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Aleck spürte, dass der Bruch mit seinem Bruder nicht mehr gutzumachen war, und entschloss sich, die Stadt zu verlassen. Er besprach die Sache mit seinem Onkel, der etwas überrascht war, aber keine ernsten Einwände machte. Nur bestand er darauf, dass sich sein Neffe Poesie und ›so 'n Zeug‹ aus dem Kopf schlage und – wie er sich ausdrückte – ein anständiges Leben anfange. Journalismus sei im Ganzen kein schlechter Beruf, und wenn Aleck es damit versuchen wolle, werde Mr. Larkin ihn mit Empfehlungsbriefen an führende New Yorker Herausgeber versorgen, die ihm eine Chance bieten könnten, sich auszuzeichnen.
Seine Redeweise ließ eine Art wohltätiger Gleichgültigkeit erkennen, die Aleck verletzte, so dass er so bald wie möglich fort wollte. Er hatte schon seit Jahren davon geträumt, sich von der ungeliebten Rechtspraxis losreißen zu können und durch einen aufrüttelnd großartigen Roman oder ein Gedicht, das er eines Tages zu schreiben vorhatte, seinen Ruhm und sein Leben als Schriftsteller zu begründen. Er akzeptierte daher die Empfehlungen seines Onkels in der Hoffnung, durch die Pforte des Journalismus Eintritt in den Tempel der Literatur zu erhalten. Ein heißer Ehrgeiz trieb ihn an. Die Welt lag in ihrer Morgenröte glänzend zu seinen Füßen, und dunkel strahlende Visionen luden ihn aus der Ferne ein.
Es gab nur eines, das ihn quälte. Er musste Gertrude verlassen. Sie war die einzige junge Frau, die er gut kennen gelernt hatte, und doch kam es ihm bisweilen vor, als kenne er sie überhaupt nicht. Sie sprach seine ritterlichen Gefühle an und ließ ihn irgendwie vor Zärtlichkeit und süßer Unrast erglühen. Gern hätte er ihr gegenüber die Rolle des jungen Lochinvar Lochinvar ist der Held der Ballade » Marmion« (1808) von Sir Walter Scott. Er ist ein tapferer Ritter, der Ellen liebt und unangekündigt zu ihrem Hochzeitsfest erscheint; sie heiratet einen Mann, der als »Zauderer in der Liebe und Feigling im Krieg« beschrieben wird. Lochinvar sichert sich einen Tanz mit der Braut, tanzt mit ihr aus der Tür, schwingt sich mit ihr aufs Pferd, und zusammen reiten sie ins Unbekannte. gespielt, sie zuerst erobert, notfalls mit Gewalt, um sie dann durch zärtliche Worte, tiefe Ergebenheit und allmähliche Erweckung von Gefühl und Verstand mit all ihrem Reichtum, den sie nie geahnt hatte, zu gewinnen. Er wünschte, er wäre ein Fremder für sie, so dass er ihr Auge in Auge, Herz zu Herz begegnen könnte, ohne störende äußerliche Bekanntschaft oder Verwandtschaft. Er war in eine falsche Haltung zu ihr geraten, als eine Art drolliger, liebenswürdiger Bruder, der ad libitum mal gequält, mal liebkost werden konnte. Immer wieder hatte er den Versuch gemacht, ihr näher zu kommen; aber immer hing dieser verhasste Charakter, von dem er nicht einmal wusste, wie er zu ihm gekommen war, an ihm wie eine Zwangsjacke und ließ ihn unnatürlich wirken, auf sie genauso wie auf ihn selbst. Dann stand wieder Hawk, den Aleck hasste und verachtete, wie ein drohender Schatten zwischen ihnen und brachte sie dazu, gekünstelte Banalitäten auszutauschen, um das Gespräch über ihn zu vermeiden. Jeder kannte die Meinung des anderen über Hawk, und dies wurde zum unüberwindbaren Hindernis gegenseitigen Vertrauens.
Trotzdem konnte Aleck aus innerstem Gefühl die Stadt nicht verlassen, ohne noch einmal den Versuch gemacht zu haben, diese Barriere zu beseitigen. Dieses Mal wollte er freimütig über Hawk sprechen und die Folgen dann auf sich nehmen. Denn er sah voraus, dass ohne seine Warnung ihre Beziehung früher oder später zu einer Verlobung führen würde.
