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XXX.
Ein demontiertes Ideal.

Horace' Abreise nach Albany zu Beginn des neuen Jahres bedeutete für Gertrude und Hawk eine große Erleichterung. Letzterer, der in der Gegenwart eines Feindes einen Vorwand für sein mehr als exzentrisches Verhalten gefunden hatte, hätte die Gefühle jeder anderen Frau mit weniger heroischer Ergebenheit als Gertrude ermüdet. Als Gegenleistung hatte sie ihn allerdings ebenfalls ermüdet, und zwar dadurch, dass sie ihn als Modell zu jener Büste sitzen ließ, die sie freilich nie zu ihrer Zufriedenheit fertig bekam. Erst war es die Nase, die nicht stimmte, dann der Mund oder die Ohren, die immer aussahen, als gehörten sie gar nicht zum Kopf, sondern seien nachträglich wie Anhängsel aufgesetzt worden; die Hauptschwierigkeit stellten indes die Augen dar, die nicht geradeaus schauen wollten und außerdem von unzähligen Geschwulsten umgeben waren, die auf Gerstenkörner und Beulen hindeuteten. Wenn das Original abends einen d'rauf gemacht hatte und in mitgenommenem Zustand nach Hause kam, mochte er vielleicht so aussehen, wie die ungeschickten Hände seiner fiancée ihn dargestellt hatten.

Gertrude empfand es als große Blamage, als sie dieses langgehegte Werk aufgeben musste, das sie mit so viel Begeisterung angefangen hatte. Sie konnte es nicht über sich bringen, es durch einen wohlgezielten Stich oder Hieb zu zerstören; denn es besaß doch zu viel Ähnlichkeit mit dem Doktor, was sie davor zurückschrecken ließ, ihm etwas anzutun. Aber sie sperrte es weg in einen Schrank, wo es allmählich barst und in Stücke zerfiel.

Kaum hatte sich Gertrudes Gemüt von diesem Unheil frei gemacht, als es zu einem Vorfall kam, der ihr bedeutend ernsteren Anlass zur Beunruhigung gab. Sie erhielt einen langen Brief von ihrer Mutter, ohne Datum, aber mit dem Stempel von New York. Es war ein ausgesprochen Besorgnis erregender Brief, voll von Beschwerden und Anschuldigungen gegen Mr. Larkin und von Beschwörungen an Gertrude, sofort zu ihr zu kommen, da sie ihr einziges Kind noch einmal sehen wolle, bevor sie sterbe. Sie gab eine mitleiderregende Beschreibung ihrer Lage: kalt und hungernd lebe sie in einer schmutzigen Mietskaserne, in die der Schnee durch die zerbrochenen Fensterscheiben hereinblase, und Ratten fielen über die Räume und sogar die Betten her und machten es gefährlich, überhaupt schlafen zu gehen. Sie bat Gertrude flehentlich, mit ihrem Kommen nicht zu warten, weil sie ihr ein wichtiges Geheimnis anzuvertrauen habe, das sie einfach keinem anderen mitteilen könne. Das verschmutzte Papier wies Tränenspuren auf, und die große, krakelige Handschrift schwankte um die schrägen Linien mit trunkener Unbeständigkeit. Auch der Stil wirkte abschweifend und zusammenhanglos; aber hier und da traten Wendungen auf, die ein eigenartiges Pathos in sich trugen und echtes Elend auszudrücken schienen.

Das Lesen dieses Briefes versetzte Gertrude in große Aufregung. Dass es ihre Mutter war, die sich auf diese Weise an sie wandte, versah jedes Wort mit seltsamer Dringlichkeit und bewegender Macht. Sie drang nicht zu der kühlen Einsicht durch, dass ihre Mutter ja Sklavin einer erniedrigenden Gewohnheit und also absolut nicht nicht vertrauenswürdig war. ›Opiumsucht‹ stellt für Gertrude bloß ein Wort von verschwommener, ominöser Bedeutung dar; sie wusste aber nichts von ihrer ruinösen Wirkung auf Körper und Geist. Es handelte sich um ihre verarmte, sterbende Mutter, die sie in ihrer Not anrief – wie konnte sie sich weigern, sie zu erhören? Auch zwickte sie ihr Reuegefühl, wenn sie an die Kälte ihres Auftretens bei ihrem ersten Treffen dachte, wie ungläubig sie gewesen war und wie unbehaglich sie sich gefühlt hatte.

