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XXII.
Eine heikle Situation.

Niemand kann »seiner Länge eine Elle zusetzen«, sagt die Bibel Matthäus 6, 27, hier nach der Luther-Bibel, ed. 1912., »ob er gleich darum sorge«; aber manchmal sieht es so aus, als könne man eine Elle von ihr abziehen.

Horace Larkin jedenfalls empfand sich als deutlich kleiner, als er aus dem Büro nach Hause ging, nachdem er das Testament seines Onkels ausgefertigt hatte. Es kam ihm vor, als sei er von gut 1,80 m auf gerade mal 1,60 m geschrumpft. Ihm war zuvor nie so klar gewesen, wie stark die Aussicht auf jene Million sein Selbstwertgefühl gestützt hatte. Er konnte seine schmerzliche Enttäuschung nicht leugnen, war aber dennoch hinreichend unvoreingenommen, dem alten Mann den von ihm eingestandenen Beweggrund abzunehmen. Er ärgerte sich auch nicht eigentlich über ihn. Wenn es hier jemanden gab, über den er die Geduld verlor, dann war es dieses alles verschlingende Ungeheuer, die Hochschule, die sich nicht zufrieden gab mit der Million, die sie schon in sich hinein gefressen hatte, sondern auch die restliche sich noch einverleiben musste!

Horace Larkin lief drei Tage lang im Zustand angestrengten Grübelns umher und erwog das Problem in seiner Tragweite. Dabei kam im ersten Moment etwas in ihm hoch, zu dessen klarer Anschauung ihm der Mut fehlte. Galt seine erste Pflicht ihm selbst oder Bella? Würde es Bella umbringen, wenn er mit ihr bräche? War ihre heftige Neigung für ihn nicht eher ein pathologisches als ein psychologisches Phänomen? War es nicht ein unmittelbares Ergebnis ihrer hysterischen Veranlagung – ein notwendiges Symptom schwacher Nerven? Ohne Geld und mit einer mittellosen Ehefrau, die sich durch nichts auszeichnete (außer durch ihre Liebe zu ihm): welchem Schicksal konnte er da vernünftiger Weise entgegen sehen? Zehn oder zwanzig armselige Jahre voller Mühsal, politisch ein nur langsamer, schrittweiser Aufstieg; viele Rückschläge ohne Zweifel, und vielleicht am Ende ein bescheidener, mäßiger Erfolg oder möglicherweise sogar ein Scheitern. Er hatte sich früher nie deutlich gemacht, wie untrennbar diese Million mit seinen gesamten Zukunftsplänen verwoben und in die Grundlagen jenes gewagten Glücksturms eingedrungen war, den er in seinen Träumen errichtet hatte.

Außerdem (soll ich es eingestehen?) hatte sich in jüngster Zeit ein demütigender kleiner Verdacht in sein Gemüt geschlichen, den er nicht los werden konnte. Trotz allem war er lediglich ein Dorfbursche und hatte sich nie mit starken, glänzenden Männern in der großen Lebensarena gemessen. Kate Van Schaak war zu ihm als Botin aus jener größeren Welt gekommen, mit der er keine Bekanntschaft unterhielt, und hatte ihn dunkel seine Grenzen spüren lassen. Sie hatte seinen Maßstab von Weiblichkeit gehoben und dafür gesorgt, dass er seine Wahl bereute und seine fiancée grausam im Schatten verschwinden ließ. Einen ehrgeizigen, stolzen Mann würde die Überzeugung, dass seine Lebensgefährtin »etwas unter Wert« sei, in den Augen der feinen Gesellschaft, zu der er eines Tages Zugang hätte, in Misskredit bringen, anstatt sein Ansehen zu vermehren – und dies folterte ihn quälend wie ein heftiger, hoffnungsloser Albtraum.

Dann wiederum stellte er sich vor, wie er lange, glanzvolle Jahre mit der vornehmen, kultivierten Kate zurücklegen würde, Huldigung heischend, liebenswürdig auf die Menge hinab schauend und den Unterschied in Wohlstand, Ansehen und Macht in jeder Fiber fühlend – diese Vision zog seinen Blick und seine ganze Seele mit unwiderstehlicher Faszination an. Es ging nicht anders – er musste Erfolg haben; und Geld war die Grundlage des Erfolgs. Das Leben würde ihm ohne Erfolg zur Last werden. Er würde mit Bella brechen und all seine Energien auf eine Ehe mit Kate werfen.

