Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Zweiter Band
Laurids Bruun

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8

»Lisbeth!« sagte sie und beugte ihm ihren Kopf mit einem Lächeln entgegen, das ihre Zähne zeigte.

Diese Grübchen kannte er – ja, das war Lisbeth.

Eine heftige Freude und gleich darauf eine hilflose Scham jagte ihm das Blut in die Wangen.

Weshalb gerade jetzt – weshalb mußte er ihr gerade jetzt begegnen, wo alles vorbei war?

»Lisbeth!« flüsterte er verwirrt und ergriff die Hand, die sie ihm reichte.

»Ich hab Sie gleich erkannt! – Wie geht es Ihnen?«

Sie wollte sagen: ich habe gehört, daß Sie Frau und Kinder haben. Aber sie unterdrückte es. Er sah' nicht aus wie ein glücklicher Mann. Es war Mitleid mit der einsamen, müden Gestalt dort in der Sofaecke gewesen, das sie auf ihn aufmerksam gemacht hatte.

»Es ist lange her, seit wir uns gesehen haben!« beeilte er sich zu sagen. »Ich glaube, ich sah einen Schimmer von Ihnen, als ich das alte Haus mit meiner Schwester besuchte.«

»Ja – das sind jetzt sieben Jahre her. Damals war ich einige Wochen zu Hause gewesen, und Vater fuhr mich zum Bahnhof.«

Er lehnte sich gegen die Wand und gab sich plötzlich den Erinnerungen hin.

»Ja, das Witwenhaus!« seufzte er, »jetzt soll meine Mutter dort auf Lebzeiten wohnen, nach den testamentarischen Bestimmungen der Konferenzrätin.«

Der wehmütige Klang seiner Stimme schnitt ihr ins Herz.

Sie fühlte mit sicherem Instinkt, daß das Leben ihm schlimm mitgespielt habe. Sie dachte an ihre Kinderliebe, und es tat ihr leid um ihn. Nun, sie kannte ihn ja nicht, und wahrscheinlich erntete er, was er selbst gesät hatte. Aber dennoch. Jetzt, wo sie sich am letzten Abend des Jahrhunderts so allein gegenüberstanden, konnte sie ihrem Wunsch, etwas über sein Schicksal zu erfahren, nicht widerstehen.

»Svend!« sagte sie, und das zärtliche oder wehe Lächeln legte sich wieder um ihren Mund, »so hab ich Sie ja früher immer genannt – wie ist es Ihnen im Leben ergangen?«

Ihr Ton war so herzlich, daß es um seine Lippen zu beben begann. Er unterdrückte seine Bewegung, aber sie hatte sie gesehen, und wandte ihren Blick ab, um nicht zu verletzen.

Er sah sich in dem leeren Café«, wo der Kellner auf einem Stuhl eingeschlafen war, hilflos um. Dann drängte die schreckliche Öde, in der er lebte, ihn ihrer Teilnahme entgegen. Es war so lange, lange her, seit jemand zu seinem Herzen gesprochen hatte.

Er blickte in ihre blauen Augen und versuchte zu lächeln, während er seinen Nacken gegen die Wand drückte.

»Schlecht genug!« sagte er. »Von Frau und Kindern geschieden. Ohne Stellung. Ohne Heim.«

Ein leises Rot stieg in ihre Wangen. Ihre Augen wurden dunkel, während sie auf ihm ruhten. Dann suchte ihr Blick die Uhr über dem Schrank, streifte darauf den Kellner, der auf dem Stuhl schnarchte.

»Gehen Sie heute abend aus?« fragte sie und sah auf ihre Hände herab.

»Ja, nach Amager hinaus,« sagte er mit dem Schatten eines Lächelns, »dort wohne ich.«

»Auf Amager?« sie sah erstaunt auf.

Es war etwas an ihr, das ihn zur Offenheit zwang. Diesen blauen Augen gegenüber, die sich der Vergangenheit so gut erinnerten, halfen keine Ausflüchte. Und gleichzeitig empfand er es wie eine Linderung, sich aussprechen zu können.