Sie hatte bereits vollständig entschieden, was sie tun würde, als sie zu ihrem Vater ging und ihn bat, sich den Brief von ihr vorlesen zu lassen. Er saß an seinem Schreibtisch in der Bibliothek und schaute einige Berichte durch, die Horace ihm zur Kenntnisnahme unterbreitet hatte.

»Von wem, sagtest du, kommt dieser Brief?« fragte er sie mit gedankenverlorenem Blick über den Rand seiner Brille.

»Von meiner Mutter,« beharrte sie ängstlich; »von meiner Mutter in New York.«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schob sich die Brille auf die Stirn und starrte sie mit bekümmerten Augen an.

»Ich dachte, Kind, du hättest mir versprochen, mit dieser Frau nichts zu tun haben zu wollen,« hielt er ihr ruhig vor.

»Das hab' ich getan, Vater. Aber du willst bestimmt nicht, dass ich sie im Stich lasse, wenn sie in Not ist und im Sterben liegt.«

»Du meinst ›lügt‹ Das reimende Wortspiel » dying« – » lying« des Originals ist leider im Deutschen nicht vollständig nachzuahmen.,« schlug er ernst vor.

»Wie kannst du so ungerecht sein, Vater? Wenn Du den Brief nur lesen wolltest, dann wärst du sofort überzeugt, dass es stimmt, Wort für Wort.«

»Nein, wär' ich nicht. Ich würde ihn nicht einmal mit einer zehn Meter langen Stange berühren.«

»Ich hatte keine Ahnung, dass du so voreingenommen sein könntest.«

Er ließ die Brille (sie hatte eine stabile altmodische Silberfassung) wieder auf seine Nase rutschen und wandte sich mit geistig abwesender Miene seinen Unterlagen zu. Sie empfing mit einem Mal den Eindruck, den sie schon einmal zuvor gehabt hatte, dass ihn – trotz seines Reichtums, trotz seiner Selbstgenügsamkeit und seiner gebieterischen Stellung – etwas Einsames und Bemitleidenswertes umgab. Gleichwohl konnte sie nicht anders, als ihm seine zurückweisende Haltung zu verübeln, wie er da seine Beschäftigung fortsetzte und dabei ihre Anwesenheit zu ignorieren schien.

»Willst du mir nicht zuhören, Vater?« fragte sie hilflos.

Er schaut wieder auf, legte seinen Stift sorgfältig beiseite und kippte seinen Stuhl zurück.

»Ich möchte, dass du diesen Brief ins Feuer wirfst,« sagte er, »und von nun an deine Versprechen besser einhältst.«

»Ich finde es sehr grausam von dir, dass du mir nicht zuhören willst.«

»Das spielt überhaupt keine Rolle. Du tust einfach, was ich dir sage.«

»Aber, Vater, würdest du mir bitte Geld geben, damit ich nach New York gehen und nach ihr sehen kann?« flehte Gertrude den Tränen nah. »Ich werde bald wieder zurück sein, und keiner muss es wissen.«

»Wenn du gehst,« sagte er heiser, räusperte sich aber, um seine Stimme wiederzuerlangen – »wenn du gehst, wirst du nicht mehr zurückkehren.«

»Oh doch, das werde ich,« stieß sie beschwichtigend hervor; »ich würde nur ein paar Tage fort sein.«

»Nein, wirst du nicht,« entgegnete er in missmutiger Entschiedenheit; »wenn du gehst, um diese Frau zu treffen, will ich dein Gesicht hier nicht wieder sehen.«

Es dämmerte ihr nun, dass er sie hinauswerfen – ihr die Rückkehr verbieten wollte.

»Aber sie stirbt, Vater,« wiederholte sie flehend.

