sie sie herzlich von ihrem alten Freund!«
Der Kammerherr seufzte und strich sich über die Stirn.
»Ach ja, wir müssen alle fort – der eine nach dem anderen. Wer aber hätte geglaubt, daß Kruse – ich bin doch älter als er – und jetzt sitze ich hier auf seinem Stuhl und warte, daß die Reihe an mich kommt! Na, Sie wollen sich also heute abend an den Sekretär heranmachen. Das wird eine bedeutende Arbeit werden, mein junger Freund. Was ich sagen wollte, wenn da irgend etwas ist – ich meine Briefe oder Dokumente, die Sie erklärt haben möchten –, so stehe ich zur Verfügung. Ich habe Ihrem Schwiegervater ja während vieler Jahre sowohl in privater wie – eh – geschäftlicher Beziehung sehr nahegestanden. Kommen Sie nur zu mir, lieber Freund!«
»Vielen Dank, Exzellenz, aber ich glaube kaum, daß es nötig sein wird. Denn es handelt sich ja hauptsächlich um die Sachen, die für den Nachlaß von Wichtigkeit sind.«
»Didrichsen ist Exekutor, nicht wahr?«
Tithoff sah ihn von der Seite an. »Jawohl, Exzellenz, und ich übernehme die Ordnung des Nachlasses als sein Assessor.«
»Aha!« Tithoff nickte vergnügt. »Sehr rücksichtsvoll und – äh – bedachtsam von Didrichsen. Ja, er ist ein alter Ehrenmann.«
Der Kammerherr nahm verschiedene Gegenstände vom Schreibtisch in die Hand, und rief sich bald dieses, bald jenes aus Kruses Zeit ins Gedächtnis zurück.
Dann wandte er sich plötzlich zu Svend und sagte:
»Apropos, Herr Byge, darf ich mir die Frage gestatten, wie Sie sich Ihre Zukunft gedacht haben? Wir behalten Sie doch im Ministerium?«
»Ja, Exzellenz, ich beabsichtige keine Veränderung zu machen – ausgenommen in der Sache, die ich Ihnen vor einiger Zeit anzudeuten die Ehre hatte –«
»Ah – ich erinnere mich. Sie meinen, die politische Karriere.«
Tithoff erhob sich. Er legte seine Hand auf Svends Schulter.
»Das hat meine wärmste Zustimmung. Wie ich Ihnen bereits damals sagte: wir brauchen frische Kräfte mit einem festen Glauben an die Zukunft. Junge Leute wie Sie, Herr Byge.«
Der Kammerherr blickte aus dem Fenster und räusperte sich. Dann fuhr er in einem leisen und vertraulichen Ton fort:
»Es ist vielleicht nicht richtig von mir, nein, ganz korrekt ist es sicher nicht« – Tithoff wandte sich zu Svend und lächelte ihm schelmisch mit seinen runden Augen zu –, »aber ich werde trotzdem die Verantwortung auf mich nehmen. Sehen Sie, mein junger Freund, ich habe über Sie und Ihre Zukunft nachgedacht – und um Ihnen Ihre politische Aufgabe zu erleichtern – Sie wissen selbst, was es für jemanden, der in den Reichstag will, heißt, eine Position zu haben – und Assessor« – Tithoff lächelte nachsichtig – »klingt ja nicht nach viel – um Ihnen also eine Erleichterung zu verschaffen, will ich Ihnen verraten, daß ich Sie zum Nachfolger des alten Expeditionssekretärs Galten ausersehen habe, wenn er zu Neujahr mit Brynch abtritt. Sie wissen vielleicht, daß man beabsichtigt, den Posten eines Expeditionssekretärs aufzuheben und ihn zu einer Bürochefstellung zu machen. – Das muß natürlich bis auf weiteres unter uns bleiben. Ich möchte Sie sogar bitten, auch Ihrer Frau, unserer lieben kleinen Ellen gegenüber, Stillschweigen zu bewahren.«
Svend war beglückt. Das Blut stieg ihm zu Kopf, während er dem Kammerherrn herzlich und dankbar die Hand drückte.
»Ja, ja, Sie sind ein tüchtiger, junger Mann. Ich meine, daß Sie dies durch Ihre ausgezeichnete Arbeit mit dem Fischereigesetz, die Prinz Adolph mehrfach lobend erwähnt hat, verdient haben.«
Kurz darauf verabschiedete er sich.
Als Ellen nach Hause kam, wunderte sie sich, daß Tithoffs Besuch Svend in solch strahlende Laune versetzt hatte.
Svend aber hielt sich tapfer und verriet nichts von der vertraulichen Mitteilung.