Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Zweiter Band
Laurids Bruun

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20

Svend hatte am Vormittage eine Deputation von Fischern und Arbeitern empfangen, die ihn baten, sich an Stelle von Christensen in den Stadtrat wählen zu lassen.

Er hatte geahnt, daß es soweit kommen würde und sah auch ein, daß er seine Freiheit zum Opfer bringen müsse, wenn er seinen Willen durchsetzen wolle.

Es lag gar nicht in seiner Absicht, Stadtverordneter zu werden. Er betrachtete das nur als einen Zeitverlust und sein Ehrgeiz ging nur in eine Richtung, für die er seine ganze Kraft einsetzen wollte.

Die Frage war nur, ob eine Stellung als Stadtverordneter nicht für seine Zwecke notwendig sei.

Er hatte sich deshalb von der Deputation eine Bedenkzeit von vierundzwanzig Stunden ausgebeten.

Jetzt machte er seine gewohnte Spaziertour mit den Knaben; und das Schicksal wollte, daß Lisbeth gerade an diesem Nachmittage keine Zeit hatte; es war große Wäsche im Hotel.

Es war ein frischer Oktobertag mit klarem Himmel und hoher See. Der Strand war voller Muscheln und Seesterne, die der erste Herbststurm herangespült hatte.

Henning und Jörgen waren entzückt. Sie hatten Erlaubnis bekommen, Stiefel und Strümpfe auszuziehen, um unbehindert von den Brandungswellen den Strand absuchen zu können.

Sie hatten zu Hause bereits eine große Sammlung von See-Merkwürdigkeiten und erwarteten eine reiche Ernte nach dem Sturm.

Svend ging auf dem festen Sandboden, worin die Flutwellen ihre zitternden Linien geritzt hatten.

Er ging mit den Händen auf dem Rücken, den Blick suchend auf die Erde gerichtet, wie es seine Gewohnheit war. Da sah er, als er aufblickte, daß jemand ihm entgegenkam. Es war eine Dame mit einem Knaben. Er konnte noch nicht unterscheiden, ob er sie kannte.

Er dachte einen Augenblick daran, in die Dünen zu gehen, um eine Begegnung zu vermeiden. Er war nicht aufgelegt, heute mit jemandem zu sprechen. Aber dann mußte er erst seine Knaben rufen, die weit draußen im Wasser gingen, die Hosen hochgezogen und die Schuhe, in denen die Strümpfe steckten, in der Hand. Sie waren so eifrig, daß er es nicht übers Herz bringen konnte, sie zu rufen.

Jetzt sah er, daß es eine Dame aus der Stadt war. Sie hatte einen kleinen, dicken Knaben an der Hand, der aufmerksam zu Henning und Jörgen hinüberspähte, die mit bloßen Füßen in dem kalten Wasser patschten.

Die Mutter blieb stehen und wollte ihn scheinbar zu etwas überreden; er aber weigerte sich hartnäckig. Dann setzten sie ihren Weg fort. Jetzt waren sie Svend so nahe gekommen, daß er den Knaben erkannte. Es war Christensens Sohn. Die große, ziemlich starke Dame mit dem freimütigen und dennoch etwas beschwerten Gang war dann wohl die Frau des Matadors.

Er hatte sich gerade so lebhaft in Gedanken mit ihrem Mann beschäftigt, daß er sie mit Interesse betrachtete.

Im selben Augenblick machte sie eine unfreiwillige Bewegung, als ob sie ihn kenne. Einen Augenblick sah es aus, als wolle sie stehen bleiben und umkehren.

Dann aber steuerte sie entschlossen auf ihn los.

Jetzt war es Svend auch, als ob er diesen freimütigen Gang, den stolzen Kopf und das güldenrote Haar kenne.

Plötzlich ging ihm ein Licht auf:

»Agnete Grönvold!«

Als sie sah, daß er sie wiedererkannt hatte, streckte sie ihm schon aus der Entfernung ihre behandschuhte Hand entgegen.

»Svend Byge!« sagte sie freimütig und betrachtete ihn mit ihren grauen Augen, die nicht mehr so dunkel und verborgen lustig waren wie früher.