»Tja, das wäre das Nützlichste, das sie tun könnte,« erwiderte er, »is' nich' das erste Mal, dass sie's getan hat.«

»Nicht das erste Mal, dass sie gestorben ist?«

»Nein, is' 'n alter Trick von ihr.«

»Aber es gibt Ratten in ihrem Zimmer, Vater.«

»Das überrascht mich nicht. Aber das reicht jetzt, Kind, ich will nichts mehr davon hören. Und ich hätte nicht gedacht, dass du dein Wort brechen würdest.«

»Dann willst du mich also nicht gehen lassen?«

Mr. Larkin erhob sich mit schwerfälliger Bedächtigkeit und ging dorthin, wo seine Tochter saß. Sie erinnerte sich noch viele Jahre danach an den schmerzlichen Ausdruck um seinen entschlossenen Mund, als er zu ihr kam, und auch an das laute Knarren seiner Stiefel.

»Wirf diesen Brief ins Feuer,« befahl er barsch.

Es war aber sein eigener Geist, der in ihr aufloderte, als sie in Reaktion auf seinen Ton antwortete:

»Das werd' ich nicht.«

»Wirst du diesen Brief ins Feuer werfen oder nicht?«

»Das werde ich nicht tun.«

Sie standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, sie mit großen erregten Augen, bebenden Lippen und erweiterten Nüstern – das Bild edler jugendlicher Entrüstung; er gelassen und resolut, die harten Linien um seinen Mund etwas angespannt und mit fest geschlossenen Lippen.

»Du weißt, Kind, dass du dich selbst von Heim und Herd ausschließt?« fragte er mit ernster Bedächtigkeit.

»Ja, das weiß ich; aber ich würde wegen niemandem gemein und feige handeln.«

Tränen erstickten ihre Stimme, und die Augen flossen ihr langsam über.

»Ich will dich nicht beim Wort nehmen, ich möchte, dass du gehst und darüber nachdenkst. Aber vergiss nicht: wenn du mir das Wort brichst – wenn du dich für sie entscheidest anstatt für mich – dann kannst du nicht wieder zurück kommen und sagen, du hast einen Fehler gemacht. Du musst dann bei deiner Entscheidung bleiben und die Folgen tragen.«

Er sprach rauh und ohne erkennbares Gefühl; weder seine Stimme noch seine Ausdrucksweise gingen über die schlichteste Prosa hinaus; aber die Anstrengung, mit der er seine Worte hervor stieß, bewies, wie schwer es ihm fiel, sie zu äußern. Er wartete nicht die Wirkung seiner Warnung ab, sondern wandte Gertrude seinen Rücken zu und verließ den Raum. Er wusste, wie leicht Mädchen die Selbstbeherrschung verloren, wenn man ihnen widersprach, und er hoffte, dass der gesunde Menschenverstand in seiner Tochter sich wieder einstellen werde, wenn, unbeeinflusst von ihrer Kampfeslust, nur noch ihre Vernunft zu Worte kam.

Aber unglücklicher Weise gab es einen Faktor in Gertrudes Charakter, den er nicht in Erwägung zog, nämlich ihre Verachtung für schäbige Besonnenheit und eine romantische Sehnsucht, sich aus der stumpfsinnigen Wirklichkeit durch einen großartigen Akt von Hingabe und Selbstaufopferung heraus zu reißen. Ihr Herz empfand jugendliche Sympathie für Auflehnung, und ganz abgesehen von persönlichen Bedenken schien es ihr eine feine Sache, der väterlichen Autorität im Interesse eines benachteiligten und geknechteten Geschöpfes zu trotzen, das außerdem durch die heiligsten Bande des Blutes mit ihr verbunden war. Die zahllosen Romane, die sie gelesen hatte, sprachen in diesem Punkt mit einer Stimme, dass nämlich die große menschliche Herde (und Väter insbesondere) von den gemeinsten Motiven beeinflusst seien und es nur einige wenige Helden gebe, die über die Stärke und charakterliche Höhe verfügten, sich von diesem ärgerlichen Joch des Mammons zu emanzipieren. Sie wollte beweisen, dass sie selbst eines dieser seltenen heroischen Wesen war; und dies war ihre großartige Gelegenheit, die nie wiederkehren würde, wenn sie sie verstreichen ließ.

