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Svend wartete und wartete; aber es kam keine Antwort.
Die Köchin, die nicht mit in Kruses Wohnung übergesiedelt war, fragte mehrere Male nach der gnädigen Frau. Als sie keine Antwort bekam, verhandelte sie den Fall mit allen Dienstboten des Hauses.
Svend lebte in einem Zustand beständiger Erregung. Und nicht nur die Entdeckung von der Unehrlichkeit seines Schwiegervaters, auch Ellens Geständnis von ihren Beziehungen zum Prinzen brannten in seiner Seele.
Was sollte er glauben? – Was war geschehen?
Auch die Worte von seiner Erbschaft, die ihr entschlüpft waren, kehrten beständig zurück.
Und wie war es doch noch – hatte nicht auch Juhl gleich am ersten Tage gefragt, ob er den General kenne? – Und Didrichsens Assessor, der bei dem Nachlaßgericht der kleinen Stadt, in der Onkel Kasper starb, angestellt gewesen war, hatte er ihn nicht naseweis nach dem Konferenzrat ausgefragt und bemerkt, daß keine Leibeserben da seien?
War es möglich, daß auch Ellens Vater etwas gewußt oder geahnt hatte? – Svend hatte sich eigentlich häufig gewundert, daß er damals in Paris so schnell seine Einwilligung gegeben hatte.
Er versuchte diese Gedanken zu verjagen, um mit der unglückseligen, neuen Realität fertig zu werden. Er kämpfte alle Stunden des Tages, um den Kopf klar zu behalten. Bei den Mahlzeiten, in jeder Arbeitspause stürzten alle Worte, die in jener Nacht zwischen ihm und Ellen gewechselt waren, auf ihn ein, so daß sein Gesicht sich vor Schmerz verzog.
Wenn er nachts in seinem Bette lag, krümmte er sich bei dein Zwiespalt in seinem Sinn. Dann sehnte er sich heiß und verzweifelt nach Ellen und gelobte sich, daß er die bittere Gewißheit, die die schicksalsschweren Briefe ihm aufgedeckt hatten, aus seinem Herzen reißen, den ganzen Haufen verbrennen, alles vergessen und zu Ellen und seinen Knaben zurückkehren wolle. Wenn aber der Morgen mit seinem kühlen, nüchternen Erwachen kam, dann stand die Gewißheit wie eine unübersteigbare Mauer vor ihm, und der Gedanke, Mitschuldiger an dem erschwindelten Vermögen zu werden, brannte ihn wie eine Schande.
Er saß am Fenster und paßte auf, ob der Postbote an seiner Tür vorbeigehen würde. Wenn er ihn dann ins Haus gehen sah, lauschte er klopfenden Herzens auf die Glocke. Er wartete atemlos und versuchte von dem Gesicht der Köchin abzulesen, wenn sie mit einem Brief herein kam, ob es Ellens Handschrift sei. Ellen aber sandte noch immer keine Antwort.
Es tat weh. Er mußte sich aufs äußerste zusammennehmen, um sich aufrecht zu halten. Und es glückte ihm. Der alte Bauernstarrsinn der Byge kam ihm zu Hilfe. Er schluckte den Schmerz hinunter und stürzte sich mit fanatischem Eifer in seine Arbeit.
Er hatte nichts von seiner Lage verraten, weder bei Didrichsen noch im Ministerium. Dennoch merkte man an beiden Stellen, daß etwas nicht in Ordnung sei. Juhl betrachtete mit verstohlener Neugierde seine fest aufeinander gepreßten Lippen und machte ein paarmal den Versuch, sein Schweigen zu brechen.
Svend sah ein, daß es notwendig wurde, die Ordnung des Nachlasses abzugeben.
»Ich möchte gern mit Ihnen sprechen!« sagte er eines Tages zu Didrichsen, als er ihm auf der Treppe begegnete.
Didrichsen führte ihn in sein Privatkontor und bat ihn Platz zu nehmen.
»Nun, mein lieber Byge, wie geht es mit dem Nachlaß?«
»Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen, Herr Justizrat!« sagte Svend und preßte seine Hände nervös zusammen. »Ich möchte Sie bitten, mir diese Sache wieder abzunehmen.«
Didrichsen sah auf. Seine grauen Augen umfaßten Svends ganze Person mit ihrem ruhig forschenden Blick.
Er hatte eine Frage auf den Lippen; Svend aber sah im selben Augenblick mit einem so heftig abwehrenden Blick auf, daß er nur formell sagte, indem er sich erhob:
»Wie Sie wollen, Herr Byge!«
Svend beugte schweigend den Kopf und ging hinaus.
Einige Tage darauf rief Didrichsen ihn zu sich herein.
Er ging einige Male im Zimmer hin und her, bevor er sagte:
»Ich habe mit Ihrer Frau gesprochen. Sie hat gestern nach mir geschickt.«
Svends Herz hämmerte in der Pause, die Didrichsen machte, wahrend sein Blick auf Svends unruhigen Augen weilte.