»Sind Sie's wirklich?« sagte sie und drückte ihm die Hand, als ob nie etwas zwischen ihnen passiert sei.

Er überwand seine Verlegenheit schnell.

»Wenn der Kleine da Ihr Junge ist,« sagte er, »dann sind Sie jetzt Frau Christensen.«

»Ja, und Sie? – »Nein, das hätte ich nie gedacht, daß der neue Hotelbesitzer, der meinem Mann soviel Schwierigkeiten bereitet, derselbe Byge ist, den ich einst gekannt habe.«

Ihre Wangen waren etwas blaß und aufgeschwemmt; auf der blanken runden Stirn hatten die Jahre einige Fältchen gezogen. Er sah, daß sie an das dachte, was sie damals getrennt hatte.

Sie lachte etwas verlegen und sagte:

»Es war mein Mann, der nach Ihnen in Frau Jensens Pensionat zog.«

Svend lächelte. Wie weit lag das alles zurück. Christensen war also der Kaufmann aus der Provinz, den Frau Severine Jensen seinerzeit so bewundert hatte.

Während er vergeblich in ihrem wohlgenährten Gesicht jene Agnete suchte, in die er seinerzeit so verliebt gewesen war, sagte sie:

»Und ich glaubte, daß Sie in einem Ministerium angestellt seien! – Nein, dies hätte ich nie für möglich gehalten!«

Sie setzte sich etwas atemlos in den Sand und bereitete sich auf eine recht behagliche Unterhaltung vor.

Sie erzählte offenherzig aus ihrem Leben, und merkte nicht, daß Svend ihr Vertrauen nur sehr spärlich erwiderte.

Sie sagte, daß sie anfange alt zu werden; das Gehen sei ihr beschwerlich und sie könne nichts mehr vertragen.

»Es ist Ihnen zu gut gegangen,« sagte Svend und lächelte.

»Ach Unsinn! – Nein, nein, es ist seit ich den kleinen Stammherrn hier bekommen habe,« sagte sie und zog den Knaben näher zu sich heran. Er war fast ebenso alt wie Henning, aber größer und dicker. Er blickte sehnsüchtig zu Svends Knaben hinüber, die über einen interessanten Fund gebeugt standen.

»Wie sind Ihre Kleinen gesund und geschmeidig!« sagte sie, »es ist ein wahres Vergnügen, ihnen zuzusehen, wie sie mit bloßen Füßen im Wasser patschen. Ich wollte Knud überreden, ihrem Beispiel zu folgen, aber er war nicht dazu zu bewegen.«

Sie seufzte und blickte müde vor sich hin.

»Er ist wohl Ihr Einziger?« sagte Svend, während er darüber nachdachte, wie er diese seltsame Begegnung ausnützen könne.

»Ja, und ich will gern zugeben, daß es meine Schuld ist, daß er so verzärtelt ist. Mein Mann sagt immer, daß ich ihn verziehe. Wissen Sie, es taugt nicht, wenn man in zu jungen Jahren Kinder bekommt; dann hat man selbst darunter zu leiden; aber bekommt man sie, wenn man älter wird, dann haben die Kinder darunter zu leiden. Ich sehe selbst, daß er ein kleines Muttersöhnchen geworden ist.«

Sie seufzte wieder, während sie liebevoll mit ihrer kleinen dicken Hand über des Knaben Nacken strich.

»Sie waren doch damals so modern!« sagte Svend und sah sie fest an, »Sie predigten damals immer, daß man mit den Jungen jung sein solle!«

»Ja damals!« seufzte sie, »mein Mann sagt immer, daß ich mich nicht zur Mutter eigne. Vielleicht hat er recht.

Andererseits aber weiß man auch nicht, ob seine Gesundheit so kräftig ist. Mit Ihren Jungen ist das etwas anderes.«

Svend faßte den Kleinen unters Kinn und sah ihn scharf an.

»Was sollte ihm fehlen? Er ist ja groß und kräftig für sein Alter! – Sie sollten es so machen wie ich, Frau Agnete!«

Es ging ein nervöser Zug über ihr Gesicht, als er sie beim Vornamen nannte.