Zuerst hegte er die verzweifelte Hoffnung, dass Bella vielleicht bewogen werden könnte, ihm sein congé zu geben. Er hatte sie auffallend vernachlässigt beim Besuch des Pfarrhauses und erwartete, für sein unliebhabermäßiges Benehmen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Bella indessen war sich des Wertes der Beute, die sich gesichert hatte, viel zu bewusst, als dass sie deren Verlust durch zu große Ansprüche ihrerseits riskiert hätte. Sie wählte die sicherere Methode, indem sie auf Kate und deren Ehrgefühl vertraute. Sie hatte in der Tat Horace versprochen, ihre Verlobung geheim zu halten, bis er ihrer Veröffentlichung zustimme. Aber zum einen war es mehr, als Fleisch und Blut ertragen konnten, die Auszeichnung, die solch eine Beziehung ihr in den Augen der Stadt verlieh, zu verbergen; und zweitens ergab sich aus deren Bekanntheit zusätzliche Sicherheit, die im Falle eines kühlen, unzuverlässigen Liebhabers nicht zu verachten war.

Am Tag vor Kates Rückkehr nach New York traf Bella diese bedeutsame Entscheidung, denn sie zog den Schluss, dass ein Mädchen wie Kate in New York keine weniger beeindruckende Nebenbuhlerin sein werde als in Torryville. Entfernung würde den Zauber ihrer Millionen nicht zerstören, und die zurück gelassene Spur leuchtender Erinnerungen würde nicht so bald ihren Glanz verlieren.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als Bella an die Tür ihrer brillanten Cousine klopfte, die gerade mitten im Zimmer stand und einem der Nagetiere Anweisungen erteilte; Tillie faltete mit der Miene geschmeichelter Bedeutsamkeit ein herrliches, auf dem Bett ausgebreitetes Kleid. Bella entschuldigte sich für ihr Eindringen und fragte, ob sie ihr beim Packen helfen könne.

»Nein, danke,« erwiderte Kate, »Tillie macht das ganz gut. So, nun leg das Häubchen in die Schachtel, Tillie, und stell sie auf den Deckel der Truhe.«

Tillie grinste vergnügt. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nicht so hoch geehrt gefühlt. Und ihrer sonst so begünstigten Schwester vorgezogen zu werden – das machte ihr eine fast schwindelerregende Freude. Ihre braunen wachsamen Augen flogen durch das Zimmer wie die einer frohlockenden Maus; und sie warf schüchtern triumphierende Blicke hinüber zu ihrer Schwester, die sich erschöpft ans Fenster gesetzt hatte.

Die Aufregung der letzten Wochen hatte in Bellas immer schon heikler Gesundheit sichtlich Spuren hinterlassen. Die Ringe um ihre Augen waren dunkler als gewöhnlich, und ein grauer Unterton in ihrer Gesichtsfarbe, der nur auftrat, wenn sie bekümmert war, verdarb die Schönheit ihrer klaren, gut geschnittenen Züge. Merkwürdige kleine Zuckungen befielen ihre Augenlider und Lippen, und sie tippte mit ihrem winzigen Pantoffelfüßchen auf den Boden, weil sie nicht still sitzen konnte.

Als schließlich die Reisetruhe gepackt war und Tillie keine Entschuldigung mehr zum Verweilen vorbringen konnte, hatte Bella die vertrauensvolle Stimmung bereits verlassen, und sie hätte rein aus quälender Nervosität am liebsten weinen mögen.

Kate hingegen wanderte in glänzender Stimmung vom Schreibpult zum Bett und vom Bett zur Reisetruhe, summte dabei die Melodie von » Landlord, fill the flowing bowl« Trink- und Kneipenlied, nachweisbar seit etwa 1830., und es schien ausgeschlossen, zu solch einer Begleitmusik ein ernstes Gespräch zu eröffnen. Doch Bella konnte die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, es mochte keine weitere mehr geben.

»Cousine Kate,« fing sie schließlich zitternd an, »ich bedaure, dass Du fortgehst.«

Das war vielleicht streng genommen nicht wahr, sondern eine jener ›weißen Lügen‹, denen die Gewohnheit ihren Genehmigungsstempel aufgedrückt hat.