Da war es jetzt wunderbar, eine verwandte Seele zu haben, die ihre Gedankengänge verstehen und wertschätzen und sie in ihrer erhabenen Entschlossenheit unterstützen würde. Sie konnte den Abend nicht erwarten, wenn Hawk wie gewöhnlich vorbei kommen würde, sondern eilte aus dem Zimmer, zog sich Hut und Jacke an und ging rasch die Straße hinauf zu seiner Praxis. Unsichtbare Flügel trugen ihre Füße; sie wurde fort getragen von einer starken, treibenden Kraft, die von ihrem eigenen Wollen unabhängig war.

Sie hielt, um Atem zu holen, an dem Tor ein, die zu dem weiß gestrichenen Holzhaus führte, wo der Doktor sein Domizil aufgeschlagen hatte. Es lag in einer ruhigen Seitenstraße und besaß einen kleinen Vorgarten, der von schwärzlichen Stockrosen- und Sonnenblumenstielen eingefasst wurde. Auf der Tür befand sich ein sauber poliertes Messingschild mit der Aufschrift: »Archibald Hawk, Dr. med.« Eine Atmosphäre von Ruhe und Abgeschlossenheit umgab den Ort, und sie wurde verstärkt durch grüne Papierrouleaus, welche die Fenster und Streiflichter bedeckten und diesen ein eigentümlich feierliches, unempfängliches Starren verlieh.

Gertrude zog den kleinen gläsernen Glockengriff und vernahm drinnen ein gellendes Klingeln. Ein hübsches Dienstmädchen mit rosigen Wangen öffnete die Tür und bat sie, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Nach zehn Minuten, die Gertrude wie eine kleine Ewigkeit erschienen, trat der Doktor in Erscheinung und geleitete sie mit einem traurigen, etwas erzwungenen Willkommenslächeln in seine private Bibliothek.

Das erste, was ihr zu Gesicht kam, war ein Skelett, dessen fleischloser Schädel mit einem großen Seidenhut geschmückt war und zwischen seinen Zähnen eine halb gerauchte Zigarre stecken hatte. Der Hartholzfußboden war mit üppigen orientalischen Teppichen belegt. Die Wände zierten Radierungen und Stiche, alle von guter, einige sogar von bemerkenswerter Qualität, angeordnet zwar in wildem Chaos, aber mit ausgezeichneter künstlerischer Wirkung. Eine wollüstig orientalische Phantasie war in allen spürbar. Man sah schöne Frauen, die aus dem Bad stiegen oder am Rand von Marmorbecken vor dem Eintauchen schauderten; man sah allegorische Damen mit prächtigen Busen und Schultern, welche die Maler als Vorwand für ihre Nacktheit mit Titeln wie »Wahrheit«, »Unschuld«, »Barmherzigkeit« usw. versehen hatten. Aber diese waren nur zum Ergötzen ihrer Besitzer und dem geschätzter Freunde bestimmt, denen man zutrauen konnte, dass sie bei ihnen keinen Anstoß erregten. Und weil diese in Torryville nicht sehr zahlreich waren, wurden die Busen gewöhnlich unter einem lohfarbenen Seidenvorhang verborgen, der durch das Ziehen einer Kordel wie von Zauberhand auseinander ging.

»Nun, dolcinella,« rief der Doktor, mit forcierter Heiterkeit seine Hamletlocke aus der Stirn werfend, »welchem glücklichen Umstand verdanke ich die Ehre deines Besuchs?«

»Es ist kein glücklicher, sondern ein unglücklicher Umstand,« entgegnete Gertrude. »Ich brauche deinen Rat, und ich habe niemanden, zu dem ich sonst gehen kann, außer dir.«

» Poverina! Sie waren zu Hause gemein zu dir, stimmt's?«

»Nein, es ist etwas viel Ernsteres. Es ist etwas – das – das mein Leben vollständig ändern könnte.«

» Poveretta!« seufzete der Doktor.

