Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Zweiter Band
Laurids Bruun

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19

Von dem Augenblick an, wo Svend das Sparkassenbuch der Konferenzrätin mit den dreitausend Kronen in der Hand hielt, zweifelte er nicht länger, daß Onkel Kasper ihn zu seinem Erben eingesetzt hatte.

Das war die einzige Annahme, die nicht allein das rätselhafte Benehmen der Konferenzrätin ihm gegenüber, sondern auch die Andeutungen, die ihm von so verschiedenen Seiten begegnet waren, erklärte.

Das änderte nichts an seinem Verhältnis zur »Sache«. Er hatte ja bereits sich selbst und der Welt bewiesen, daß er auch ohne Vermögen oder Aussicht auf Vermögen konsequent dem folgen würde, was er für Recht hielt.

Aber es änderte viel an seinem Blick für die Zukunft.

Er war mit einem Schlage in die Klasse derjenigen aufgerückt, deren Wort und Haltung die menschliche Gesellschaft gutwillig jene Bedeutung einräumt, die ihr von anderen erst abgerungen werden muß.

Auch v. Falk hatte von den Gerüchten betreffs seiner Erbschaft gehört und wunderte sich mit Svend über die Dreitausend von der Konferenzrätin; er riet ihm aber eindringlich, skeptisch zu sein, um sich keiner ernsthaften Enttäuschung auszusetzen. Svend aber, der seinen Pessimismus zur Genüge kannte, kehrte sich nicht daran. Im März, als das Wetter milder wurde, war Svend v. Falks Gast auf Lindersbo und hielt bei dieser Gelegenheit zur Vorbereitung für seine Wahl mehrere politische Versammlungen ab.

Falk fuhr mit ihm zu den einflußreichsten der Großbauern und amüsierte sich köstlich bei diesen Besuchen, Svend aber hatte die ärgerliche Empfindung, daß die Bauern ihn nicht verstanden oder nicht verstehen wollten.

Nur wenige bekannten ehrlich, daß Svends Programm ihnen nicht praktisch genug dünkte: »Zusammenarbeiten von Stadt und Land außerhalb jeglichen Parteiwesens zur Förderung des nationalen Gewerbes, hauptsächlich der stiefmütterlich behandelten Fischerei; Kampf zur Reinigung aller öffentlichen Verhältnisse durch eine prinzipienfeste Regierung, die allen Privatinteressen fern stand« – das klang ja recht schön, fanden sie. Aber wo blieb da die Eisenbahn, die sie haben wollten? Und die Fischerei? Fischerei gab es ja kaum in ihrer Gegend.

Es zeigte sich dagegen, daß Svends Mitbewerber, der von dem Hauptlager der Partei geschickt wurde, ein Mann war, der alle abgeleierten Redensarten der Partei am Schnürchen wußte.

Als er auf dem Rednerstuhl stand, fand er Gelegenheit, von Svends Entlassung zu sprechen, auf eine breite, volkstümliche Weise, und er hing ihm das Wort »Idealist« mit einer solchen Betonung an, daß die Wähler, die nur eine dunkle Vorstellung von der Bedeutung dieses Wortes hatten, glaubten, daß er »Idiot« meinte. Als schließlich der Wahltag kam, wurde Svends Gegenkandidat mit einer Majorität von fast zweihundert Stimmen gewählt.

Im Herbst, als das Wetter rauh wurde, zog v. Falk sich eine Erkältung zu. Sie entwickelte sich zu einer ernsten Lungenentzündung. Er lag in seiner Villa, wo er von seiner alten Haushälterin rührend gepflegt wurde. Als die Krankheit schließlich eine bessere Wendung nahm und er Besuche empfangen durfte, verbrachte Svend täglich eine Stunde an seinem Bett, sprach mit ihm oder las ihm vor, während v. Falks ruhiges Auge, das die Krankheit noch größer gemacht hatte, auf seinen Lippen ruhte.

Auf diesen täglichen Gängen zu der Villa begegnete er häufig einer Dame.

Und das war Kamma Ejstrup.

Am selben Tage, als sie zufällig von Falks Krankheit gehört hatte, war sie in der Dämmerung gekommen und hatte die Haushälterin ausgefragt.

Die Alte kannte sie nicht und betrachtete sie zuerst mit feindlichen Augen; als sie aber das regelmäßige, blasse Gesicht, dessen Lippen vor Teilnahme bebten, näher in Augenschein genommen hatte, wurde sie milder gestimmt. Und als Kamma inständig bat, daß sie ihrem Herrn nicht verraten möge, daß eine Dame nach ihm gefragt habe, schwand jedes Gefühl der Eifersucht bei ihr.

