Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Zweiter Band
Laurids Bruun

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10

Er kam nachmittags mit dem Zuge nach Aaberg.

Ein dicker, gelber Nebel lag über dem Hafen und erstickte alles Licht und Leben, so daß der Dampfer nicht abfahren konnte.

Die Passagiere mußten an Bord bleiben, um besseres Wetter abzuwarten. Aber es wurde Abend und Nacht, ohne daß sich ein Luftzug rührte. Der Nebel herrschte unentwegt über Land und Meer.

Svend warf sich unruhig in seiner engen Koje hin und her. Er fuhr zweite Kajüte.

Er erinnerte sich seiner vorigen Reise nach London, als er voller Erwartung auf dem Deck der ersten Kajüte auf und ab spazierte und den Himmel voller Geigen hängen sah.

Dann aber unterdrückte er seine Gedanken – er hatte ja gelernt, daß sie es waren, die ihn irre führten – biß die Zähne zusammen, dachte an Lisbeths seltsame Worte, die an etwas auf dem Grunde seiner Seele gerührt hatten: »Ich will wissen, ob du etwas taugst!« – und schlief schließlich ein.

Am Morgen war der Nebel noch so dicht, daß man kaum die Schuppen auf dem Kai unterscheiden konnte.

Er ging mit den anderen Passagieren an Land, tastete sich über die Schleusenbrücke und folgte der langen Mole bis zur Spitze. Dann ging er auf der Innenseite zurück, wo dicht bei dicht Fischerboote lagen, die ihre nebelfeuchten Segel gehißt hatten und auf Umschlag im Wetter warteten, während die Fischer sich in kleinen Gruppen auf dem Kai herumtrieben.

Da waren alte verwitterte Gesichter, wie er sich ihrer von der Fischerdeputation aus Sandöre erinnerte, aber auch ganz junge Burschen, deren gutmütige, treuherzige Kindergesichter in drolligem Gegensatz zu ihren schweren Gliedern und langsamen Bewegungen standen.

Es kam ein strammer und verfaulter Geruch vom Meere her. Ein Hafenangestellter, der damit beschäftigt war, Signallaternen im Brückenhaus zu hissen, sah Svend auf dem Bollwerk stehen und diesen Geruch prüfend durch die Nase ziehen.

»Ja, so riecht es hier immer!« sagte er, »das kommt von all dem Abfall und den toten Fischen, die die Fischer über Bord werfen. Die liegen hier und verfaulen.«

Svend gab seiner Verwunderung Ausdruck.

»Ja, was sollen sie denn sonst mit dem Abfall machen?«

Ob hier denn kein Abfluß sei?

Nein, das sei ja gerade das Unglück. Das Wasser müsse denselben Weg zurück zwischen den Brückenköpfen – wo es hereinkäme.

Svend meinte, daß durch eine Öffnung weiter unten in der Mole und durch den Werfthafen auf der anderen Seite Strom geschaffen werden könne.

Freilich, aber darauf wollte der Werftbesitzer sich nicht einlassen und er sei selbst technisches Mitglied im Stadtrat.

Wie konnten da die Fische in den Fischkästen frisch gehalten werden?

Ja, damit hätte es auch seine liebe Not. Sie wurden matt im Fleisch und starben bald.

Aber das sei ja eine sinnlose Kapitalverschwendung!

Der Hafenangestellte zuckte die Achseln: So sei es von jeher gewesen.

Svend sah hier zum erstenmal ein Stück von der Wirklichkeit, nach der er sich so gesehnt hatte, als er mit dem Fischereigesetz beschäftigt gewesen war.

Er gedachte der beständig einlaufenden Klagen, bald über dieses und bald über jenes, und dachte mit einem Seufzer daran, wie sehr er gewünscht hatte, sich an Ort und Stelle von den Verhältnissen zu überzeugen, um den Fischern zu helfen.

Jetzt war es zu spät. Der Weg war versperrt. Die Sache ging ihn nichts mehr an.

Gegen Mittag kam ein Wind aus Nordwest auf. Der Nebel wurde zu weißen Wolken zusammengeballt und klebte sich an die Häuser am Lande, bis der Wind sie auch dort wegfegte.

Die Schiffsglocke mahnte, und die Passagiere eilten an Bord.

 

Svend war abermals in London.

Er fand den Weg zum Hotel und erinnerte sich seiner Eindrücke von damals. Als er aber des Einganges zum Hotel ansichtig wurde und daran dachte, daß die nächsten fünf Minuten für sein zukünftiges Leben entscheidend sein würden, mußte er seinen ganzen Mut zusammennehmen, um nicht umzukehren.

Er duckte sich unwillkürlich, als er an dem Groom vorbeiging, der ihm die Tür öffnete. Dann biß er die Zähne zusammen, fest entschlossen, dem Augenblick wie ein Mann entgegenzutreten.

Aufrechten Ganges schritt er auf die offenstehende Tür der Glasloge zu.

Ein junger Mann erhob sich und fragte höflich, wen er zu sprechen wünsche.

»Mr. Johnstone.«

Der Inspektor frühstücke, würde aber gleich wieder hier sein. Ob er so freundlich sein wolle, solange Platz zu nehmen.

Svend dankte und blieb stehen.

Kurz darauf hörte er die klare, angenehme Stimme in der Halle, deren er sich so gut erinnerte.

Er sah, wie der junge Mann sich über die Tonbank beugte und ihm etwas sagte. Im nächsten Augenblick stand Mr. Johnstones schlanke, tadellose Gestalt vor ihm, glattrasiert, das dunkle Haar fest an den Kopf gebürstet, mit seinen ehrerbietig wohlwollenden Augen und dem scharfen, energischen Mund.

