Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV.
Getrübtes Wasser.

Die Sonne schien heiter und die Luft war erfüllt vom Rauschen der vielen Gewässer. Die tiefen Schluchten hinunter ergossen sich angeschwollene Bäche tosend und donnernd über die felsigen Abgründe, eilten rücksichtslos weiter in lärmendem Hader und Streit, wirbelten siedend in den glatten schwarzen Kesseln, bliesen zischend stiebende Böen durch die nackten Baumkronen, strudelten, tanzten, rollten und rumpelten weiter, schleuderten ihre gelbbraunen Fluten den Hang hinab, schlängelten sich in gewundenen Strömen durch die Ebene unten, entleerten sich in einem verästelten Delta in den See, wo ihr Verlauf in breiten, braunen Fluten sich immer noch verfolgen ließ, und vereinigten sich langsam mit dem klareren umgebenden Wasser. Über dem kahlen Unterholz erhob sich ein winziger Chor kräuselnd-klingelnden Murmelns – hier ein fröhlicher kleiner glasklarer Diskant, dort ein gedämpftes kleines gluckerndes Summen – aus zierlichen Rinnsalen, die nach ihrem eigenen possierlichen Willen unter den Baumwurzeln und über die Steine mäanderten, sich vereinigten und wieder trennten, unter Findlingen verschwanden, dann wieder im Sonnenlicht glitzerten und Verstecken mit einander spielten, bis auf einmal ihr schmächtiges Leben in der wild dahinrasenden Flut unterging.

Die Luft war trotz der Sonne rauh. Wandernde Böen warmer Feuchtigkeit eilten durch die Atmosphäre und trafen das Gesicht wie eine Liebkosung; aus den großen Eishöhlen unter dem ›Trommelfell‹-Wasserfall, wo die blauen Eiszapfen in dichten Reihen hingen, durchdrang eine heimtückische Kälte jenes Sonnenlicht und warnte vor überstürztem Vertrauen in die Versprechungen des Frühlings.

Nachdem Gertrude Larkin die Reize der plastischen Kunst ausgekostet hatte, gab sie einer unbestimmten Ruhelosigkeit ihres Blutes nach und brach zu Fuß auf zur ›Trommelfell‹-Schlucht, wo sie die dortigen Maiblumen in Blüte zu finden erwartete. Dieser Winter schien ihr ein Jahrhundert gedauert zu haben, und sie dürstete nach einem Frühlingshauch. Sie war es leid, an Dr. Hawk mit seinen unberechenbaren Kapriolen zu denken – leid, ihn zu hassen, und leid, ihn zu lieben – leid, sich Gründe für seine rätselhaften Handlungen auszudenken – sie war ihres eigenen Überdrusses leid – alles war ihr leid. Sie konnte Dr. Hawk nicht leiden, sie konnte sich selbst nicht leiden, sie konnte die ganze Welt nicht leiden.

In dieser Gemütsverfassung jedoch fand sie es unmöglich, still sitzen zu bleiben; und angetrieben von Bewegungsdrang war sie nun zu der Schlucht unterwegs. Auf der Brücke, unter der das Wasser tosend hoch aufwirbelte, traf sie Reverend Arthur Robbins, der, bekleidet mit einem neuen Frühjahrsmantel und einem glänzenden Kastorhut neuester Mode, sich an den trockenen Pfad am Rande der Straße hielt.

»Na, Miss Gertrude?« sagte er, lüftete seinen Hut und schüttelte einen Wassertropfen von ihm ab, die ein rücksichtsloser Baum auf ihn hatte fallen lassen. »Ich freue mich, dass die Rosen wieder heraus kommen.«

»Ich habe noch keine gesehen, Mr. Robbins,« erwiderte sie; »sie kommen erst im Juni.«

»Ah, mein Kind, ich meinte die Rosen Ihrer Wangen,« stieß der Pfarrer fröhlich hervor.

