Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Zweiter Band
Laurids Bruun

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12

Eines Morgens, als Svend und der Einkäufer wie gewöhnlich auf dem Billingsgate-Markt von Tisch zu Tisch gingen, kam ein junger, gut gekleideter Herr auf sie zu und richtete einige Worte an den Einkäufer, der ihn zu kennen schien.

Als Svend hörte, daß der junge Mann Johnstones Namen nannte, nahm er ihn näher in Augenschein. Ihm war, als kenne er die feingezeichneten, schrägen Augenbrauen, das gelbliche Gesicht, die großen, klugen Augen.

Im selben Augenblick, als er feststellte, daß der junge Mann ein Chinese sei, wußte er, daß er Mr. Johnstones Chinaboy vor sich hatte. Der Knabe war jetzt ein geschmeidiger Jüngling, mit einem selbstbewußten und beherrschten Ausdruck in Blick und Haltung.

Svend begrüßte ihn und erinnerte ihn an seinen Besuch auf dem Flusse.

Mr. Chanfoe betrachtete ihn aufmerksam, nickte und lächelte mit seinen schmalen Lippen; Svend aber hatte doch den Eindruck, als ob er sich seiner in Wirklichkeit nicht erinnern könne. Es war jetzt, ebenso wie damals, etwas einschmeichelnd Liebenswürdiges im Gesicht des Chinesen, das Svend anzog.

Er gedachte der mütterlichen Gefühle Mrs. Johnstones für ihn und der Liebe des Knaben für sie. Und als er hörte, daß Chinaboy jetzt sein eigenes kleines Hotel in Eastend habe, für Gentlemen aus den Kolonien, wie er sich ausdrückte, da beeilte er sich zu sagen, daß er eine Stellung als Portier in einem kleinen Hotel suche.

Chanfoe betrachtete ihn mit einem plötzlichen Wechsel im Ausdruck, der seine Rasse verriet. Er wolle gelegentlich daran denken, sagte er.

Sie trafen sich noch mehrmals auf dem Markt, wo Chanfoe persönlich seine Einkäufe machte.

Svend merkte, daß die Augen des Chinesen ihm beständig folgten, bis er sich ihm eines Tages näherte und fragte, ob er Lust habe, zu ihm zu kommen.

Der Chinese erzählte, daß sein Hotel klein sei und meistens Leute beherberge, die mit den großen China- und Ostindienfahrern in den Docks von Eastend lägen.

»Sehr anständig,« versicherte er mit ernsten Augen. Es kämen Offiziere der Schiffe, Leiter der europäischen Faktoreien in den chinesischen Hafenstädten, Leute aller Nationen, auch einzelne reiche Chinesen, die mit seinem Vater in Schanghai in Geschäftsverbindung stünden. Aber alle »sehr anständig«.

Svend bat sich bis zum nächsten Tag Bedenkzeit aus.

Als er mit Johnstone darüber sprach, merkte er gleich, daß der Chinese sich nach ihm erkundigt habe.

Zum erstenmal erwähnte Johnstone etwas von seinen Familienverhältnissen.

»Seit dem Tode meiner Frau,« sagte er, »sehe ich Chanfoe nur selten. Er hat das Hotel in Eastend im vorigen Jahr von einem Freunde seines Vaters, der nach China zurückkehrte, übernommen. Ich will Ihnen weder ab- noch zuraten. Chanfoe ist ein tüchtiger Mensch und das Geschäft ist sicherlich gut. Aber ob es für Sie paßt, das weiß ich nicht. Sie können es ja versuchen.«

Svend verstand, daß kein herzliches Verhältnis zwischen Johnstone und seinem früheren Mündel herrschte; aber er wollte nicht fragen.

Als er tags darauf Mr. Chanfoe wieder traf, schlug er ein. Er sollte volle Kost bekommen, aber keinen Lohn außer den Trinkgeldern.

Mr. Chanfoes Hotel lag weit draußen in Commercial Street und hieß: »Old Svan«.

