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Lisbeth war gerade mit ihrer Arbeit fertig geworden. Sie saß müde am Fenster und blickte hinaus. Wo blieben sie doch nur? Es war schon halb dunkel. Und die Kinder hatten ihre Schularbeiten noch nicht gemacht.
Da sah sie im Fensterspion Svend mit einer fremden Dame die Straße entlang kommen, so vertraulich, als hätten sie sich schon jahrelang gekannt.
Es ging wie ein Stich durch ihr Herz. Sie versuchte vergeblich, es auf die leichte Schulter zu nehmen, sie wollte ihn nicht einmal fragen, er schuldete ihr ja auch keine Rechenschaft. Als er aber auf dem Vorplatz stand und sich die Füße auf der Matte trocknete, während die Knaben ihr entgegensprangen, um ihr zu zeigen, was sie gefunden hatten, da konnte sie es doch nicht lassen.
»Mich dünkt, du gingst mit einer Dame,« sagte sie in einem Ton, der gleichgültig sein sollte. »Ja,« sagte er, und sah hastig auf, ob er ihren Tonfall richtig verstanden habe. »Es war Frau Christensen, die Frau des Schiffsbauers. War das nicht eine amüsante Begegnung? Wir sind gute Bekannte aus meinen Studententagen, haben fast ein ganzes Jahr in demselben Pensionat gewohnt –.«
Lisbeth antwortete nicht, sondern beschäftigte sich eifrig mit den Knaben.
»Aha!« dachte Svend und war froher als seit langem.
Am nächsten Tage machte Svend sich fein. Er nahm seinen Zylinder aus dem Kleiderschrank und bürstete ihn sorgsam.
Das war ein so ungewohnter Anblick, daß Lisbeth, die im selben Augenblick vorbeiging, die Frage nicht unterdrücken konnte:
»Willst du einen Staatsbesuch machen?«
»Ja, bei Christensens!«
Sie blickte von der Seite zu ihm auf.
»So!« sagte sie nur und ging weiter.
Das Herz war ihr schwer und sie grübelte darüber, was dies wohl zu bedeuten habe.
Nicht einmal sein Vertrauen besaß sie mehr.
Es verging eine Stunde; Svend kam nicht. Es vergingen zwei; er war noch immer nicht da.
Sie war schlechter Laune und antwortete den Leuten kurz.
Es wurde Mittag. Das Essen war fertig, aber Svend kam noch immer nicht.
Sie setzte sich mit den Knaben an den Tisch und zwang sich freundlich zu sein.
Als Svend spät am Nachmittage nach Hause kam, ging er gleich zu ihr ins Zimmer, ohne vorher Mantel und Hut abgelegt zu haben.
»So, jetzt kommt Schwung in die Sache!« sagte er strahlend.
Sie antwortete nicht. Ihr hatte er ja nichts anvertraut, und sie wollte sich nicht aufdrängen.
»Wir haben schon gegessen!« sagte sie nur.
Ihr Ton verletzte ihn. Er sah sie einen Augenblick an. Dann nahm er seinen Hut, um hinauszugehen. In der Tür wandte er sich noch einmal um und sagte:
»Frau Christensen wollte durchaus, daß ich bei ihnen zu Mittag essen sollte.«
»Das kann ich mir denken,« sagte Lisbeth und biß sich auf die Lippen.
Am nächsten Morgen ging Svend zu den Arbeitern und sagte, er habe sich die Sache überlegt und er könne die Bürde eines Stadtverordneten nicht übernehmen. Aber er wolle ihnen raten, es noch eine Weile mit Christensen zu versuchen.
Sie waren sehr enttäuscht. Davon könne keine Rede sein. Christensen müsse auf alle Fälle weichen. Und wolle Byge nicht seine Stelle einnehmen, so müßten sie einen anderen suchen.
Aber es waren keine drei Tage vergangen, als der »schwarze Jensen«, derjenige von den Arbeitern, mit dem Svend am meisten zu tun gehabt hatte, in der Mittagszeit am Hafen hinter Svend hergelaufen kam.
»Wissen Sie schon das Neueste,« sagte er ganz atemlos vor Eifer, »Christensen hat seinen Jungen in die Volksschule geschickt. Was mag das zu bedeuten haben?«
»Er hat sich wohl überlegt, daß es so am besten für seinen Jungen ist!« sagte Svend unbefangen.
»Nee, nee! Ich will eher glauben, daß er sich nicht von Ihnen übertrumpfen lassen will. Weiß er schon, daß Sie die Wahl nicht annehmen wollen?«
»Das glaube ich kaum!«
»Sehen Sie wohl, da haben wir's! – Aber es ist dennoch ganz schneidig von ihm.«
Eine Stunde später war das Gerücht in der ganzen Stadt verbreitet. Nicht nur auf der Werft und im Hafen wußte man es, sondern die Leute in den Straßen hielten sich gegenseitig an, um die unerhörte Begebenheit zu besprechen.
»Das ist dieser Byge mit seinen verfluchten Ideen!« sagte der Apotheker zum Zahnarzt. »So was steckt an, will ich Ihnen sagen.«
Als Christensen gegen Feierabend groß und breit mit seinen langen Schritten zur Werft kam, um die Arbeit des Tages in Augenschein zu nehmen und dem Werkführer seine Befehle für den nächsten Tag zu geben, da begegnete er den Arbeitern, die nach Hause gingen. Sonst pflegten sie müde und übellaunig allein oder zu zweien zu gehen. Heute abend gingen sie in einem großen Haufen.