»Sie hat mir alles erzählt.«
Svend fühlte, wie er im Namen der Familie schamrot wurde. »Ich war gestern abend bei Ihrer Frau –« fuhr Didrichsen fort und nahm Svend gegenüber auf dem Sofa Platz, ohne einen Blick von ihm zu verwenden.
Svend erwiderte seinen Blick fest, wagte aber nicht zu fragen. Brachte er ihm die lang ersehnte Antwort von Ellen? Didrichsen bürstete sorgfältig ein Stäubchen von seinem Anzug, bevor er fortfuhr:
»Wenn ich sie richtig verstanden habe, liegt ein kleiner ehelicher Zwist vor« – er blickte auf und lächelte – »wegen der Übernahme des Erbes von Ihrem Schwiegervater. Frau Ellen sagte mir, daß Sie sich bestimmt geweigert hätten, die Erbschaft anzutreten, auf Grund gewisser Unregelmäßigkeiten, die Sie in Kruses hinterlassenen Briefen und Kontobüchern gefunden zu haben meinen.«
»Haben Sie die Briefe durchgelesen?« unterbrach Svend ihn.
»Bewahre. Dazu fühle ich mich durchaus nicht berechtigt!« beeilte sich Didrichsen zu erwidern.
Svend wollte etwas sagen, der Justizrat aber faßte ihn am Arm und sagte in einem eindringlich väterlichen Ton:
»Hören Sie mal, mein lieber Byge, darf ich Ihnen eine ganz unumwundene und menschliche Frage stellen und darf ich hoffen, daß Sie sie mir ebenso beantworten werden?«
Svend beugte bejahend den Kopf und blickte auf die Erde.
»Gesetzt den Fall, daß der Verdacht, den Sie gegen Ihren Schwiegervater nähren, berechtigt ist, würden Sie es dann als wahrscheinlich ansehen, daß die verdächtigen – die von Ihnen verdächtigten Briefe, in seinem Archiv zu finden gewesen wären, wenn er von seinem nahen Ende gewußt hätte? Nicht wahr, wenn die Krankheit nicht sein Gehirn gelähmt und jede Verfügung unmöglich gemacht hätte, dann wären diese Briefe vernichtet gewesen und Sie wären mit Recht und Ehre ein reicher Mann gewesen. Finden Sie nun nicht selbst, daß es sinnlos ist, solch einen Zufall für Ihre und Ihrer Familie Zukunft bestimmend sein zu lassen?«
»Ein Zufall? – Ja, die meisten Verbrechen werden wohl durch einen Zufall entdeckt. Es kann doch unmöglich Ihre Meinung sein, daß man sich über eine Mitwisserschaft hinwegsetzen, ja, geradezu Vorteil durch das Verbrechen genießen soll, weil ein Zufall es einem offenbart hat?«
Didrichsen erhob sich.
»Sie sind noch sehr jung, mein Freund!« sagte er, während ein Schimmer von Müdigkeit in seine grauen Augen kam. »Die wenigsten Korrespondenzen berühmter Männer können es vertragen, von einem so jugendlichen und naiven Idealismus wie dem Ihren beleuchtet zu werden. Wenn junge Leute wie Sie ans Ruder kämen, würden sie alle Tage Unheil anrichten. Ich bereue es bitter, daß ich diese Möglichkeit nicht vorausgesehen habe. Ich hätte Sie besser kennen müssen.«
»Und Sie – was hätten Sie an meiner Stelle getan?«
»Das will ich Ihnen sagen. Ich hatte jede Spur des Ver – des von Ihnen angenommenen Verbrechens vernichtet.«
»Das hätten Sie getan, Herr Justizrat,« Svend sah ihm mit flammendem Blick in die Augen, »und vor einem Augenblick erklärten Sie, daß Sie sich nicht einmal berechtigt fühlten, diese Briefe zu lesen.«
Didrichsen erwiderte seinen Blick mit demselben müden Ausdruck in den Augen wie vorhin.
»Das geschah unter ganz anderen Voraussetzungen!« Dann legte sich ein wehmütiges Lächeln um seinen Bart. »Nun meinen Sie,« sagte er und faßte Svend am Rockaufschlage, »daß auch ich eine unehrenhafte Person bin – nicht viel besser als Ihr Schwiegervater.«
Svend schüttelte den Kopf und blickte zu Boden.
»Doch, doch! – Aber Sie irren, mein Freund. Sie sind nur so jung, daß Sie noch nicht gelernt haben, daß ein ehrenwerter Mann weder das Recht noch die Pflicht hat, Unheil anzustiften. Im umgekehrten Fall müßte die menschliche Gesellschaft ja sonst die Unehrenhaften vorziehen. – Gehen Sie nun nach Hause und vergessen Sie diese Briefe, die ein unglückseliges Geschick und meine Gedankenlosigkeit Ihnen in die Hand gespielt haben. Versöhnen Sie sich mit Ihrer Frau und bleiben Sie auf dem Wege, den Sie eingeschlagen hatten. Sie persönlich haben ja das beste Gewissen von der Welt.«
Svend stand eine Weile und überlegte mit gesenktem Kopf. Dann blickte er verzweifelt auf und sagte:
»Ich kann doch nicht von diesem Geld leben, nachdem ich alles erfahren habe –«
Didrichsen sah ihn fest an.