»Nun, meine Liebe, mir tut es auch leid,« und Kate summte weiter die bacchanalische Weise.

»Ob das Wetter wohl so bleibt?« bemerkte Bella aus dem Fenster schauend nach einer Weile.

»Gewöhnlich ist es am Besten, wenn es nicht bleibt,« antwortete Kate scherzhaft.

»Ich hab' keine Ahnung, was ich tun soll, wenn du weg bist, Kate; ich möcht' einfach sterben.«

Weil ihr schlicht nichts einfiel, log sie nun geradewegs, nur um die Pausen zu füllen und durch einen Umweg zum hochwichtigen Thema zu kommen.

»Es ist sehr nett von dir, das zu sagen, meine Liebe; aber ich bin herzlos genug zu glauben, dass wir beide es überleben werden,« erwiderte Kate mit lächelndem Gleichmut. »Wie du weißt, gehören wir zu einer langlebigen Familie.«

Da war nun genau der benötigte Ton in dieser Antwort – etwas wie eine kosende Berührung – auf den Bella gewartet hatte. Sie konnte nicht in Kates Zimmer kommen und ihr das zarte Geheimnis vor die Füße schleudern, wie ein Krämer eine Ware zur Begutachtung durch den Kunden auf die Ladentheke wirft. Nein, sie musste ein gewisses melodiöses Vorspiel erklingen lassen, durch das sie auf natürliche Art zu dem erhabenen, herzergreifenden Thema hinübergleiten konnte.

»Kate,« sagte sie mit brennenden Wangen und pochenden Schläfen, »du warst so lieb zu mir, dass ich es nicht ertragen kann, wenn du weg gehst, ohne dir etwas zu sagen – das – das …«

»Na, was denn?!« rief Kate nicht ohne Mitgefühl.

Tränen zitterten in Bellas Augen. Sie konnte nicht weiter.

»Also, meine Liebe, du wirst heiraten – ist es das?« fragte ihre Cousine und heftete ihre hellbraunen Augen auf sie mit etwas forciertem Lächeln.

»Ja,« sagte Bella zögernd in gewaltiger Anstrengung, ihre Tränen zu unterdrücken. »Wirst du zu meiner Hochzeit kommen, Kate? Weißt du, sie wird noch nicht dieses Jahr stattfinden, aber wahrscheinlich im nächsten.«

Sie fühlte sich sehr erleichtert, dass Kate es so kühl aufnahm; und ihr ruhiges, überlegenes Lächeln machte Bella absolut dankbar. Sie hatte ihr in Gedanken grausames Unrecht getan und sehnte sich danach, es zu büßen.

»Aber bevor ich dir Glück wünsche,« bemerkte Kate, während sie ein paar Elfenbeinbürsten in dem Silbernecessaire anordnete, »musst du mir sagen, wer es ist. Es muss jemand sein, der meinen Beifall findet, sonst werde ich nicht zur Hochzeit kommen.«

»Wer es ist? Oh, weißt du das nicht?« rief Bella in einer Art wilden Falsettos; »kannst du es dir nicht denken?«

»Oh, nein, ich habe keine Ahnung.«

Miss Van Schaak hatte eine sehr klare Ahnung; aber aus irgend einem dunklen Grunde entschied sie sich, unwissend zu erscheinen. Sie war etwas missvergnügt, dass Horace Larkin sich tatsächlich an ein so unbedeutendes kleines Wesen wie ihre Cousine weggeworfen hatte; und sie würde es dieser nicht leicht machen, diese unerfreuliche Tatsache zu enthüllen. Sie hatte keine Ahnung davon, dass sie Horace selbst haben wollte; ja, sie dachte sogar, dass er sie aller Wahrscheinlichkeit nach, was er auch tun mochte, niemals gewinnen könnte; trotzdem wollte sie ihn nicht in ihrer Wertschätzung sinken sehen, und das geschah, indem er das schäbige Alltagslos eines Dorfadvokaten annahm, der sich mit einer armseligen, kleinen, hysterischen Dorfschönheit verehelichte. Die »Sehnsucht der Motte nach dem Stern« Zeile aus dem Gedicht » One Word Is Too Often Profaned« von Percy Bysshe Shelley, 1824 in seinen posthumen Gedichten veröffentlicht. war ihrer Ansicht nach ein lobenswertes Verlangen, wenn es auch dem Stern nicht gut tat und die Motte nur von der ihr angemessenen Sphäre von Brauchbarkeit ablenkte. Aber die Sehnsucht der Motte nach der Motte erfüllte sie mit unsäglicher Verachtung.