Er fand Gertie auf dem Dachboden, den sie mit Teppichen ausgelegt und mit Vorhängen, die wie Mumienbandagen aussahen, drapiert hatte, bis der Raum einem Atelier ähnelte. Sie überzog die Figur, an der sie gerade arbeitete, mit einem Leinensack, als er die Tür öffnete, und war einige Minuten damit beschäftigt, ihn an dem weichen Stoff zu befestigen, der um den Ton gewickelt war. Dann rollte sie hastig einen Bogen farbigen Papiers zusammen, auf dem Aleck zwei oder drei unverkennbare Abbilder von Dr. Hawk entdeckte. Als sie ihm endlich ihr Gesicht zuwenden musste, brannten ihre Wangen, und sie biss sich auf die Lippen, als verberge sie eine leichte Verwirrung.
»Oh, Aleck,« rief sie, in ein verlegenes Lachen ausbrechend, »was ist in dich gefahren, dass du mich hier besuchst?«
»Ich gehe fort,« sagte Aleck ernst; »und ich möchte dir Lebwohl sagen.«
»Du gehst fort? Wohin, wenn ich fragen darf?«
»Nach New York.«
»Wie lange wirst du fort sein?«
»Ich weiß nicht; wahrscheinlich für immer.«
»Was ist passiert?« rief sie überrascht. »Ist es – ist es – ist es der Doktor?«
Wieder stieg ihr das Blut ins Gesicht, und sie wandte sich zum Fenster ab und begann das Rouleau aufzuziehen. Es machte ihn betroffen, dass die Art, in der sie diese Worte gesprochen hatte, beinahe herzlos wirkte. Die Tonlage des Mitgefühls fehlte in so greller Weise, dass ihre Stimme seine Ohren mit kreischender Dissonanz erschütterte. Er bemerkte, als sie mit der großen tonbefleckten Schürze, welche die Vorderseite ihres Kleides schützte, vor ihm stand, auch eine gewisse Beschwingtheit in ihrem Verhalten, die deutlich von ihrer üblichen Trägheit abstach. Ihre Kopfhaltung verriet empressement Französisch: Eifer, Begeisterung., und ihre Züge bekundeten eine Lebhaftigkeit, die ihn einfach krank machte. Frohlockte sie über seine Niederlage? Versuchte sie ihre Überlegenheit zu behaupten? Oder war sie bloß erleichtert über seinen Abgang von der Bühne?
Sie erkannte, dass sie ihn durch ihr Verhalten verletzt hatte, und wiederholte ihre Frage in einem gedämpfteren Ton.
»Was ist los, Aleck?« fragte sie; »du siehst aus, als hättest du deinen letzten Freund verloren.«
»Oh, nichts ist los,« antwortete er, durch ihr gleichgültiges Benehmen zur Unaufrichtigkeit gezwungen. »Ich dachte, ich geh' 'mal 'ne ganze Weile weg; und ich kann das genauso gut jetzt tun.«
Sie ließ sich natürlich von so einer Antwort nicht im Geringsten täuschen; aber weil sie glaubte, dass Hawk der tiefere Grund des Problems sei, wusste sie nicht, ob sie weitere Vertraulichkeit aufkommen lassen sollte.
»Nun, Aleck,« sagte sie, nahm ihre Schürze ab und richtete mit einigem Schütteln und Klapsen ihren Rock, »du hast wahrscheinlich Recht. Es gibt wirklich für einen Mann deiner Begabung kein Betätigungsfeld hier in Torryville. Ich wundere mich tatsächlich, wie du es so lange hier ausgehalten hast.«
Er gab darauf keine Antwort, sondern setzte sich auf eine umgedrehte Transportkiste, die mit einem geblümten Chintz-Tuch verhüllt war. Sie nahm ihm gegenüber Platz in einem alten Lehnstuhl und begann die Seiten ihres Skizzenbuches umzuwenden.
»Woran hast du gearbeitet, als ich 'rein kam?« fragte er mit geheuchelter Gleichgültigkeit.
»Ach, das war nur zu meinem eigenen Vergnügen,« antwortete sie ausweichend.
»Zieh diese Lumpen herunter und zeig's mir.«
»Nein, entschuldige, Aleck, das würde ich lieber nicht,« sagte sie, ihn mit sanftem Trotz anblickend.
»Na ja, du musst nicht, wenn du nicht willst,« antwortete er nach einer Pause traurig; »und ich nehme an, es ist jetzt zu spät, dich vor dem Original zu warnen.«
»Original von was?«
»Von deiner Büste.«
»Aleck, ich weiß nicht, wovon du sprichst!«
Die plötzliche, ungestüme Kampfansage in ihrer Stimme verriet ihm die ganze Wahrheit.
»Ich spreche davon,« sagt er Anteil nehmend, »dass du früher oder später merken wirst, dass du einen Fehler gemacht hast.«
»Aleck,« rief sie drohend, »ich erlaube niemandem, in dieser Weise zu mir zu sprechen.«
Sie hatte sich erhoben und stand errötet und gebieterisch vor ihm.