Das Zitat des Doktors, »Es blüht das Rot der Rose nie so rot wie dort, wo einst ein Cäsar fand den Tod,« huschte Gertrude durch den Kopf; und da ihr keine passende Bemerkung einfiel, lehnte sie sich über das Geländer und starrte auf das Wasser.

Mr. Robbins, der ebenfalls etwas entdeckt hatte, das ihn in der braunen Flut interessierte, setzte einen feinsäuberlich beschuhten Fuß auf die mittlere Planke, lehnte sich vor und folgte mit den Augen der wirbelnden Stromschnelle.

»Mit Ihnen stimmt etwas nicht, Miss Gertie,« sagte er nach einer Weile; »es bedrückt Sie etwas – etwas Peinigendes.«

»Das ging mir schon immer so, so lange ich zurück denken kann,« antwortete sie mit forcierter Leichtigkeit; »ich kann mich an keine Zeit erinnern, wo ich nicht von irgend etwas gepeinigt wurde. Es gibt Leute, wissen Sie, die kommen auf die Welt und setzen zufällig den falschen Fuß zuerst auf, und dann sind sie nicht in der Lage, diesen Fehler durch spätere Taten zu berichtigen. Ich bin eine von denen.«

»Mein liebes Mädel,« fuhr der Geistliche fort, während er mit sichtlichem Interesse die Rotationen eines trockenen Astes in einem Strudel beobachtete, »ich weiß nicht, ob ich ein Recht habe, in Ihren Geheimnissen herumzustöbern, besonders da Sie mir stets eine Abfuhr erteilten. Aber wissen Sie, ich muss einfach Interesse an Ihnen nehmen. Sie führen ein Leben, das nicht natürlich ist für ein junges Mädchen – es ist nicht gesund – nicht so, wie es sein sollte.«

Es lag ein Ton aufrichtiger Freundschaftlichkeit in dieser rechtfertigenden Vorhaltung, der Gertrude berührte. War es möglich, dass es Hilfe für ihren Kummer gab? Sie respektierte Mr. Robbins als aufrechten und gutherzigen Mann; aber sie hätte in ihm nie Mitgefühl für ihre eigenen verwickelten, unfasslichen Bedrängnisse vermutet. Außerdem hatte sie gegen ihn gewisse Einwände, weil er der Vater Arabellas war, um deren Affektiertheit und Kapriziosität er sich hätte kümmern sollen, anstatt sie zu durch Geschmuse und törichte Bewunderung zu fördern. Bevor sie indes dazu kam, sich auf ihre frühere Einschätzung seiner Begrenztheit zu besinnen, sprachen seine Worte gerade jetzt etwas in ihr an, das nach Antworten suchte. Sie heftete den Blick ihrer tiefblauen Augen, die düstere Andeutungen aussprachen, auf ihn; und da belebten sie sich rasch und leuchteten auf.

»Sagen Sie, Mr. Robbins,« sagte sie, ohne sich gleich der Schwierigkeit der Frage bewusst zu sein, die sie ihm vortrug; »welche Art von Leben ist eigentlich natürlich für ein Mädchen? Und gilt für alle Mädchen dieselbe Art? Ist ein Mädchen bloß ein Exemplar ihres Geschlechts, und hat sie nicht, wie der Mann, auch ein Recht zu entscheiden, welche Art Leben zu ihr passt?«

»Meine Liebe, wir sind alle Exemplare unseres Geschlechts,« bemerkte Mr. Robbins mit einiger Kampflust.

»Das weiß ich,« antwortete Gertrude mit aufflackerndem Eifer; »aber Männer sind wertvolle Exemplare von eigener Art, jeder von ihnen ist geprüft und erhält ein eigenes Etikett, anstatt blindlings mit allen übrigen in einen Topf geworfen zu werden.«

»Sie sind nicht halb so wertvoll und eigentümlich wie Frauen,« sagte Mr. Robbins lächelnd und verbeugte sich mit einer Spur Galanterie.