»Haben Sie ein Recht, sich in das Geheimnis eines Toten – Ihres Schwiegervaters, Ihres Wohltäters, einzudrängen?«
Svend antwortete nicht. Didrichsen beeilte sich, die Wirkung seiner Worte auszunutzen.
»Ich habe jetzt keine Zeit mehr,« sagte er und sah nach der Uhr, »überlegen Sie sich meine Worte, Herr Byge! Ich verlasse mich darauf, daß Sie als ein Mann von Ehre und als ein vernünftiger Familienvater handeln werden.«
Svend stand mit krampfhaft verschlungenen Händen da und versuchte sich selbst zu überwinden. Plötzlich aber wurde ihm klar, was man von ihm verlangte: er sollte die Voraussetzungen für seine Persönlichkeit verleugnen, seine ganze Vergangenheit abstreifen, das Leben an Ellens Seite mit einem nagenden Gewissen fortsetzen, sich frank und frei in seiner Tätigkeit bewegen, mit dem Bewußtsein, einem Verbrechen sein Ansehen, einer Hehlerei seinen Wohlstand zu verdanken.
»Nein!«
Er stieß es so heftig hervor, daß der Justizrat unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.
»Nein, nein, und nochmals nein! – Sagen Sie meiner Frau, daß ich es nicht kann. Ich bin damit einverstanden, daß wir das Geschehene vor der Welt verbergen. Wohltätigkeit, Legate, was sie will. Es mag so gehandhabt werden, daß es wie eine letzte Bestimmung des Verstorbenen aussieht. Das Geld aber rühre ich nicht an. Und will sie mir hierin nicht folgen, so müssen unsere Wege sich trennen. Er war totenbleich und große Schweißperlen rannen ihm über die Schläfen.
Didrichsen betrachtete ihn mit einer Mischung von tiefem Mitleid und erstauntem Unwillen.
»Scheidung?« fragte er.
»Wenn notwendig, ja!«
Svend wandte sich hastig ab, um seine Bewegung zu verbergen. Nur einen Augenblick, dann hatte er seine Fassung wiedergewonnen.
»Und Ihre Kinder? – Sie wissen doch, daß Sie auf deren Erbanteil nicht verzichten können.«
Svend sah entsetzt auf. Das hatte er in seiner Aufregung vergessen.
Seine Knaben – Henning und Jörgen – die beiden kleinen Blondköpfe.
Tränen schossen ihm in die Augen. Diesmal übermannte die Rührung ihn.
Didrichsen legte ihm die Hand auf die Schulter. Sein Mitgefühl aber hatte eine entgegengesetzte Wirkung wie die beabsichtigte.
Svend entzog sich ihm. Während er die Sache noch einmal aus tiefster Seele prüfte und wog, sollte keine fremde Hand ihn stören.
»Ellen muß nachgeben!« sagte er schließlich und sah Didrichsen bittend an.
Der Justizrat ließ sich aber von diesem Appell nicht rühren. Dieser junge Brausekopf sollte alles auf einmal zu fühlen bekommen.
»Sie wissen doch, daß ihr im Fall einer Scheidung die Kinder zugesprochen werden.« Ja, er wußte es. Jetzt wußte er es.
»Sie muß nachgeben!« rief er. »Sie soll. Sie ist zu rechtschaffen, um –«
Didrichsen betrachtete ihn von der Seite mit seinem ruhigen, grauen Blick, wahrend er seine Taschenuhr hervorzog.
»Soll?« fragte er – »Können Sie sie zwingen? – Bedenken Sie, Sie haben ja keine Beweise für die Schuld ihres Vaters. Die Beweise sind in meiner Verwahrung. Das ganze Archiv des Departementschefs liegt dort.«
Er zeigte auf einen Haufen, der im Halbdunkel hinter dem großen Geldschrank aufgestapelt lag.
Svend sah ihn jetzt erst. Er erkannte die vergilbten Pakete, die er in jener Nacht vor sich gehabt hatte.
Didrichsen sah auf seine Uhr.
»Jetzt müssen Sie gehen!« sagte er; und als Svend mit gesenktem Kopf zögerte, als erwarte er noch ein Wort, fügte er hinzu:
»Ich werde Ihrer Frau unser Gespräch mitteilen. Was meine eigene Auffassung betrifft, so möchte ich Ihnen nur sagen, daß ich Ihnen meine Achtung nicht vorenthalten will, aber ich bedaure Sie tief und fürchte ernsthaft für Ihre Zukunft!«
Svend hob seinen Kopf und heftete seinen hellen, halsstarrigen Blick auf die grauen Augen des Justizrates.
»Eine so schlechte Meinung habe ich nicht von der Welt!«
Er verließ das Zimmer, während Didrichsen ihm nachblickte und sich kopfschüttelnd an seinen Schreibtisch setzte.