Er hatte am Morgen zur Übung in Manzonis » I Promessi Sposi« Alessandro Francesco Tommaso Manzoni (1785-1873), italienischer Dichter und Schriftsteller. Sein berühmtestes Werk, der 1827 erschienene Roman » I Promessi Sposi« (deutsch »Die Brautleute«, auch »Die Verlobten«), gehört zur Weltliteratur. gelesen und war noch ergriffen von der Schönheit und dem Reichtum der geliebten italienischen Wörter. Aber Gertrude, die innerlich vor Erregung bebte, empfand diese Versuche, eine fremde Sprache zur Anwendung zu bringen, nur geschmacklos. Es kam ihr so vor, als spiele er nur mit ihr. Er war so von sich und seiner Wirkung eingenommen, dass er den gepeinigten Ton in ihrer Stimme überhörte. Sie fühlte sich zurück gestoßen, und mit der Impulsivität einer hochgespannten Natur erhob sie sich und bewegte sich auf die Tür zu. Als er wahrnahm, dass er sie verletzt hatte, trat er vor, stellte sich mit dem Rücken vor die Tür und sagte:

»Noch nicht, Liebste. Sag mir, was los ist. Was ich auch für dich tun kann, ich werde es mit ganzem Herzen tun.«

Seine Stimme verriet dennoch einen Mangel an Aufrichtigkeit; sie zwang sich indes zu glauben, dass sie vielleicht zu genau hinschaute.

»Ich habe einen Brief von meiner Mutter bekommen,« sagte sie eilig, um ein Abbrechen zu vermeiden; »sie will, dass ich zu ihr komme.«

Hawk streichelte seinen seidigen Bart schaute mit nachdenklichem Stirnrunzeln an die Decke.

»Was meint dein Vater dazu?« fragte er vorsichtig.

»Er sagt, wenn ich gehe, darf ich nicht mehr zurück kommen.«

»Hm! Das sieht schlecht aus. Was beabsichtigst du zu tun?«

»Deshalb bin ich her gekommen, um dich zu fragen. Weißt du, meine Mutter ist krank und stirbt. Sie hat kein Geld; und sie muss in einer heruntergekommenen Mietskaserne wohnen, wo es Ratten gibt und endlos viele schreckliche Dinge.«

Die gänzlich unbewegte Miene, mit der er diesem leidenschaftlichen Vortrag zuhörte, erfüllte sie mit Bestürzung. Sie konnte nicht glauben, dass sie vollständig wach war; irgend etwas war furchtbar falsch. Es war ja nicht möglich, dass er ihr sein Mitgefühl verwehrte. Alecks Worte: »Er wird dich im Stich lassen, wenn du ihn am meisten brauchst«, kamen ihr in den Sinn; und je mehr sie sich bemühte, sich ihrer zu entschlagen, umso hartnäckiger klangen sie ihr in den Ohren.

Sie folgte Hawk mit den Augen, während er umherschlenderte, bisweilen anhaltend, um die Draperie ein bisschen zu ordnen oder schief hängende Bilder gerade zu rücken. Sie stellte fest, wie hübsch er aussah mit seinem dunklen Haar und Bart, mit seiner feinen Nase und seinem prachtvollen olivenfarbigen Teint. Er führte mit sich selbst eine geistige Auseinandersetzung und war nicht willens sich mitzuteilen, bevor er zu einer Schlussfolgerung gekommen war. In diesem Augenblick war sie fast sicher, dass er sich nur von Verstandeserwägungen beeinflussen lasse; sie konnte es sich aber nicht leisten, dass ihr schöner Glaube an ihn zerstört wurde; sie wollte gegen ihr eigenes Urteil überzeugt werden, dass er das war, was sie in ihm zu sehen glaubte. Sie sehnte sich, ja, sie lechzte förmlich danach – wenn auch bereits mit trostlos sinkendem Mut –, dass er sich als edel, mutig und treu erwies.