Es war ein graues Gebäude mit zwei Stockwerken, deren Fenster weit auseinander lagen und mit ihren gleichartig gemusterten Stores einen vornehmen Eindruck in dem sonst einfachen Viertel machten.

Über der Tür prunkte aus alten Tagen ein in Holz geschnitzter Schwan, dessen Vergoldung die Zeit geraubt hatte.

Es war ein Hotel, in dem nie ein Geräusch laut wurde. Dicke Teppiche bedeckten die Fußböden und Korridore. Die elektrischen Lampen waren mit matten Kugeln bedeckt und bunte, undurchsichtige Fensterscheiben führten zu dem dunklen Hof hinaus, in dem nie ein Mensch zu sehen war.

In dem ganzen Hotel gab es nicht einen einzigen weiblichen Dienstboten. Außer Svend, der abwechselnd mit Chanfoe selbst den Portierdienst versah, waren ein alter Oberkellner und der Hausknecht Jack die einzigen Europäer. Sonst waren alle Angestellten des Hotels Chinesen. Junge, schweigsame Leute, die Mr. Chanfoe glichen, mit verschlossenen Gesichtern und einem freundlichen, selbstbewußten Lächeln für jeden.

Alle Kunden des Hotels schienen Stammgäste zu sein. Leute verschiedenartigen Standes und aus allen Nationen, aber mit einem gemeinsamen Stempel: alle standen sie auf irgendeine Weise mit ostasiatischen Ländern in Verbindung.

Da waren Kapitäne; wuchtige, schweigsame Leute mit wettergebräunten, von Seemannsbärten umrahmten Gesichtern. Da waren Angestellte aus englischen Handelshäusern in Schanghai, die sich auf Urlaub oder in Geschäften in London aufhielten. Leute mit einer seltsam vergilbten Haut und seltsam unruhigen Augen. Hin und wieder ein Chinese von hohem Rang, dessen Aufwartung Mr. Chanfoe selbst übernahm.

Aber außer diesen Gästen aus der Fremde gab es auch Besucher, die aus der Stadt kamen und nichts außer einer Handtasche bei sich hatten.

Sie kamen in regelmäßigen Zwischenräumen in der Dämmerung angefahren, bekamen ihre bestimmten Zimmer und blieben nur eine oder zwei Nächte. Es war leicht zu durchschauen, daß der Name, den sie angaben, fingiert war; und Svend lernte bald, daß am liebsten gar nicht gefragt werden sollte; er konnte einen Namen nach Belieben einschreiben.

Vereinzelte Damen waren dazwischen. Sie kamen nach Dunkelwerden mit einem Wagen, glitten dichtverschleiert an der Portierloge vorbei und wurden von Chanfoe, der sie kannte und erwartete, in ein Zimmer geleitet.

Es dauerte einige Tage, bis es Svend, der sein Zimmer hinter der Portierloge hatte, klar wurde, was eigentlich die Anziehungskraft dieses abgelegenen Hotels ausmachte.

Vom Hotel führte eine Hintertür und ein enger Korridor zu einer Bar, die ihren eigentlichen Eingang von einer Seitenstraße hatte.

Svend war an einem der ersten Tage dort hineingegangen, um einen Porter zu trinken. Er wunderte sich, wie ungemütlich leer es in dem halbdunklen Raum aussah, von dem doch so viele der Gäste durch die Hintertür angezogen wurden.

Hinter der Schenke stand ein Chinese und trocknete Gläser. Er betrachtete Svend mit demselben schweigend freundlichen Lächeln, das allen Leuten Chanfoes eigen war, und schien überrascht, als Svend einen Porter verlangte.

Als der Chinese aber eine Luke in der Wand öffnete, um eine Whiskyflasche hindurchzuschieben, konnte Svend aus einem dahinterliegenden Zimmer Stimmen unterscheiden.

Da kam ihm der Gedanke, daß die Bar und die Schenke ein Schirmbrett für ein Opiumhaus sei.

Im selben Augenblick wurde ihm alles klar. Mr. Chanfoe besaß auch dieses Haus. Es war die Opiumkneipe, die seine ostasiatischen Gäste aufsuchten und die englischen Gesetze ihn zu verbergen zwangen.

