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V.
Fuchs und Falle.

Aleck Larkins politischer Aufstand, die Neutralität des alten Herrn und Horace' Gerissenheit waren die hauptsächlichen Gesprächsthemen der den Wahlen vorausgehenden zwei Wochen. In den Buchgeschäften und Lebensmittelläden, wo die Diskussion öffentlicher Ereignisse mit Vorliebe stattfand, gab es nicht wenige, die den Mut des jungen Mannes bewunderten, den Arm erhoben zu haben gegen eine so respekteinflößende, weit verzweigte und rundum organisierte Macht wie den republikanischen ›Apparat‹.

Viele aber lachten auch über seine Dreistigkeit und priesen die Weitsicht und Selbstbeherrschung seines Bruder, die sich in Bälde auszahlen werde. Am Güterbahnhof, wo der beschäftigungslose Teil der Bevölkerung auf Koffern und Kisten saß und auf alles wettete, was sich gerade anbot, vom Hunderennen bis zu den Präsidentschaftswahlen, dominierte dieser Standpunkt, und man bot Wetten an zu den Aussichten Horace' auf Kosten derer seines Bruders, doch niemand nahm sie an.

Dennoch bekümmerte Aleck nicht die öffentliche Missbilligung, sondern er war bitter enttäuscht, dass er nicht erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Nach dem Abgang der Hochschulsektion war die vorgefertigte Kandidatenliste verabschiedet worden; und Richter Wolf, als der einzige respektable Repräsentant fürchtete, er werde für eine Versammlung, die aus Amtsträgern und deren Satelliten bestand, um so unerträglicher sein.

Diese Furcht erwies sich jedoch als grundlos; denn ein starker Zuspruch zugunsten des Richters tat sich aus anderen Teilen des Landkreises kund, und so gewann er die Versammlung trotz des Widerstandes des ›Apparats‹. Gleichwohl war es ein offenes Geheimnis, dass die Parteiführer entschieden hatten, ihn am Wahltag über die Klinge springen zu lassen, weil sie ihm seine Anwesenheit als ihnen »vor die Nase gesetzt« übel nahmen und eine Chance herbeisehnten, die widerwärtigen Erneuerer mit Respekt vor ihrer Macht zu erfüllen.

Aleck entschloss sich trotz seiner Demütigung, die Herausforderung anzunehmen und nach Möglichkeit seinen Richter bei der Wahl zu unterstützen. Er vertraute Horace seinen Plan an, der ihn auslachte, einen Phantasten nannte, ihm jedoch schließlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit wertvollen Rat erteilte. Wenn er sein Herz an die Wahl des Richters hänge, sagte er, dann gebe es nur einen Weg, sie zu erreichen, und das wäre, kein Wort darüber zu verlieren, sondern früh am Wahltag einen Trupp verlässlicher Freunde zu rekrutieren und ein paar von ihnen jeweils zu den Wahllokalen innerhalb des Landkreises zu entsenden. Während diese die Wahlen beobachteten, sollten andere mit Buggys ausgeschickt werden, um die abgelegeneren Wähler aufzuspüren und sie unterwegs zur Wahl des Richters zu überreden.

Der Wahltag dämmerte still und rauchig voller trauriger Herbstgefühle über dem Tal von Torryville auf. Es lag Brandgeruch in der Luft. Ulmen und Ahornbäume reckten ihre vom Laub halb entblößten Äste zerfetzt gegen den Himmel; dann und wann fiel ein Blatt geräuschlos kreiselnd herab und landete auf einem der knisternden Haufen, die die Wege bedeckten und die Rinnsteine füllten. In den Straßen fehlte die anschwellende Geräuschkulisse aus Grillenzirpen und Vogelzwitschern; das tote, bleierne Schweigen wurde nur zeitweise unterbrochen durch herabfallende Kastanienschalen, die dann aufbrachen und die reiche braune Frucht darin enthüllten, oder das Knacken trockener Zweige, wenn ein früher Wähler vorüber geschlurft kam, versunken in die am Abend zuvor mit der Post erhaltenen Wahllisten.