»Dieser Ton, indem Sie das sagen, zeigt mir, dass Sie es nicht wirklich meinen,« gab sie mit zunehmendem Ernst zurück. »Wenn man den geistigen Merkmalen von Mädchen irgend eine Bedeutung zumessen würde, gäben Sie und andere gute Leute nicht ihr Bestes, genau diese auszulöschen und jede möglichst so zu machen wie alle übrigen. Sie würden nicht herauszufinden versuchen, welche Art Leben für Mädchen passt, sondern welche für dieses oder jenes passt, die Sie um Rat fragt.«

»Das ist es, was ich in aller Bescheidenheit zu tun versuche,« erklärte der Pfarrer mit liebenswürdiger Unparteilichkeit. Dann wechselte er seine Stellung, setzte den linken Fuß auf die Planke anstatt des rechten und betrachtete sein rätselhaftes Gemeindemitglied mit freundlichem Mitgefühl.

»Ah, was sind Sie so fürchterlich liebenswürdig, Mr. Robbins!« rief das Mädchen leicht gereizt. »Sie erweisen mir noch nicht einmal die Ehre, sich über mich zu ärgern. Sie betrachten mich mit sanfter Missbilligung, wie Sie es mit einem lästigen Kanarienvogel tun würden, der es sich in den Kopf gesetzt hat, über die Probleme der Schöpfung zu zwitschern.«

Mr. Robbins stieß seinen Stock energisch in eine Spalte der oberen Planke und lockerte einen Astknoten, um den herum das Holz verwest war. Nachdem er diese Arbeit erledigt hatte, setzte er seinen Fuß auf den Boden, und ein Ausdruck beflügelten Interesses trat in seine Augen.

»Ich werde Ihnen nicht aus der Bibel zitieren, meine Liebe,« sagte er, »denn ich glaube nicht, dass Ihnen das etwas nützen würde. Sie rebellieren nun einmal gegen die Ordnung des Universums; und wenn ich nicht heimlich mit Ihrer Rebellion sympathisieren würde, könnte ich wohl die richtigen Worte finden, Sie zurecht zu weisen.«

»Dann meinen Sie also, ich verdiene Zurechtweisung, weil ich nicht glücklich bin.«

»Zweifellos; nur bringe ich's nicht übers Herz, sie zu erteilen.«

»Ich wünschte, Sie täten es, wenn Sie glauben, es würde mir guttun. Vielleicht wäre ich dann glücklicher.«

»Glücklich, mein Kind, glücklich! Glück ist ein vollständig heidnischer Gedanken. Ich bezweifle, dass das Wort auch nur ein einziges Mal in der Bibel vorkommt, es sei denn im Sinne himmlischer Segnung.«

»Dann glauben Sie also, dass Christen kein Recht haben, nach Glück zu suchen?«

»Nein, das glaube ich überhaupt nicht! Ich denke nur, dass kleine Mädchen sich nicht selbst Kummer machen sollten über Dinge, die sie vielleicht nicht begreifen.«

»Sie meinen, sie sollten Sie nicht belästigen mit Sachen, von denen Sie nichts verstehen,« hätte Gertrude in ihrem unbedachten Eifer fast geantwortet; aber sie bremste ihre Zunge und sagte nur: »Sie meinen, zu denken sei nicht gut für Frauen.«

»Nein, meine Liebe, ich weiß nicht nicht einmal, ob ich den Mut hätte, das zu sagen. Auf der anderen Seite: ich bin mir bewusst, dass Sie über einige wirklich sehr wichtige Sachen nachdenken – das macht Sie nur, wie Sie selbst sagen, nicht glücklicher. Es ist eben so, Miss Gertie, dass Sie für Ihr eigenes Bestes einfach zu klug sind.«

»Aber was soll ich dann tun, Mr. Robbins?« stieß sie – nicht in gefühlsmäßiger, sondern in gedanklicher Verzweiflung – hervor.«