»Archie,« begann sie in atemloser Ängstlichkeit, »ich weiß, es muss schwierig für dich sein, dich in meine Lage zu versetzen. Ich brauche eigentlich nicht deinen Rat, wenn das für dich unangenehm ist. Ich habe schon entschieden, was ich tun werde. Aber ich habe fast kein Geld; und ich wollte dich bitten, mir fünfzig Dollar zu leihen, um das Elend meiner Mutter zu lindern. Ich werde heute abend nach New York fahren, und wenn – wenn – ich nicht wieder zurück komme – werde ich dir schreiben und dich wissen lassen, wo du mich finden kannst.«

Er stand Auge in Auge dem Skelett gegenüber, während sprach, und starrte in die leeren Höhlen, die einst die Augen enthalten hatten; jetzt aber drehte er sich abrupt herum und blieb vor ihr stehen.

»Gertie,« sagte er; »darf ich fragen, ob du von allen guten Geistern verlassen bist?«

»Wieso?« schrie sie, »was meinst du damit?«

»Ich meine genau, was ich sage,« antwortete er heftig; »bist du verrückt geworden?«

Sie schaute ihn in sprachlosem Entsetzen an; es war, als habe er die Maske abgeworfen und zeige sich plötzlich, wie er wirklich war. Es lag etwas beinahe Brutales in seinem starren Blick und in der gnadenlose Härte seines Mundes.

»Hältst du mich für verrückt, weil ich meiner Mutter helfen will?« gelang es ihr zu stammeln.

»Aber du hast mir doch gesagt, dass sie Opium nimmt.«

»Aber sie ist meine Mutter!«

»Aber dein Vater – was ist mit ihm?«

»Er braucht mich nicht. Er ist nicht in Not.«

»Aber solltest du nicht etwas Rücksicht auf dich selber nehmen? Was wird aus dir, wenn er dich hinaus wirft?«

»In diesem Fall, dachte ich, würde ich deine Frau werden.«

Diese Antwort hatte der Doktor offenbar nicht erwartet, denn er war sichtlich verdutzt. Er stopfte seine Hände in die Taschen, ging umher und vertiefte sich in die Betrachtung von » La Vérité«, derjenigen seiner Göttinnen, deren Dienst er sich am wenigsten hingab.

»Wenn du meine Frau werden willst,« sagte er halb umgewandt, »dann werde ich auf Gehorsam gegenüber meinen Wünschen bestehen müssen.«

»Gewiss. Und im gegenwärtigen Fall, darf ich fragen, was da dein Wunsch ist?«

Eine sarkastische Note hatte sich in ihre Stimme geschlichen und in ihre Haltung eine plötzliche Kälte. Denn das Wort ›Gehorsam‹ ist für ein amerikanisches Mädchen das, was für den Bullen das rote Tuch darstellt: es rief Gertrudes ganzen verborgenen Zorn empor.

»Ich wünsche, dass du nach Hause gehst und tust, was dein Vater dir sagt,« versetzte er wütend.

»Und wenn ich das nicht tue, was dann?«

Er wagte es nicht zu sagen: »Dann ist alles zwischen aus,« denn er erkannte rasch, welche Folgen das nach sich ziehen würde. Er suchte von Natur aus stets nach Ausflüchten und konnte nie zu einem Entschluss kommen, höchstens nach endloser Überlegung.

»Ich würde deinen Eigensinn zutiefst beklagen,« antwortete er in zurückgewonnener sonorer Rhetorik.

»Und du willst mir das Geld nicht leihen?«

»Ich würde deinen Vater verletzen, verstehst du das nicht? Und weil du es dir in den Kopf gesetzt hast, ihn zu verletzen, ist es einfach besser, wenn ich mich gut mit ihm stelle. Dann besteht trotzdem noch eine Chance, dass alles gut wird.«

Der Funke einer armseligen, rechenhaften Seele blitzte in dieser Rede auf; und dies erfüllte Gertrude mit Abscheu. War es möglich? War das der Mann, den sie verehrt, zum Ideal erhoben, angebetet hatte? War es zu fassen, dass dieser Mann, den sie in ihrer Blindheit als Inkarnation jeglicher Vollkommenheit vergöttert hatte, von einem so niederträchtigen, so erbärmlich unheroischen Geist beherrscht war? Sie konnte nicht sogleich eine solche Schlussfolgerung akzeptieren. Sie musste ihn noch einmal der Prüfung unterziehen, ehe sie ihren Glauben an ihn für immer aufgab.