Unter den Allerfrühesten, die ihr Bürgerrecht ausübten, als die Sonne kaum matt und schläfrig ihr Gesicht über die östlichen Hügel erhoben hatte, waren Aleck und seine befreundeten Verschwörer Hawk und Ramsdale. Die letzteren bekundeten, obwohl sie einander aus naheliegenden Gründen nicht mochten, warme Freundschaft für Aleck und waren durchaus bereit, für dasselbe Ziel zu arbeiten, wenn Alecks Interessen auf dem Spiel standen. Sie hatten sich auf dem Bürgersteig vor dem schäbigen Zigarrenladen getroffen, auf dessen Theke die sieben Stimmzettelkisten von einem halben Dutzend Wahlagenten aufgestellt worden waren, die sie ins Gespräch verwickeln und bei Seite ziehen wollten, um sie auf die Forderungen verschiedener Kandidaten einzuschwören. Sie taten das nicht mit Lärm oder Argumenten, sondern auf merkwürdig vertrauliche Art, indem sie unterschwellig auf Absprachen und alle möglichen ruchlosen Machenschaften der gegnerischen Partei anspielten.

Es war auch eine Frau mittleren Alters im Bloomer-Kostüm Nach Amelia Bloomer (1818-94) benanntes Kostüm, das aus einem ohne Korsett getragenen, eng geschnittenen Oberteil, einem gefältelten, dicht unter dem Knie abschließenden Rock sowie der darunter getragenen Hose bestand. Amelia Bloomer war eine amerikanische Frauenrechtlerin, die diese von ihr zunächst Türkisches Kostüm bzw. Türkische Hosen genannte Kleidung als Beitrag zu einer Reform der Frauenkleidung ab 1851 propagierte, die Frauen mehr Bewegungsfreiheit und dadurch mehr Möglichkeiten zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen, politischen und Arbeitsleben geben sollte. – Die Romanfigur steht zugleich für eine seit den 1860er Jahren in den USA anwachsende Bewegung gegen den Alkohol, an der u.a. die › Prohibition Party‹ und auch der ›Christliche Frauenbund für Abstinenz‹ ( Woman's Christian Temperance Union) im Kampf gegen die › License‹ (Schanklizenz) beteiligt waren; der Zusammenhang von Frauenbewegung und Prohibition ist bis zur offiziellen Prohibition 1919-33 offensichtlich. anwesend, die von Kopf bis Knie von zwei Plakaten bedeckt war, auf denen in Mammuthbuchstaben zu lesen stand:

KEINE LIZENZ! WÄHLT
DIE PROHIBITIONSLISTE!

Sie kämpfte sich mit Ellbogen ihren Weg durch die Menge der Wahlagenten und überreichte den drei jungen Männern einen Satz von Wahllisten und Handzetteln mit Aufschriften wie »Die Lizenz wählen heißt die Hölle wählen!« und »Wählt Christus statt Rum!«

»Nun, Mr. Larkin, Sie wollen auf der richtigen Seite bei dieser Wahl stehen,« hob sie an, während sie Alecks beide Hände ergriff und in sein Gesicht schaute.

»Ich bin bereits auf der richtigen Seite, Mrs. French,« antwortete er lachend; »entschuldigen Sie mich bitte bis zu einem anderen Zeitpunkt; dann werde ich mich freuen, die Sache mit Ihnen diskutieren zu können.«

Sie begann in predigendem Ton eine offenbar vorgefertigte Rede zu Gunsten der Prohibition und hielt ihn zur gleichen Zeit so fest bei den Händen, dass er es schwierig fand, sich von ihr los zu winden.

»Ein andermal, Mrs. French, ein andermal,« rief er vor Verlegenheit lachend und entwischte in den Laden.

»Ein andermal, du Schurke, werde ich meine Worte nicht an dich verschwenden,« antwortete sie und schüttelte ihm die Faust hinterher.

