Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Zweiter Band
Laurids Bruun

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4

Morgen auf Morgen saß Svend am Strande und blickte über das Wasser.

Er dachte gar nicht, saß nur und sammelte Frieden in seinem Herzen, wahrend er über den Sund starrte, der unter den ziehenden Wolken unablässig die Farbe wechselte.

Sein unruhiges Gemüt wurde still. Seine Nerven, die so lange unnatürlich angespannt gewesen waren, streckten sich in Frieden und schoben alle Gedanken von sich.

So blieb er sitzen, bis der Hunger sich meldete. Dann wanderte er langsam durch die Straße von Arbeiterwohnungen zu dem Wirtshaus in dem alten, verwilderten Garten.

Wenn er nach Hause kam, begann er sich mit der Arbeit des alten Mannes zu beschäftigen. Dort lag noch ein Haufe langer Pappeläste, glatt von Feuchtigkeit. Die legte er über den Holzblock und sägte drauflos.

Zu Anfang ging es nur langsam, denn die Säge war stumpf, das Holz feucht und seine Hand ungeschickt. Aber es tat doch wohl, mit etwas Handgreiflichem beschäftigt zu sein, etwas, was seine Mühe durch ein sichtbares Resultat lohnte.

Mitten in der Arbeit aber wurde er plötzlich von der alten Unruhe ergriffen.

Was stand er hier und vergeudete die Zeit? Jede Stunde war ja kostbar.

Er richtete sich auf, warf die Säge von sich und ging ruhelos auf und ab.

Aber wohin er auch blickte, überall waren die Auswege versperrt.

Der ruhelosen Gedanken müde, ergriff er wieder die Säge und arbeitete, bis er nicht mehr konnte. Dann maß er den Haufen zu seinen Füßen, sah mit Vergnügen, wie er gewachsen war, und fand dennoch, daß er etwas aus seiner Zeit herausgeschlagen habe.

Er beneidete diejenigen, die von ihrer Hände Arbeit leben konnten; hier machten seine Gedanken plötzlich halt und tasteten nach etwas, das tief in ihm dämmerte.

Er hatte ein Gefühl, als sei er von seinem Geschlecht oder von seiner Vergangenheit oder von dem, was er gelernt und studiert hatte, an Händen und Füßen gefesselt. Als sei all sein Wissen nur ein leeres Beschauen von Menschen und Arbeit, die der Vergangenheit angehörten – als sei es sein akademisches Wissen, das ihn daran hindere, sich mit dem Leben zu versöhnen und seine Zukunftsarbeit zu verrichten.

Wie sehr er aber auch grübelte und tastete, er kam zu keiner Klarheit und gab es schließlich auf.

Außerdem plagte ihn der Gedanke an die Erbschaft. Selbst wenn er müde und schlaff dasaß und leer vor sich hinstarrte, lag er wie ein Hund vor seiner Tür und paßte auf, daß keine anderen Gedanken sich hereinschlichen. Es war das Unwiederbringliche, über das er brütete.

Nach und nach aber, je mehr er sich durch die Äste des Haufens hindurchsägte und sich über den Erfolg der bescheidenen Arbeit seiner Hände freute, desto kräftiger schoß in seinem Gemüt das demütige Verlangen empor, sich in sein Schicksal zu ergeben und die Folgen ohne Trotz wie ein Mann auf sich zu nehmen.

Wenn er nur wüßte, wo er angreifen sollte.

In den ersten Tagen des neuen Jahres würde die Schuld, die er bei Doktor Fratz hatte, fällig, und er ahnte nicht, womit er sie decken sollte.

Gleich darauf mußte der Monatswechsel bei dem Wucherer erneuert werden, und er wußte nicht, wo er die dreißig Kronen hernehmen sollte.

Wieder griff das schmerzende Schamgefühl ihm ans Herz.

Und der Restaurateur – und Frau Henrichsen, die arme Alte, die ihm von ihren Sparpfennigen geliehen hatte, obgleich er ihr noch die Miete schuldete. Das war das schlimmste!

Ja, er wollte sich beugen, die Demütigung, die er verdient hatte, auf sich nehmen.

Fachausbildung – Examen – alles das konnte ihm jetzt wenig nützen. Sein Streit mit der Regierung konnte ihm vielleicht zu einer Stellung an einer Zeitung verhelfen, nicht zu einem juridischen Amt.

Es war Arbeit um jeden Preis, die seiner wartete.

Wenn die Dämmerung kam, wurde er dennoch von Bitterkeit überwältigt. Das Bewußtsein seines wirklichen Wertes empörte sich gegen die Demütigung und verlangte danach, respektiert zu werden.

Dann wanderte er stundenlang in dem kleinen Zimmer auf und ab, mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen, während sich Tränen aus seinen Augen drängten.

Er fluchte seinem Schicksal, der Konferenzrätin, Kammerherrn Tithoff – allem dem, was ihn niedergehalten hatte und tief unter das Niveau zwang, wozu seine Fähigkeiten und sein Wille ihn berechtigten.

Wenn er aber nach einem schweren Schlaf in der starken Nachtluft zu dem hereinsickernden Tageslicht erwachte, dann war wieder Ruhe in seinem Gemüt.

Während er sich ankleidete und ins Wirtshaus ging, um zu frühstücken, gelobte er sich selbst, daß er jetzt – heute – den Sprung tun wollte. Er wollte zur Stadt gehen, in die er seit jenem Abend keinen Fuß gesetzt hatte, wollte von Zeitung zu Zeitung, von Schule zu Schule gehen.

Nur zwei Tage trennten ihn noch von dem neuen Jahrhundert, das ihm so große Dinge verheißen hatte.

Als Svend vom Strande zurückkam, lag ein Brief von Frau Henrichsen für ihn da. Er erkannte gleich ihre spitze, altmodische Schrift und öffnete das Kuwert mit einem Seufzer.

Es war, was er erwartet hatte. Sie bat so flehentlich und dennoch so eindringlich, daß er ihr das Geld schicken möge. Sie könne nicht länger warten.

Svend wußte, daß es wahr war.

Er blieb mit dem Brief in der Hand sitzen und starrte vor sich hin.

Gab es nicht einen einzigen, zu dem er gehen und um Hilfe bitten konnte?

Da fielen ihm Didrichsens Worte ein: »Wenn es Ihnen mal schlecht ergeht, dann kommen Sie zu mir. Das müssen Sie mir versprechen!«

Er nickte still vor sich hin. Ja, er wollte zu Didrichsen gehen.

Er machte sich gleich für seinen Gang zur Stadt zurecht; als er sich aber gewaschen hatte und im Begriff war, seinen Mantel anzuziehen, setzte er sich statt dessen auf die Bettkante und vergrub den Kopf in die Hände.

Er konnte, konnte nicht ins Kontor gehen, Assessor Hansens Blick begegnen, der bei der Abfassung des ersten Testaments zugegen gewesen war. Er konnte in seiner armseligen Demut nicht alles das wiedersehen, was ihm so gering erschienen, als er noch reich war und die Welt stürmen wollte.

Schließlich entschloß er sich zu warten, bis es Abend würde. Dann wollte er Didrichsen in seinem Hause aufsuchen.


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