»Was Sie tun sollen? Oh, ich hätte Ihnen nichts vorzuschlagen, es sei denn, ich könnte Sie für kirchliche Tätigkeiten interessieren, für die Linderung der Not der Armen und für einen Beitrag zur Förderung der Sache Christi unter den Heiden. Das wäre, glaube ich, die passende Beschäftigung für ein Mädchen …«

»Ach, da haben wir's wieder! Das, glauben Sie, wäre die passende Beschäftigung für ein Mädchen …«

»Entschuldigen Sie,« unterbrach er ruhig, »ich wollte sagen: für ein Mädchen in Ihrer Lage.«

»Strümpfe stricken für die Zulus und Erdbeeren und Eiskrem essen zu Gunsten der Südseeinsulaner – das, glauben Sie, sollte den Ehrgeiz eines Mädchens in meiner Lage befriedigen!«

»Sie gehen mit den Dingen auf paradoxe Art um, meine Liebe; das Königreich Christi auszudehnen hat jedoch viele Männer und Frauen zufrieden gestellt, die ebenso begabt und ehrgeizig waren wie Sie.«

In dieser abschließenden Ermahnung war unversehens ein Klang von Autorität hörbar geworden, der das Mädchen aufschreckte. Mit demselben Verfahren, durch das er, wenn er einmal wieder mit dem Zeitgeist abgetrieben war, sich selbst plötzlich zurück zu seinen orthodoxen Anlegeplätzen schleppte, schlug er nun all seine schwächliche Sympathie in die Flucht und pflanzte sich breitbeinig auf biblischem Grund auf. Er hatte dieselbe Erfahrung schon hundertmal zuvor gemacht; doch diese freundliche, duldsame Natur konnte nie ganz begreifen, dass jegliches Verhandeln mit dem Geist der Zeit nur zu Widersprüchen und Kapitulation führte. Und doch gab es in der Tiefe seines Herzens einen quälenden Zweifel, der ihn zu unentschlossenem Verweilen brachte, obwohl er sich wünschte, er wäre nicht da.

War es sein Fehler, oder war es ihrer, dass seine Worte keine Saite in ihrer Seele zum Klingen brachten, ihr in ihrer Ratlosigkeit nicht halfen? Er hoffte, es sei ihrer; aber er war dessen keineswegs sicher. Und doch verstand er sie so gut, hätte so tief in ihren Gemütszustand Eingang finden können, der ihm nicht fremd war. Freilich: hätte er das getan, was wäre aus seiner geistlichen Würde geworden? Sein Unbehagen gegenüber seiner Pflicht, diese zu behaupten, anstatt seine persönliche Fähigkeit geltend zu machen, war in der Tat die Ursache seines Fehlverhaltens in diesem wie in zahlreichen anderen Fällen.

»Wäre ich nur ein Priester,« seufzte er bei sich selbst zum tausendsten Mal, »hätte ich nur den Geist, die Stimme und die Autorität eines Priesters unseres Gottes!«

Er hätte sich gern von Gertrude mit einem starken, nachklingenden Wort verabschiedet, das Frieden und Erhebung gewährte. Aber diese Orgeltöne des Trostes, so oft sie ihn auch heimsuchten und so nahe sie in seiner Reichweite schienen, bestimmten nie die Schwingungen seiner Stimme, stahlen sich nie inspirierend in seine Rede und erhoben sie über die freundliche Alltäglichkeit.

Und so konnte er bei der gegenwärtigen Gelegenheit nur seinen glänzenden Hut mit seiner gekräuselten Krempe (es war der erste Hut jener Mode in der Stadt) lüften und gegenüber seinem verblüfften Gemeindemitglied lahm der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die zurückkehrte Gesundheit Gertrudes gewünschte Fröhlichkeit wiederherstellen möge. Als großes Finale war dies eine beklagenswert schwache Leistung; und Mr. Robbins' Ohren brannten unangenehm, als er seinen Weg durch die schlammigen Pfützen zur Stadt nahm.



 << zurück weiter >>