»Wie meinen Sie das?«

»Schicken Sie ihn in die Volksschule, da wird er wie andere Jungen werden.«

Er sagte es so stark und natürlich, daß sie ihn ansehen und darüber nachdenken mußte, was er eigentlich mit diesen Worten meinte.

»Lebt die Mutter der Knaben?« fragte sie kurz darauf vorsichtig.

Svend erzählte ihr mit wenigen Worten von seiner Ehe und Scheidung.

Es war also doch nicht wahr, was man von ihm erzählte. Und sie überlegte, wie sie diese merkwürdige Begegnung ausnützen könne.

Hier saß sie mit dem Feinde ihres Mannes. Sie wußte besser als irgend jemand, was auf dem Spiel stand, wenn Christensen nicht wieder in den Stadtrat gewählt würde. Er hatte sich an seiner neuen Werft verhoben. Und jetzt, wo die schlechten Zeiten die Bauunternehmungen beeinträchtigten, stand es auch schlecht mit seinem Holzhandel. Er hatte große Kapitalien hineingesteckt. Aber es galt den Schein und die Stellung zu wahren, bis wieder gute Konjunkturen kämen. Jetzt war die große Lieferung für das neue Rathaus da, wenn er die nicht bekam – –

Oh, er hatte eine ganze Stunde lang gerast, als er erfuhr, was gegen ihn geplant wurde. Und sie war es immer, die alles ausbaden mußte; denn sie war die einzige, die seine Angelegenheiten so genau kannte, daß er offen mit ihr zu sprechen wagte.

Hier saß sie nun neben dem, der sich vorgenommen hatte, ihn zu stürzen – und dieser Mann war ihr ehemaliger Geliebter!

Einen Augenblick dachte sie daran, auf den alten Saiten zu spielen, gab es aber gleich auf. Sie hatte seinen Augen angesehen, daß es mit ihrer alten Anziehungskraft vorbei war.

Aber ihm auf den Zahn fühlen, das konnte sie. Zu erfahren versuchen, was die ganze Sache ihm wert war.

»Sagen Sie mal,« begann sie ohne Einleitung und heftete ihre dunklen Augen fest auf ihn, »weshalb verfolgen Sie eigentlich meinen Mann? – Was hat er Ihnen getan?« »Ich verfolge ihn durchaus nicht!«

»Sie wollen ihn doch aus dem Stadtrat ausdrängen und sich an seine Stelle setzen?«

Svend antwortete nicht gleich; er bürstete etwas Sand von ihrem Kleid, um Zeit zur Überlegung zu bekommen.

»Darf ich Ihnen einen Rat geben!« sagte er statt einer Antwort, »einen guten Rat von einem alten Freund.«

Sie nickte.

Er machte ihr ein Zeichen zu, den Knaben fortzuschicken.

»Geh hin, mein Junge, und sieh zu, was Herrn Byges Jungen im Wasser gefunden haben.«

Knud aber trat von einem Fuß auf den anderen und drängte sich nur fester an seine Mutter.

»Geh hin und rufe die Knaben!« sagte Svend und sah den Kleinen fest an.

Er starrte den fremden Herrn mit offenem Mund an. Dann wurde ihm plötzlich klar, daß hier gehorcht werden müßte. Und ohne ein Wort zu sagen ging er beleidigt auf seinen kleinen dicken Beinen davon.

»Da sehen Sie selbst!« sagte sie und seufzte.

»Ja, da sehen Sie!« sagte Svend, »er hat eine etwas feste Behandlung nötig. Das war gerade der Rat, den ich Ihnen geben wollte. Verabschieden Sie Ihr Fräulein und schicken Sie den Knaben in die Volksschule.«

»Zwischen Arbeiterkinder – deren Brotherr er einst werden soll?«

»Ja gerade!«

»Warum soll ich das tun?«

»Das würde die Stellung Ihres Mannes stärken.«

Sie betrachtete ihn mißtrauisch mit ihren braunen Augen.