Er hatte seine Stimmzettel schon am Vorabend vorbereitet und verlor keine Zeit, sie zu deponieren. Unter den Wahlaufsehern, die hinter der Theke saßen und die Namen in ihre Wahlbücher eintrugen, war anscheinend einer, der Geschriebenes nicht lesen konnte, und ein weiterer, der, falls er schreiben konnte, nicht willens war, von dieser Fähigkeit sichtbar Gebrauch zu machen. Mr. Graves jedoch, der gallige Gerber, der in offizieller Eigenschaft auch an dem Tisch plaziert war, assistierte ihnen gütiger Weise und fuhr alle Augenblicke mit seinem Stift über ihre Bücher. Er nickte Aleck boshaft zu, als sein Name genannte wurde; und an einer nicht angezündeten Zigarre lutschend, deren eines Ende er bekaute, bemerkte er erfreut: »Gutes Republikaner-Wetter, Mr. Larkin! Eine schwere Wahl bedeutet einen Sieg der Republikaner.«

»Sollte mich nicht wundern, Mr. Graves. Ich nehme an, Sie schließen daraus, dass die Vorsehung auf Ihrer Seite steht.«

»Wenn ich nicht glauben würde, dass ER auf unserer Seite stünde, Sir,« versetzte Graves in großem Ernst, »dann wollte ich verd– sein, wenn ich je in meinem Leben einen anderen Stimmzettel abgäbe.«

Aleck hatte in Übereinstimmung mit dem Rat seines Bruders seine Verschwörung in aller Stille angezettelt. Er hatte mit etwa zwanzig seiner Freunde, einige von ihnen Hochschulstudenten, Abmachungen getroffen, dass sie mit Frühzügen zu den anderen Städten und Ortschaften des Landkreises fuhren, auf seine Kosten Buggys mieteten (die schon telegraphisch bestellt waren) und den ganzen Tag damit zubrachten, sich mit allen rechtmäßigen Mitteln für die Wahl von Richter Wolf einzusetzen. Er hatte Torryville für sich selbst reserviert, weil er wusste, dass der Einfluss seines Namens hier mächtiger war als anderswo.

Gerade hatte er sich von seinen Freunden getrennt, nachdem er ihnen die letzten Anweisungen erteilt hatte, als er seines Bruders zugeknöpfte Gestalt vom oberen Ende der Straße sich nähern sah. Horace ging mit bedächtigem Schritt und starrte vor sich nieder, als sei er in Gedanken. Es machte Aleck erneut betroffen, welch eine solide, gewichtige und definierte Persönlichkeit sein Bruder vorstellte. Er schaute nie ziellos herum, wie die meisten Männer, sondern hatte stets sein Auge ebenso wie seine Gedanken auf einen scharf umrissenen Gegenstand gerichtet. Obwohl Aleck ihn sehr bewunderte, kam er ihm nie richtig nahe; er konnte nicht leugnen, dass er sich etwas vor seiner gnadenlosen Logik und seinem kalten, weltlichen Verstand fürchtete.

»Hallo,« sagte Horace, seine Zigarre aus dem Mund nehmend; »wo warst du beim Frühstück?«

»Oh, ich hab's vergessen!«

»Das Frühstück vergessen?! Ich hatte keine Ahnung, dass du so skrupellos bist.«

»Skrupellos?«

»Ja, skrupellos. Jemand, der zur Ausführung seiner Pläne um fünf Uhr morgens aufsteht und dann vergisst, seinen fleischlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, ist skrupellos.«

Er sah dabei so ernst aus, dass Aleck einen Moment im Zweifel war, ob er scherze oder es tatsächlich so meine.

»Aber ich habe deinen Rat befolgt, Horace,« sagte er mit unsicherem Lächeln.

»Ich habe dich nicht beraten,« erwiderte sein Bruder unbeirrbar; »ich habe mich zur moralischen Seite eures Unternehmens nicht geäußert. Ich habe lediglich gesagt, dass du, wenn du deinen Mann gewählt haben willst, dieselben Methoden anwenden musst, die du bei anderen verdammst. Ich wollte dich bei einem Widerspruch ertappen, um dir die Undurchführbarkeit deiner hohen moralischen Maßstäbe zu veranschaulichen, sobald man sie auf Politik – oder eigentlich auf alles – anwendet.«