»Ich habe niemanden, mit dem ich Neujahr feiern kann.«

»Ich auch nicht!« sagte sie. »Ich wohne hier in der Nähe in einem kleinen Gartenhaus. Wollen Sie mit mir nach Hause kommen? Dann feiern wir zusammen.«

Das kam so natürlich und ruhig – ohne Hintergedanken und ohne Furcht.

Er ergriff ihre Hand und drückte sie zum Dank.

»Setzen Sie sich wieder auf Ihren Platz!« flüsterte sie.

Nach einer Weile klingelte sie dem Kellner, der erwachte, sich streckte und langsam herauskam.

»Wie ist es hier öde, Hansen!«

»Ja, verflucht langweilig.«

»Heute abend kommt sicher kein Mensch mehr. Wissen Sie was, Hansen, wir wollen lieber gleich schließen und Altjahrsabend feiern. Aber Sie dürfen es dem Alten nicht petzen.«

»I wo! Der kommt nicht vor morgen früh mit seiner Alten nach Hause. Und dem Schutzmann stecken wir ne Flasche Bier zu, damit er reinen Mund hält.«

Mit einem verdrossenen Blick auf Svend begann er lärmend das Licht zu löschen.

Svend klingelte, bezahlte und ging.

Er wartete einige Minuten draußen an der Ecke; dann kam sie rasch und munter auf ihn zu.

»Wie schön, daß ich Sie getroffen habe!« sagte sie.

Sie schritten schnell zusammen aus. Der Altjahrsabendlärm hatte begonnen. Einige Knaben schossen Spritzteufel ab, sie zischten und strahlten in allen Farben und warfen ein scharfes Licht auf Lisbeths Gesicht.

Svend fuhr bei jedem Knall zusammen.

»Wie sind Sie nervös!« sagte sie und betrachtete sein mageres, blasses Gesicht.

Sie bogen rechts in eine Seitenstraße ein, die in eine Allee mit jungen Bäumen und kleinen Gartenhäusern, die sich wie Geschwister glichen, endigte.

Sie öffnete eine Gittertür und ließ ihn auf einem kiesbestreuten Weg vorangehen.

»Dort oben ist es!« sagte sie und zeigte auf zwei dunkle Giebelfenster und eine Glastür, die zu einem Balkon über der Veranda des Parterres führte.

 

Der Schein des Ofens tanzte in einem breiten Streifen über dem Fußboden, eine starke Wärme schlug ihnen entgegen.

»Hu, sie hat ordentlich eingeheizt!« sagte Lisbeth munter, zündete die Lampe auf dem Tisch an und schloß die Ofentür.

»Ich wohne bei den Leuten, die das Parterre haben, zur Miete. Es sind nette Leute. Der Mann ist Tischler. Jedes Jahr bezahlt er ab, und in zehn Jahren gehört das Haus ihm.«

Ihre klaren Augen fügten anerkennend hinzu: So muß man es machen!

Es war eine kleine zierliche Stube mit modernen, billigen Möbeln, so wie Tischler sie dutzendweise anfertigen. Auf der roten Tapete hingen Ölgemälde, mit und ohne Rahmen – einige Studienköpfe, Landschaften, der Rücken eines Aktmodells, das ihr Haar aufsteckte. Über dem Sofa hing ein längliches Bild, das ein altes Haus mit einem hohen Dach vorstellte, über das einige große Kastanienbäume ihre knorrigen Äste streckten.

Svend wurde es ganz warm ums Herz.

»Das ist ja das ›Witwenhaus‹« sagte er, »das alte Haus!«

»Können Sie es erkennen?«

Sie stellte sich froh neben ihn, um das Bild mit seinen Augen zu betrachten und das Wiedererkennen mit ihm zu genießen.

Er stand lange schweigend da und betrachtete das Dach, die Fenster und die Kastanien voller Rührung.