»Sag mir bitte,« fragte sie mit leiser, sanfter Stimme; »willst du mir das Geld leihen oder nicht?«

»Ich will es tun, wenn du mir dein heiliges Ehrenwort gibst, dass du deinem Vater niemals davon erzählst.«

Sie erhob sich mit einem unbeschreiblich verächtlichen Lächeln und ging zur Tür. Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie lächelte, es war wahrscheinlich nur, um nicht zu weinen.

»Du solltest jetzt endlich antworten,« brummte er beleidigt. »Versprichst du es?«

»Nein, Dr. Hawk, ich werde Ihnen kein weiteres Versprechen mehr geben. Ich möchte, dass Sie mich von dem einen entbinden, das ich Ihnen gegeben habe.«

»Gertie, ich wünschte, du würdest jetzt wieder Vernunft annehmen.«

»Ich bin vollkommen vernünftig – jetzt,« sagte sie in seltsam traurig-fernem Ton. »Sprechen Sie nicht mehr mit mir. Leben Sie wohl.«

Hawk war Frauenkenner genug, um zu wissen, dass Argumente nun zwecklos waren. Dieses plötzliche Ermatten der Stimme, das wie kummervolle Zärtlichkeit wirkte, war in Wirklichkeit der Ausdruck eines inneren Zitterns, das sich zuletzt in einem Tränenerguss Luft machen würde.

Gertrude beeilte sich fort zu kommen, weil sie spürte, dass sie sich nicht mehr lange im Zaum halten konnte. Sonderbarer Weise richtete sich ihr Bedauern nicht auf ihn, der sich als unwürdig erwiesen hatte, sondern auf all die schönen Empfindungen, die durch sie auf ihn verschwendet worden waren. Ihr Stolz litt mehr als ihre Liebe. Sie fühlte sich gedemütigt – erniedrigt.

Da jetzt diese prächtige Wolkenvision zu feucht-kaltem Dampf geschmolzen war, erschien alles haltlos und ekelerregend. Es war wie am Morgen nach einem Fest, wenn die rosige Dämmerung ihre ersten Strahlen in die verlassene Feierstätte sendet. Die halb heruntergebrannten Kerzen – wie verloren sie aussehen! Die zerknautschten Servietten, die halb abgedeckte Tafel, die leeren Flaschen, die über den Boden verstreuten Korken, der Geruch abgestandenen Zigarrenrauchs! All das, was man am Vorabend schön gefunden hat, erscheint nun doppelt peinlich, weil es seine Schönheit verlor.

Die ihr vom Doktor hingehaltene Hand schien Gertrude nicht zu bemerken; sie öffnete vielmehr die Tür und gelangte irgendwie auf die Straße. Alsbald spürte sie eine merkwürdige Taubheit in ihren Knien, und die Steinplatten bauschten sich und gaben zugleich unter ihren Füßen nach.

Das also war nun das Ende ihres Traums. Sie hatte das innigste Gefühl ihres Herzens auf einen verkleideten Kurpfuscher verschwendet. Einen pittoresken Stümper hatte sie mit allen Requisiten des Heldentums ausgestattet, die ihre jugendlich ungeordnete Phantasie ihr eingegeben hatte.

Ohne recht zu wissen, wohin ihre Füße sie trugen, eilte sie den Bürgersteig hinunter. Die vertraute Straße, flankiert von weißen und schieferfarbenen Holzhäusern mit ihren Vorgärten, hatte ein eigentümlich fremdartiges Aussehen angenommen. Das Sonnenlicht fiel ihr mit gnadenlos greller Beharrlichkeit in die Augen. Wirr brandete ihr das Blut in den Ohren und pochte in den Schläfen. Totes Laub fiel raschelnd auf ihre Röcke, und sie schleppte einen trockenen Zweig mit, ohne es zu bemerken.

In ungleichmäßiger Stakkatobewegung huschte ein Vogel über die Straße; und Gertrudes launische Phantasie heftete sich an ihn, folgte ihm immer weiter bis in die blaue Unendlichkeit. Er wurde zu einer Plage, zu einem Albtraum, dieser tanzende Vogel – wie er da durch Sonnenschein und Schatten schoss, unermüdlich, rastlos, wie ein wahnsinniger, schlafloser Gedanke, der sich vom Gehirn losgelöst hat und jenseits seiner Kontrolle einher fliegt.