Eines Tages hörte v. Falk ihre Stimme im Korridor – die Haushälterin hatte vergessen, die Tür hinter sich zu schließen. Da entlockte er der Alten die Wahrheit, und nachdem er einige Tage Kammas diskretes Läuten und das leise Flüstern im Korridor gehört hatte, gab er seiner Haushälterin Auftrag, das Fräulein hereinzubitten, damit er für ihre Teilnahme und die regelmäßigen Blumensendungen, die gewiß von ihr seien, danken könne.

Kamma hatte ihre ganze Selbstbeherrschung nötig, als sie sah, wie die Krankheit sein teures Gesicht ausgezehrt hatte.

Falks große Augen spürten sofort, was in ihr vorging. Er streckte ihr schweigend die Hand entgegen; und während sie ihre Verlegenheit unter einem Strom von heiteren, ermunternden Worten verbarg, weilten seine Augen auf ihrem Haupte.

Er freute sich über den launenhaften Fall ihres unregierlichen Haares, über die schmale, feine Wange und den ausdrucksvollen Mund, der in unablässiger Bewegung war.

Es tat ihm wohl, so zu liegen und sie zu betrachten, während ihre klare, deutliche Stimme mit einem warmen Wortstrom über ihn herabrieselte und ihn häufig durch eine drollige Bemerkung zum Lächeln brachte.

Kammas Krankenbesuche wurden ihm schließlich zu einer täglichen Gewohnheit.

»Sie will mich haben!« dachte Falk, während sie im Lehnstuhl an seinem Bett saß und plauderte, »seit vielen Jahren hat sie mich schon haben wollen!« Und er dachte an ihre ganz jungen Tage zurück. »Sie will mich haben!« dachte er mit einem Lächeln, wenn sie ihn verlassen hatte und er mit den geschärften Sinnen eines Rekonvaleszenten den Duft ihrer Person einatmete, der noch durch das Zimmer wogte.

Er lächelte bei dem Gedanken, wie oft er sich schon dasselbe gesagt hatte; früher war ein Widerstreben in seinem Sinn gewesen, jetzt, wo er den tiefen Ernst ihrer Neigung kennen gelernt hatte, wurde die Sache für ihn eine andere.

Er dachte nicht mehr an sie, wie der Reiche, der an Nachstellungen gewöhnt ist, an den Armen denkt. Er dachte mit Freuden an sie und wunderte sich darüber.

»Kamma Ejstrup wollte ihn haben!« sagte er zu sich selbst, als beschäftige er sich mit einer biographischen Studie.

Dann fügte er hinzu:

»Und sie bekam ihn schließlich.«

 

Sie bekam ihn sogar früher, als einer von ihnen gedacht hatte.

Die Rekonvaleszenz zog sich in die Länge. Obgleich v. Falk fieberfrei war, verlangte der Arzt dennoch, daß er nach dem Süden reisen sollte, weil der Herbst ungewöhnlich rauh und kalt war und seine Lungen nur geringe Widerstandskraft hatten. Nur hatte er Bedenken, ihn allein reisen zu lassen.

Falk erzählte Kamma von der Verordnung des Arztes.

»Ich soll ein Kindermädchen mithaben!« sagte er mit einem wehmütigen Lächeln.

Eine plötzliche Röte stieg in ihr Gesicht, während ihre Augen dunkel wurden, mit einem matten Hauch wie Trauben. Er sah es und begriff sofort. Das, was sie dachte, war ihm noch gar nicht eingefallen.

Er hatte halbwegs beschlossen, daß er Svend bitten wollte, ihn zu begleiten. Es würde ihm guttun, eine Weile aus der heimatlichen Suppe herauszukommen – und, Gott, wie würden Tithoff und die ganze Klerisei entzückt sein, ihn eine Weile loszuwerden.

Aber andererseits – wie sollte Svend ihm helfen können – wenn ihm etwas zustieße, solch ausgeprägt unpraktische Natur wie er war!

Da saß nun Kamma – mit dem guten Herzen, dem scharfen Mund und dem starken Willen. Sie saß dort errötend und wurde ganz mütterlich bei dem Gedanken, daß sie ihre Hände liebend und beschützend um seinen Kopf legen durfte. Er konnte geradezu mit seinen fünf Sinnen fühlen, wie sie darum flehte, Weib für ihn sein zu dürfen.

Es war ein so tiefer Ernst in ihren betauten Augen, daß er nicht umhin konnte, das Wort zu sagen, das er doch gern noch einmal in Ruhe durchdacht hätte.

»Wollen Sie mich begleiten?« fragte er, während er sein Gesicht dem ihren näherte und sie mit seinen starken Augen gleichsam an sich zog.

Ihr Kopf sank zuerst etwas auf die linke Seite, wie eine frisch entfaltete Blume, die von einem Platzregen getroffen wird. Dann faßte sie sich, richtete sich hastig auf und sah ihm kühn in die Augen. »Ja!« sagte sie und nickte entschlossen.

Er mußte dennoch erst ein wenig mit ihr experimentieren, das lag in seiner Natur.