Svend ließ Mr. Chanfoe verstehen, daß er alles erraten habe.

Der Chinese leugnete nichts, lächelte nur und wiederholte sein »sehr anständig«.

Die Entdeckung reizte Svends Neugierde, beunruhigte ihn aber gleichzeitig, obgleich er zugeben mußte, daß es wirklich ein sehr anständiges Hotel sei.

Es kam vor, daß ein Gentleman durch die Hintertür der Bar getaumelt kam und die teppichbelegte Treppe zu seinem Zimmer hinaufschwankte; aber es war ein stummer Rausch, der mehr an Krankheit als an Trunksucht gemahnte.

Oder einer der chinesischen Kellner aus der Bar mußte in der Nacht einem der Gäste hineinhelfen, der wie eine lebende Leiche an seinem Arm hing.

Es waren immer dieselben Gäste, denen dies in gewissen Zwischenräumen, wie ein periodischer Krankheitsanfall, passierte. Aber nie gab es Zänkereien oder Auftritte unangenehmer Art.

Svend eignete sich schnell das still diskrete Wesen, das ehrerbietig vertrauliche Flüstern an, das überall in Mr. Chanfoes Hotel Brauch war. Trotz des beständigen Halbdunkels, das in dem Hotel herrschte und bei dem man nur schwer die Gesichtszüge unterscheiden konnte, wurde es Svend doch bald klar, daß sich unter den Gästen des Hotels sogar sehr distingierte Personen befanden.

Anfangs war Svend die stille Ruhe des Hotels, die friedliche Tagesarbeit, die selten vor zehn Uhr vormittags begann, ein wahres Labsal gewesen nach dem rastlosen Verkehr in dem großen Hotel und der harten Morgenarbeit.

Nachdem er sich aber erst ausgeruht hatte, begann die beständige Eingeschlossenheit in dem gedämpft beleuchteten Raum, die schwere Luft in seinem kleinen Schlafzimmer wie ein Alpdruck auf ihm zu lasten. Obgleich er nichts mit der Opiumkneipe zu tun hatte, ja, so tun konnte und sollte, als ginge sie das Hotel gar nichts an, so wirkte es doch stark auf seine Nerven, sich mit menschlichem Elend in so naher Berührung zu wissen.

Er sah Gesichter, starr und bleich wie Masken, an seiner Loge vorbeigehen, nahm ihr Geld entgegen, hörte ihre seltsamen Stimmen, verzweifelte über die grenzenlose Stumpfheit ihrer Gedanken. Er konnte den Gästen wieder und wieder auf ihre gleichen Fragen nach Gepäck und Schiffsgelegenheit Antwort geben, ohne daß er zu dem Rest des Bewußtseinslebens, das noch in ihnen war, durchzudringen vermochte.

Aber er hatte es bereits in Mr. Johnstones Hotel gelernt, sich hart zu machen. Jeden Abend, bevor er zu Bett ging, zählte er nach, was der Tag ihm eingebracht hatte, und tröstete sich mit der Größe der Summe. Die Gäste dieses Hotels schienen dem Geld keinen besonderen Wert beizulegen; die Trinkgelder waren so groß, daß Svend jede Woche eine hübsche Summe zurücklegen konnte.

Ab und zu aber mußte seine Natur sich dennoch Luft verschaffen. Ganz plötzlich, wie ein Platzregen kam es, wenn es des Nachts so dumpf in seinem Zimmer war, daß er nicht schlafen konnte. Dann warf er sich verzweifelt in seinem Bett hin und her, wollte sich nach oben schleichen, fliehen, stöhnte, daß er es nicht mehr aushalten könne. Schließlich nahm er dann ein Schlafpulver, das Mr. Chanfoe ihm gegeben hatte, als er einst über Schlaflosigkeit klagte. Dann schlief er wunderbar, bis Jack, der alte, mürrische Hausknecht, ihn am Arm rüttelte, um ihn wach zu bekommen.


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