»Du wirst in meinem Fall eine Ausnahme machen müssen,« antwortete er in demselben sanftmütigen Ton wie zuvor; »es mag viel Zeit vergehen, bevor ich dich wiedersehe – und – und – ich will dich nicht unnötig quälen. Ich möchte dir nur sagen: wenn du herausfindest, dass mein Urteil über ihn stimmt – wenn er dich im Stich lässt, wenn du ihn am meisten brauchst – denn das wird er tun – dann denk daran, dass ich dich geliebt habe … oder vergiss es lieber, wenn du willst, aber denk daran, dass ich dich gewarnt habe.«
Er stand auf und streckte ihr die Hand hin; aber sie schien sie nicht wahrzunehmen.
»Das ist wirklich sehr nett von dir,« sagte sie mit kaltem Hochmut; »aber ich würde es vorziehen, wenn du deine Voraussagen für dich behieltest. Ich sollte dir wohl besser mitteilen, dass ich mit Dr. Hawk verlobt bin und ihn bald zu heiraten gedenke. Ich wusste natürlich, dass du ihn nicht leiden kannst, aber ich hielt dich für zu großzügig, hierher zu kommen und ihn vor mir herunter zu machen.«
»Schon gut, Gertie, wir wollen nicht mehr darüber sprechen,« murmelte er in trauriger Resignation; »ich will dich nicht weiter quälen, Liebling. Gestatte mir nur, dies zu sagen: es tut mir sehr, sehr leid.«
»Ich verstehe nicht, was dir daran Spaß macht, hier zu stehen und mich zu quälen,« rief sie in einem aus Wut und Kummer gemischten Ton; »du weißt, ich will nicht unfreundlich zu dir sein, Aleck, aber du plagst mich so fürchterlich!
»Nun, ich werde dich nicht weiter plagen. Leb wohl!«
Er streckte noch einmal seine Hand aus, und sie schaute sie an, als sei sie im Zweifel, ob sie es sich leisten könne, nachzugeben oder nicht. Dann legte mit stürmischer Gebärde ihre Hände auf seine Schultern, schaute ihn mit tränenhellen Augen an und sagte herzlich:
»Aleck, ich hab' dich so gern – du bist so gut zu mir gewesen – dass ich heulen könnte, wenn ich daran denke – dass du so von dem Mann sprechen konntest, den ich liebe.«
»Da ist nichts zu machen, Liebling,« versetzte er und erwiderte ihren Blick mit trostlosem Lächeln.
Ihn überkam ein kaltes Gefühl von Verlassenheit bei dem Gedanken, dass dieses Mädchen, das ihm so ans Herz gewachsen war, das so lange Teil seines Lebens und Denkens gewesen war, von nun an einem anderen gehören und ihm nichts mehr bedeuten sollte, und er ihr auch nicht. Dabei war sie ihm nie so lieblich vorgekommen, so überaus begehrenswert, wie in diesem Augenblick. Sie war so groß und hübsch und unschuldig, so vornehm jungfräulich, so voller frischen, reinen, unverbrauchten Empfindens. Und der Gedanke, dass diese reiche, süße Zuneigung auf einen kalten, berechnenden Schurken verschwendet wurde, der nicht den Funken eines wahren, gesunden Gefühls besaß, der ihr unerfahrenes Herz durch ein bisschen eindrucksvolle Schauspielerei verführt hatte – das war der Gipfel von Bitterkeit. Es zerriss ihm das Herz, dass so ein Unrecht, aus dem so viel Elend entstehen würde, trotz seiner Vorhersehbarkeit nicht zu verhindern war. Und wie anrührend war doch zugleich ihre entschlossene Blindheit, diese unbesiegliche Treue zu dem, der ihrer so unwürdig war; der, wenn es zu seinem Vorteil gereichte, sie fort werfen würde wie abgetragene Kleidung!
Als Aleck diese Gedanken durch die Seele huschten, betete er, dass genau diese Situation möglichst noch zu Stande käme, bevor der unwiderrufliche Schritt getan war. Wenn er nicht fort ginge, und vor allem, wenn er kein Rivale wäre, dessen Motive kaum uneigennützig sein könnten, würde er seine gesamten Energien bündeln, um den Doktor zu demaskieren, oder besser: um eine Situation zu herbei zu führen, in der der Doktor sich unvermeidlich selbst demaskieren müsste. Aber dies waren beides entmutigende »wenns«. Je unübersteiglicher sie Aleck erschienen, desto mehr dachte er an sie.
Er packte schweren Herzens seinen Koffer und nahm den Abendzug nach New York.