»Und welchen Vorteil würden Sie davon haben?«

»Läßt Ihr Mann mit sich verhandeln?« fragte er statt einer Antwort.

»Das kommt darauf an.«

»Was ist ihm mehr wert – seine Stellung im Stadtrat oder die Verweigerung eines Abflusses für den Fischereihafen?«

Ach, sie kannte diese Geschichte. Gerade das hatte sie ihrem Mann immer gesagt. Er solle der Forderung der Fischer nachgeben, dann würde er an ihnen eine Stütze haben. Wenn er geahnt hätte, daß er seine Stadtratsstellung aufs Spiel setzen würde, dann hätte er es wahrscheinlich schon längst getan, wie eigenwillig er sonst auch war.

»Ich weiß nicht, ob er nicht willens ist, die Forderung der Fischer zu erfüllen. Hat jemand ihn kürzlich danach gefragt?« fragte sie mit gemachter Treuherzigkeit.

Svend durchschaute sie.

Er hatte nicht gewußt, daß die Stadtratsstellung Christensen so viel wert sei, wie ihr Gesicht verriet.

Hier war etwas zu machen.

»Hören Sie mal, Frau Agnete,« sagte er und nahm ihre Hand, »Sie können mir glauben oder Sie können es bleiben lassen; aber ich möchte Ihnen unserer alten Freundschaft wegen nach bestem Ermessen helfen.«

Sie wollte ihre Hand an sich ziehen. Er aber hielt sie fest.

»Wenn Sie mir versprechen wollen, Ihren Sohn in die Volksschule zu schicken, wie ich es mit meinen Knaben getan habe, so will ich morgen zu Ihrem Mann gehen und ihm anbieten, daß ich mich unter der Bedingung zurückziehen will, daß er für eigene Rechnung einen Abfluß für den Hafen machen lassen will.«

Sie wurde purpurrot; es blitzte in ihren braunen Augen. Dennoch zögerte sie einen Augenblick.

»Aber warum das mit dem Kleinen?«

»Sonst glauben die Leute, daß er in der Hafenangelegenheit nachgibt, weil er seine Stellung als Stadtrat nicht entbehren kann. Wenn er sich aber so schwach zeigt, dann werden sie der Versuchung, ihn zu stürzen, nicht widerstehen können. Schickt er dagegen den Knaben in die Volksschule, was niemand von ihm verlangt hat, so bedeutet das einen Umschlag in seiner Gesinnung; und dann werden die Arbeiter selbst kommen und ihn bitten, zu bleiben.«

»Ist es wirklich – «, sie zögerte, nahm darauf ihren Mut zusammen und beendigte den Satz, indem sie ihn mit einem wehmütigen Lächeln betrachtete, »der Augen wegen, die Sie einst schön fanden?«

Er ließ ihre Hand fallen.

»Nein!« sagte er und erwiderte ihren Blick fest, »aber meine Pläne kann ich Ihnen nicht verraten. Es muß Ihnen genügen, daß ich Ihnen bewiesen habe, daß Ihr Mann keinen Feind in mir hat.«

»Soll ich ihm von unserer Begegnung erzählen?« fragte sie, indem sie sich erhob.

»Ich glaube, es wäre klug, es zu lassen; das mit dem Knaben muß am besten Ihre eigene Idee sein. Haben wir uns verstanden?«

»Ja!« sagte sie und blickte zu ihrem dicken Jungen hinüber, der auf dem Trocknen stand und Henning und Jörgen herbeiwinkte.

Dann reichte sie ihm die Hand und betrachtete ihn wieder mit ihren braunen Augen, während sie an das dachte, was einst zwischen ihnen gewesen war. Svend merkte es und beeilte sich, ihren Gedankengang zu unterbrechen.

»Dann werde ich mir das Vergnügen machen, Ihren Mann morgen zu besuchen!« sagte er geschäftsmäßig.

»Ja, bitte,« sagte sie und ging mit ihm den Knaben entgegen.

Nachdem Henning und Jörgen vorgestellt worden waren und Stiefel und Strümpfe angezogen hatten, kehrten sie alle zusammen zur Stadt zurück.


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