»Wird es aber auch angehen?« meinte er und setzte ein bedenkliches Gesicht auf.

Diesmal aber errötete sie nicht, noch beugte sie den Kopf.

»Das kommt auf Sie an!«

»Wenn Sie wenigstens Krankenpflegerin wären!« sagte er scherzend und betrachtete sie lächelnd; sie aber schwieg hartnäckig, ohne ihre Augen niederzuschlagen.

»Was werden die Leute sagen, wenn wir zusammen fortreisen?« fragte er und nahm ihre Hand, die über die Stuhllehne hing und nervös in den Fingerspitzen bebte.

Sie sah mit Augen voll Tränen zu ihm auf; sie brachen so plötzlich hervor, daß sie ihnen keinen Einhalt zu tun vermochte. Sie warfen einen Schein von Wehmut über ihren Mund, der zu flüstern schien:

»Weshalb bist du nicht früher gekommen – als wir beide noch jung waren?«

Er verstand sie; und er antwortete, als ob sie laut gefragt hätte:

»Ich hatte mir vorgenommen, nicht zu heiraten!« Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden, als sei sie ein krankes Vögelchen, das gewärmt werden müsse, »und nun tue ich es dennoch. Wollen Sie, Kamma?«

Sie beugte sich vor und blickte ihm offen in die Augen.

»Das wissen Sie ja!« Dann fügte sie hinzu, während wieder Tränen in ihren Augen blinkten:

»Ich hab es seit meinem siebzehnten Jahr gewollt!«

Sie wußte, daß es demütigend, vielleicht dumm war, dies zu gestehen; aber sie konnte es nach den vielen Jahren des Schweigens nicht mehr zurückdrängen.

Er sagte nichts, fuhr nur fort, ihre Hand zwischen seinen beiden zu halten, während er ihren Mund fest ansah.

Da legte sie ihren freien Arm ganz still um seinen Nacken, senkte ihre Stirn auf seine Schulter und ließ zum erstenmal ihrer Bewegung freien Lauf.

Er ließ ihre Hand los, faßte ihren Kopf und küßte sie auf die Stirn – dort, wo eine einsame Falte ihren feinen lotrechten Strich über der Nasenwurzel zeichnete.

»Diese Falte habe ich gewiß auf dem Gewissen!« dachte er im selben Augenblick.

Eine Woche später waren sie getraut und auf dem Wege nach Ägypten.

Svend schrieb Artikel für Zeitungen.

Er mußte sich dazu bequemen, den Ton zu dämpfen, und lernte es, zwischen den Zeilen zu reden.

Seine Schriftstellerei erweckte nicht wenig Aufsehen, besonders in den Kreisen, die seine Vorgeschichte kannten. Bei Hofe und im Ministerium sprach man davon und konstatierte mit Befriedigung, daß seine Artikel nichts verrieten, was eine Aktion notwendig machte. Man konnte sie ruhig ignorieren. Kammerherr Tithoff hatte das kleine Amt solange wie möglich offengehalten; als Svend aber immer noch nicht kam, wurde es einem älteren Beamten gegeben.

Wenn der Sünder nun doch noch kommen würde, war es zu spät. Dann würde Tithoff diskret andeuten, daß er es seinen Artikeln zu verdanken habe, daß nichts mehr für ihn da sei.

Svend aber dachte nicht daran, zu Kreuze zu kriechen.

Es war eine beständige Unruhe über ihn gekommen bei diesem andauernden Zustand der Erwartung.

Sein Ziel war, in den Reichstag zu kommen, früher oder später.

Er suchte die Einflußreichsten der Partei auf. Sie hörten ihm voller Interesse zu, aber es wurde ihnen bald klar, daß der »Systemwechsel« von dem er sprach, etwas anderes war als der, den sie im Munde führten.

Er war und blieb in ihren Augen der Idealist, der, indem er die Erbitterung anfachte und die Fahne in den Zeitungen hoch schwang, von Nutzen sein konnte. Praktisch aber war er nicht brauchbar, solange er nicht begriff, daß er sich binden mußte. Ohne Handfeste kein Mandat.

Außerdem stand er mit den regierenden Personen auf feindlichem Fuße; und das war ja nicht die Absicht.

Man mußte sich mit den Personen verhalten, während man ihre Taten verhöhnte und verdächtigte. Sonst hatte man keinen Zugang zu Einfluß, solange der Kampf währte.

Auf die politischen Zukunftswechsel Geld ziehen, das ließ sich nicht gut machen. Während das Gras nachwächst, stirbt der Gaul.

Svend erkundigte sich hin und wieder nach dem Befinden der Konferenzrätin.

Sie war vom Ausland zurückgekehrt, war aber schwächer als je. Sie verkehrte mit niemandem, und ihre Villa machte einen vollkommen verlassenen Eindruck.


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