Svend nannte seinen Namen.

Mr. Johnstone ließ seinen Blick einen Augenblick aufmerksam auf Svends Gesicht ruhen. Dann tauchte ein plötzliches Wiedererkennen in ihm auf.

»Wie geht es Ihnen?« fragte er lächelnd und drückte Svend die Hand.

Jetzt galt es. Er fühlte selbst, wie seine Züge sich strammten, und merkte, wie sein veränderter Ausdruck sich in Mr. Johnstones Gesicht spiegelte.

»Es ist mir schlecht gegangen!« sagte er leise, damit der junge Mann am Pult ihn nicht hören konnte, »ich habe mein Vermögen verloren und kann es in meinem eigenen Lande nicht mehr aushalten.«

Bei dem Wort Vermögen« wurde Johnstones Gesicht kalt und verschlossen, nur die Höflichkeit war noch geblieben.

»Was wünschen Sie?« fragte er kurz, als Svend eine Pause machte, um Mut zu sammeln.

Er fühlte, daß der Versuch mißglückt war, bevor er noch gesprochen hatte. Mit einer verzweifelten Anstrengung brachte er dennoch die Worte hervor:

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht hier im Hotel für mich Verwendung haben. Ich bin sprachgewandt und verstehe mich auf Buchführung. Ich habe die Absicht, in Ihr Fach überzugehen.«

Mr. Johnstones Blick musterte ihn kurz und scharf, während seine Hand an die Uhrtasche griff. Ein halb mitleidiges, halb erstauntes Lächeln legte sich einen Augenblick um seinen schmalen Mund und entzündete einen Hoffnungsschimmer in Svends Herzen.

»Es tut mir leid, Mr. – äh –« er suchte einen Augenblick vergeblich nach Svends Namen –, »aber wir haben leider keine Verwendung für Ihre ausgezeichneten Kenntnisse.«

»Sie brauchen nichts zu befürchten!« beeilte Svend sich zu sagen, da er annahm, daß Johnstone ebenso wie Lisbeth meinte, daß seine akademische Ausbildung eine Fessel sei, die ihn unpraktisch und anspruchsvoll mache. »Ich habe mit meiner ganzen Vergangenheit abgeschlossen und bin bereit, ganz von unten anzufangen.«

Ohne darüber nachzudenken, hatte er sich der Worte Geheimrat Weltens bedient.

»Gestatten Sie mir nur, dem Portier zur Hand zu gehen und das Fach zu erlernen!« beeilte er sich hinzuzufügen, als Mr. Johnstones Zögern ihm von neuem Hoffnung machte.

Der Inspektor betrachtete ihn noch einmal scharf, überlegte kurz und sagte dann in einem entscheidenden Ton, indem er sich zum Gehen wandte:

»Es tut mir leid, aber das Hotel nimmt keine Lehrlinge an.«

Eine plötzliche Mutlosigkeit machte Svends Augen bleich.

Mr. Johnstone sah es und zögerte einen Augenblick.

»Sagen Sie mir dann wenigstens, wo ich ein billiges Logis finde und in die Lehre kommen kann.«

Aus der Halle ertönten jetzt laute Stimmen.

Ein Herr und zwei Damen standen gestikulierend am Fuße der Treppe und versuchten sich verständlich zu machen.

Mit einem »Entschuldigen Sie!« ließ der Inspektor Svend stehen und trat zu den Gästen.

Aber er hatte nicht mehr Glück, obgleich er es sowohl mit Französisch wie mit Deutsch versuchte.

Svend hörte, daß die Fremden Schweden seien. Der Herr wollte die Adresse eines Arztes und einer Masseurin wissen.

Die eine der Damen hatte Ischias und mußte massiert werden.

Eine Chance, dachte Svend, die er ergreifen wollte!

Er trat an Mr. Johnstone heran und erklärte ihm, was die Fremden wünschten. Er bemühte sich, den Fremden gegenüber eine artige Zuvorkommenheit zu entfalten, denn dies war ja wie eine Probe, die er zu bestehen hatte.

Die Fremden freuten sich, daß sie endlich verstanden wurden und der Herr, der Svend für einen Angestellten des Hotels hielt, klopfte ihm auf die Schulter und bat, sich in Zukunft an ihn wenden zu dürfen.

Als die Fremden gegangen waren, sagte Svend ernst zu Mr. Johnstone:

»Ein wenig Nutzen könnte ich doch vielleicht tun!«

Johnstone überlegte einen Augenblick, sagte dann » please« und ging voran in die Glasloge. Dort unterhandelte er leise mit dem jungen Mann am Pult, der Svend einen raschen Blick zuwarf, darauf in einem Buch nachsah und einen Nummernplan über die Zimmer des Hotels zu Rate zog.

Der Inspektor sagte » well« und nickte, ging darauf auf Svend zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

»Sie können ein kleines Dienerzimmer in der obersten Etage bekommen und Frühstück am Tisch der Angestellten, wenn Sie dem Portier zur Hand gehen oder hier im Büro Hilfsdienste leisten wollen. Sie müssen die Arbeit nehmen, wie sie fällt, bis wir sehen, was Sie taugen. Wollen Sie?«

»Mit Vergnügen!« sagte Svend und dankte Mr. Johnstone, der dem Hausknecht klingelte, ihm kurz Bescheid gab und Svend aufforderte, mit dem Bediensteten-Lift nach oben zu fahren.


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