Bella war aufgestanden. Sie stand da in ihrem lockeren rosa Umhang mit seinen Spitzenkaskaden und musste sich an der Rücklehne eines Stuhles aufstützen.

»Oh, liebe Kate,« stieß sie mit ihrem ängstlichen Lächeln hervor, »du weißt bestimmt, dass es Horace Larkin ist – wer sonst sollte es sein?«

»Nun, ich bin sicher, dass er sehr nett ist,« erwiderte Kate ein wenig lustlos; »alles Gute, meine Liebe.«

»Oh, ich bin so glücklich, Kate. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin.«

Und um zu beweisen, wie glücklich sie war, warf sie sich ihrer Cousine an den Hals und schluchzte. Obwohl Kate nicht sonderlich mitfühlend empfand, achtete sie viel zu sehr auf sich, um unfreundlich zu sein; so streichelte sie das Haar des Mädchens, küsste es auf die Wangen und bat es, sich zusammen zu nehmen.

Bella hatte freilich zu lange ihren Kummer aufgestaut, um jetzt auf die Erleichterung durch üppigen Tränenerguss zu verzichten. Sie weinte, als bräche ihr das Herz, weinte so sehr, dass ihre ganze Gestalt davon erschüttert wurde; und dann plötzlich erinnerte sie sich, dass sie, wenn sie so weiter machte, ihre Selbstbeherrschung verlieren und hysterisch werden würde. So unterdrückte sie mit befremdlicher Abruptheit den letzten Seufzer, entließ Kate aus ihrer Umarmung, wankte blind zum Fenster, wo sie lange mit der Hand am Rahmen angelehnt stehen blieb, ein lächerlich zusammengeknülltes Taschentuch an die Augen presste und dann und wann ein bebendes Seufzen emporhievte.

Kate wählte zugleich aus ihrem homöopathischer Medizinkästchen ein Fläschchen mit der passenden Kennziffer, entnahm ihr zwei Pillen, die sie in ein Glas Wasser warf und Bella zu trinken anhielt. Ob es unter den Heilmitteln dieses praktischen Systems eines gegen enttäuschte Liebe oder gebrochene Herzen gibt, weiß ich nicht; Kate freilich, die großes Vertrauen in ihre Pillen hatte, war sicher, dass sie an den richtigen Punkt gelangen und eine Heilung hervorbringen würden.

Es überkam sie ein angenehmes Gefühl getaner Pflicht, als diese Aufgabe erledigt war. Ihr hübsches, intelligentes Gesicht wirkte recht zufrieden und schien ein gutes Gewissen anzuzeigen. Vielleicht geschah es aufgrund der weiteren Nachgiebigkeit gegenüber diesem guten Gewissen, dass sie Bella mit einem sehr kostspieligen Kölnischwasser von seltener Qualität einsprühte und sie in einen Schaukelstuhl drängte, wo sie sich weiterer laienhafter Verarztung unterwerfen musste, bis sie aus schierer Selbstverteidigung erklärte, das sie sich vollkommen wohl fühle.

»Also,« sagte Kate, »ich möchte, dass du diese Phiole behältst. Sie hilft immer bei nervösem Kopfweh und allgemeiner Anspannung.«

Auf dem Schreibpult stand eine kleine Reihe Fläschchen aus geschliffenem Glas mit rosa und blauen Bändchen um den Hals, welche die fabelhaftesten flüssigen Mixturen und Essenzen enthielten.

Kate nahm eine nach der anderen zur Hand, ließ ihre Cousine daran riechen und weihte sie in ihre Anwendungen ein. Bella gewann trotz ihres Kummers immer mehr Interesse und empfand bald für Kate eine Zuneigung, die sie vorher nie gehabt hatte. Jedes dieser wundervollen Fläschchen vermehrte, nachdem es geöffnet und berochen worden war, ihre Ergebenheit und Bewunderung für ihre Cousine. Das Leben war offenbar eine verwickeltere Angelegenheit, als sie in ihrer Unschuld sich hatte träumen lassen.

Und so endete das mit dem Thema ›Liebe‹ begonnene tête-à-tête mit ›Parfümerie‹.



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