Sie dachten beide an dasselbe. Sie fragte mit dem zärtlichen oder wehen Lächeln von vorhin:

»Wissen Sie noch die Ziege Jens?«

Ihre Stimme bekam einen anderen, einen wärmeren Klang, wenn sie sie senkte.

»Was ist aus ihr geworden?«

»Sie brach ein Bein in der Mergelgrube und Vater mußte sie erschießen.«

»Ach du lieber Gott!«

»Ich war trostlos, wie Sie sich denken können!«

»Wie sind Sie nur zu dem Bild von dem alten Haus gekommen?«

Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sah sie ihn offen an und sagte:

»Ein Maler wohnte einen Sommer bei uns. Es war in dem Jahr, als ich Ihnen und Ihrer Schwester begegnete.«

Jetzt war wieder der warme, tiefe Klang in ihrer Stimme. Der bricht immer durch, wenn sie mit dem Herzen spricht, dachte Svend bei sich; mit diesem Maler hat sie sicher etwas gehabt.

Ein blondlockiger Kinderkopf lachte ihm von der Wand mit großen Augen entgegen.

Er betrachtete ihn lange. Es waren Lisbeths Augen. Er hätte gern etwas Näheres gewußt, aber er wagte nicht zu fragen.

Sie sah ihn von der Seite an und las seine Gedanken.

»Das ist mein Kind!« sagte sie still. »Aber es ist tot.«

Er wurde in ihrem Namen verlegen. Dann aber stieg ein warmes Gefühl der Teilnahme in ihm auf; er drehte sich um und hielt ihren Blick fest. Sie sah ihn mit dem zärtlichen oder wehen Lächeln an, und jetzt war es, als ob sich Tränen dahinter verbargen.

»Man muß nehmen, was das Leben gibt!« sagte sie stark, und nach einem Augenblick des Zögerns fügte sie hinzu:

»Es ist der Vater des Kindes, der das Haus und all das andere gemalt hat.«

Svend wurde wieder verlegen; bevor er aber die teilnehmenden Worte, die ihm auf den Lippen lagen, gesagt hatte, wandte sie sich ab und begann ihre Mäntel an den Garderobenhaken an der Tür aufzuhängen. Ihre Gestalt war kräftig und voll, weich und fest zugleich. Sie hatte eine schnelle und sichere Art, die Dinge anzugreifen.

»Jetzt wissen Sie es also!« sagte sie keck, »ich habe ein Verhältnis gehabt und ein Kind bekommen – ein uneheliches Kind –«

Sie drehte den Kopf zu ihm um und betrachtete ihn mit einem Blick, der prüfend, aber gleichzeitig schelmisch war, als wolle sie sagen:

Hättest du geglaubt, daß ich so eine sei? Denn du findest wohl, daß es schrecklich ist.

Er hatte wohl etwas Ähnliches gedacht. Aber es war seltsam, wie das alles, durch die Art, wie sie es sagte, und bei dem starken, unverzagten Blick, der ihren Worten folgte, von ihm abfiel. Das Herz wurde ihm warm. Du lieber Gott, die kleine Lisbeth mit der Ziege. Er vergaß für einen Augenblick seine Müdigkeit und seine eigene Not.

»Sie haben wohl viel durchgemacht!« sagte er.

»O ja!« sagte sie kurz und knapp.

»Wie hieß Ihr Kind?« fragte er und betrachtete wieder den blonden Kinderkopf an der Wand.

»Svend!« sagte sie einfach. Bevor er aber Zeit fand, sich zu wundern oder zu fragen, zog sie einen Stuhl an den Tisch, setzte sich ihm gegenüber, beugte sich zu ihm, wobei ihr volles aschblondes Haar vom Lampenschein beleuchtet wurde, und fragte ernst, als ob es selbstverständlich sei, daß sie wieder Freunde wie ehemals waren:

»Und wie ist es Ihnen ergangen?«

Sie setzte sich zurecht und richtete ihre großen Augen aufmerksam auf ihn.


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