Der »schwarze Jensen« war der erste, der des Prinzipals ansichtig wurde. Sie hatten gerade von ihm gesprochen und fühlten sich wie auf frischer Tat ertappt.
Einige zögerten, andere wollten zur Seite treten. Jensen aber hielt sie zurück. Er hatte sich zur Feier des Tages einige Extraschnäpse zu Gemüte geführt und hatte die dunkle Empfindung, als ob etwas Besonderes geschehen müsse.
Als Christensen an ihnen vorbeiging, zog er zuerst den Hut. Es lag ein schelmischer Blick in seinen Augen, als verberge sich ein Lächeln in seinem großen Vollbart.
Der Haufe blieb stehen und erwiderte seinen Gruß; und ohne daß jemand wußte, wie es eigentlich zuging, brachten sie dem Schiffbauer ein Hurra.
Christensen sah aus, als ob er etwas sagen wollte; aber es wurde nichts weiter als ein »Danke«, während er weiterging.
Eine Woche vor den Stadtratswahlen wurde der Hafen und die Werft durch eine neue sensationelle Begebenheit in Aufruhr versetzt.
Eines Morgens begann eine Schar Arbeiter unter Aufsicht eines Hafenbeamten die großen Steine in Christensens Bollwerk, die die Grenze zwischen dem Fischereihafen und der Werft bildeten, zu lockern. Von beiden Seiten kamen Neugierige und wollten sehen, was hier los sei.
Man wollte es nicht glauben, bevor man sah, daß es mit dem Abfluß ernst wurde.
Als Christensen tags darauf zur Mittagszeit groß und breit dahergegangen kam, um die Arbeit zu besichtigen, stand ein Haufe Fischer auf dem Bollwerk mit der Pfeife im Munde.
Es ging hier wie auf der Werft. Zuerst wollte man sich drücken; aber dann war da ein beherzter Mann, der fand, daß der Schiffsbauer wissen solle, daß man zufrieden sei.
Christensen grüßte wie gewöhnlich zuerst. Als man die Mützen abnahm, wurde es zu einem langen Hurra, ohne daß jemand wußte, wer eigentlich angefangen hatte.
Von dem Tage an war Christensen ein beliebter Mann in der Stadt. Und wenn Svend nicht selbst sein Lob am eifrigsten verbreitet hätte, würde zweifellos seine eigene Popularität darunter gelitten haben.
Nachdem die erste Überraschung sich gelegt hatte, errieten die Verständigsten, daß Byge selbst einen Finger im Spiel gehabt hatte.
Christensen wurde mit Glanz gewählt und was noch mehr war, es ging, wie der Apotheker prophezeit hatte: Die verfluchte Idee mit der Volksschule steckte an.
Die Kontoristen des Schiffsbauers und die übrigen festen Angestellten, die sonst mit Mühe das teure Schulgeld in den Privatschulen bezahlt hatten, wurden plötzlich demokratisch und schickten ihre Kinder in die Volksschule. Was Christensen tun konnte, das konnten sie auch wohl.
Es wurde eine reine Modesache für die Kaufleute und Handwerker der Stadt, Christensens Beispiel zu folgen, um so mehr, als es eine so angenehm sparsame Mode war.
Der Beamtenstand aber war wütend.
Es kam ihnen vor, als läge eine Revolution in der Luft in ihrer guten Stadt.
Jetzt galt es, die gesunden konservativen Prinzipien gegen die verderblichen Auswüchse des Sozialismus zu verteidigen, die dieser Schelm, der von Gott weiß woher gekommen war, mit seiner Konkubine und seinen unehelichen Knaben, einführen wollte.
Die beiden Realschulen der Stadt, die sonst in offener Feindschaft miteinander gelebt hatten, schlossen sich in dem gemeinsamen Interesse zusammen. Die Rektoren gingen zusammen zum Bürgermeister und klagten ihre Not. Die Schülerzahl sei so stark zusammengeschmolzen, daß man das Lehrerpersonal einschränken oder das Schulgeld erhöhen müsse, wenn man keine Hilfe bekäme.
Der Bürgermeister war ein steifer und rechtdenkender Bürokrat. Er meinte, daß das Geschehene ein Auswuchs desselben Geistes sei, der zu dem unglückseligen Systemwechsel geführt, der Leuten, die ohne die geringste akademische Bildung waren, das Ministerportefeuille verschafft hatte. Hier sah man die Folgen. Es würden noch schlimmere Dinge geschehen, wenn man nicht an höchster Stelle einsah, daß eine Umkehr notwendig sei. Er sah aber ein, daß vorläufig nichts anderes zu machen war, als daß die gute Gesellschaft selbst Justiz üben müsse.
Der Apotheker übernahm mit Freuden den ehrenvollen Auftrag, im »Klub von 1888« – der die Spitzen der Stadt zu Sitzungen, Konzerten und Bällen vereinigte, und zum Gegensatz zu dem uralten allgemeinen Bürgerklub »der feine« genannt wurde – den Vorschlag vorzubringen, daß das Hafenhotel boykottiert werden solle.
Die Demonstration wurde einstimmig angenommen. Die Mitglieder verpflichteten sich, die Lokale des Hotels weder zu öffentlichen noch privaten Zusammenkünften zu benutzen.