Sobald sie zu Hause angekommen war, begann Gertrude wortlos und mechanisch ihren Koffer zu packen. Es kostete sie einige Stunden, ihre Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs dem begrenzten Platz anzupassen; weil sie keine Erfahrung damit besaß, musste sie nach undurchführbaren Versuchen wiederholt von vorne anfangen. Und doch empfand sie Erleichterung darüber, an etwas Konkretes, Berührbares denken zu müssen, Hände und Gliedmaßen zu bewegen und auf Schwierigkeiten zu stoßen, die ihre Anstrengung herausforderten.

Sie leerte ihre Börse auf den Tisch und stellte fest, dass sie über etwa 19 $ verfügte. Das würde für ihren Fahrschein mehr als hinreichen; aber es würde wenig übrig bleiben, um die Not ihrer Mutter zu lindern. Aber es gab ja noch Aleck! Er war in New York, und sie kannte seine Adresse. Sie würde sofort zu ihm gehen und ihn um Hilfe bitten. Sein blondes, feines Gesicht mit den treuen dunkelblauen Augen, die sie voller Zuverlässigkeit und Ergebenheit anschauten, erhob sich in ihrer Vorstellung, und es beruhigte und tröstete sie, daran zu denken.

Sie würde Aleck treffen; sie würde mit ihm sprechen und ihm ihre Lage erklären. Er würde nicht einhalten und erst einmal die Risiken bedenken, die er als einer der mutmaßlichen Erben ihres Vaters einging, bevor er ihr seine Hand zur Hilfe bot. Je länger sie bei diesem Gedanken blieb, um so begieriger wurde sie auf das Treffen mit Aleck. Er nahm im Vergleich nun sämtliche Tugenden an, die Hawk fehlten. Er hatte sie vor Hawk gewarnt; sein treues, aufrechtes, zuverlässiges Herz hatte eine instinktive Abneigung gegenüber der egoistischen, feigen Rechenhaftigkeit Hawks empfunden.

Wie war sie getäuscht worden! Wie kläglich, wie grausam getäuscht! Dass sie Hawk überhaupt je geliebt hatte, begann jetzt zu bezweifeln. Eigentlich hatte sie eine großartige, heroische Seele geliebt, die, wie sie geglaubt hatte, aus seinen Zügen sprach; aber nachdem sie heraus gefunden hatte, dass es diese heroische Seele überhaupt nicht gab, hatte sich ihre Ergebenheit in Empörung verwandelt, und ihr Vertrauen in Abscheu und Verachtung. Leidenschaftlich, jugendlich und unschuldig, wie sie war, konnte sie keine Liebe begreifen, die nicht auf Verehrung fußte. Nachdem sie entdeckt hatte, dass Hawk ihre Verehrung nicht verdiente, zog sie den Schluss, dass er damit auch ihrer Liebe nicht würdig war. Wie die meisten jungen Menschen war sie vollkommen egozentrisch; sie fühlte sich wund, entrüstet, erniedrigt; aber es reute sie um ihrer selbst willen, nicht seinetwegen.

Nach dem Packen setzte sie sich hin und schrieb einen langen Brief an ihren Vater und einen kurzen, schroffen an Hawk. In dem ersteren erbat sie Vergebung, dass sie sein Verlangen nicht berücksichtige, in letzterem löste sie ihre Verlobung.

Um elf Uhr, als die Familie längst schlafen gegangen war, verschaffte sie sich eine Droschke und brach zum Bahnhof auf. Die Nacht war kalt, und die Nebel krochen vom See empor und hüllten die Hügel in flauschige Leichentücher. Der Kutscher gab ihr Gepäck auf, sobald sie den Fahrschein gelöst hatte, und half ihr in den Waggon. Im nächsten Augenblick durchschnitt ein schriller Pfiff die Nacht, und rumpelnd, mit metallischem Scheppern und zischend entweichendem Dampf glitt der Zug hinaus in den weißen Nebelsee.



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