»Dann hast du mir absichtlich eine Falle gestellt?«

»Ja, wenn du das so nennen willst. Ich hab's getan, weil mir dein Wohl am Herzen liegt und ich dich über den Weg zum Erfolg belehren will, so lange du noch jung genug bist, von dem Unterricht zu profitieren.«

Ein seltsam kreischender Klang, wie das Quietschen eines Eisentores, erklang aus dem Himmel über ihnen; sie schauten empor und sahen eine Schar wilder Gänse in Hufeisenform ihrem Leittier folgen, das mit seinem lang gestreckten Hals als Anführer auf ihrem Weg zu einem sonnigeren Klima voranzog. Ein Schweigen bemächtigte sich der beiden Brüder, während sie den gefiederten Trupp beobachteten, als er in der rauchigen Luft hinter den Türmen der Hochschulgebäude entschwand.

»Wie glücklich sie sind,« sagte Aleck, »so hoch über alle moralischen Wirren hinweg fliegen zu können.«

»In dieser Beziehung ähnelst du ihnen,« antwortete Horace; »es ist genau das, woran ich bei dir Anstoß nehme: dass du Höhenflüge veranstaltest, ohne dass diese Aktionen auf Tatsachen fußen, sondern nur auf naiven Einbildungen.«

Das Gesicht des jüngeren Bruders spiegelte wirkliche Qual, als er dieser gefühllosen Kritik zuhörte.

»Was habe ich getan, Horace, das dir so missfällt?« fragte er mit rührender Schlichtheit.

»Missfällt! Du machst mich krank mit deiner liederlichen Gedankenführung. Ich habe kein einziges Wort über mein eigenes Missfallen geäußert. Ich habe nur gesagt, dass du als politischer Erneuerer dieselben Organisationsmethoden anwenden musst, die du zu reformieren gedenkst.«

»Aber ich habe allen meinen Freunden ausdrücklich gesagt, dass sie die Wähler nur durch ehrlichstes Überzeugen beeinflussen sollten …«

»Und durch kostenlose Buggy-Fahrten.«

»Ich habe sie gebeten, jeden Missbrauch und jede Verleumdung zu unterlassen …«

»Du hast aber selbst von Einschüchterung Gebrauch gemacht.«

»Einschüchterung!«

»Hast du nicht die Familien des Metzgers, des Bäckers und des Kerzenmachers aufgesucht und ihnen gesagt, weshalb du für Wolf stimmen willst?«

»Na und, was ist daran falsch?«

»Auch wenn du es nicht gesagt hast, du hast ihnen das Gefühl gegeben, dass der Einfluss unserer Familie, der, wie du ja selbst weißt, in der Stadt ein Menge zählt, auf seiten deines Kandidaten steht und dass der Verlust unserer Gönnerschaft das Ergebnis sein könnte, wenn sie gegen ihn stimmen. Das nenne ich Einschüchterung.«

»Aber Horace, ich versichere dir …«

»Mein lieber Junge, du brauchst dich nicht zu verteidigen. ich klage dich nicht an. Ich halte dir lediglich den Spiegel vor. Ein wahrhaftiger Spiegel ist oft der strengste Zensor. Guten Morgen.«

Er entzündete ein Streichholz an seiner Stiefelsohle und setzte seine Zigarre in Brand, die während der Diskussion ausgegangen war.

»Übrigens,« sagte er zwischen den Rauchwolken, »du hast sehr wertvolle Arbeit für den ›Apparat‹ geleistet.«

»Für den ›Apparat‹?«

»Ja. Ich würde mich nicht wundern, wenn du durch deine Arbeit für Wolf die gesamte Kandidatenliste retten würdest. Und, unter uns, ich stimme dir durchaus zu, dass das schlimm ist.«

Er nickte mit amüsiertem Aufleuchten seiner Augen dem unglücklichen Erneuerer zu und schlenderte, seine Absätze auf den hölzernen Bürgersteig stoßend, zur Abstimmung. Aleck, halb betäubt von diesem Abschiedsschuss, starrte ihm mit qualvoll entgeistertem Gesichtsausdruck hinterher.

»Ich habe mich zum Narren gemacht,« murmelte er und schlich in einer Stimmung bitterer Ernüchterung heimwärts.



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