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Siebenter Brief

 

Paris, Dienstag, den 21. September 1830

Schreiben, Schriftstellern, Gedanken bauen – wie wäre mir das möglich hier? Der Boden wankt unter meinen Füßen, es schwindelt um mich her, mein Herz ist seekrank. Manchmal kömmt es mir selbst spaßhaft vor, daß ich die Sorgen eines Königs habe und so angstvoll warte auf die Entscheidung der Schlacht, als hätte ich dabei eine Krone zu gewinnen oder zu verlieren. Ach, wäre ich doch nur König einen kurzen Monat! Wahrlich, ich wollte keine Sorgen haben, aber geben wollte ich sie.

Die tägliche, ja allstündliche Bemühung der stärksten Denkreize macht die Menschen hier endlich stumpf und gedankenlos. Wenn es nicht so wäre, man ertrüge nicht Paris sein ganzes Leben durch. Die Erfahrung, die anfänglich bedächtig macht, macht später leichtsinnig, und so erkläre und entschuldige ich den Leichtsinn dieses Volkes. Wir Deutschen, die wir am längsten unter einem sanften wolkenfreien Traumhimmel leben, sind rheumatisch, sobald wir wachen; wir spüren jede Erfahrung, und jeder Wechsel der Empfindung macht uns krank.

Diesen Mittag stand ich eine halbe Stunde lang vor dem Eingange des Museums und ergötzte mich an der unvergleichlichen Beredsamkeit, Geistesgegenwart und Keckheit eines Marktschreiers, der ein Mittel gegen Taubheit feilbot und mehrere aus der umstehenden Menge in Zeit von wenigen Minuten von dieser Krankheit heilte. Als ich unter dem herzlichsten Lachen fortging, dachte ich: mit diesem Spaß ernähre ich mich den ganzen Tag. Und er dauerte keine drei Minuten lang, keine dreißig Schritte weit!

Im Hofe des Louvres begegnete ich einem feierlichen Trauerzuge, dessen Spitze dort stillhielt, um sich zu ordnen. Voraus ein Trupp Nationalgarden, welche dumpfe Trommeln schlugen, und dann ein unabsehbares Gefolge von stillen, ernsten, bescheidenen, meistens jungen Bürgern, die paarweise gingen und in ihren Reihen viele Fahnen und Standarten trugen, welche mit schwarzen Flören behängt und deren Inschriften von Immortellen oder Lorbeeren bekränzt waren. Ich sah, fragte, und als ich die Bedeutung erfuhr, fing mein Blut, das kurz vorher noch so friedlich durch die Adern floß, heftig zu stürmen an, und ich verwünschte mein Geschick, das mich verurteilte, jeden Schmerz verdampfen zu lassen wie eine heiße Suppe und ihn dann löffelweise hinunterzuschlucken. Wie glücklich ist der Kämpfer in der Schlacht, der seinen Schmerz, seinen Zorn kann ausbluten lassen und der keine andere Schwäche fühlt, als die dem Gebrauche der Kraft nachfolgt! Es war eine Todesfeier für jene vier Unteroffiziere, welche in der Verschwörung von Berton der Gewalt in die Hände gefallen und als wehrlose Gefangene ermordet wurden. Heute vor acht Jahren wurden sie auf dem Grève-Platz niedergemetzelt, und weil es ein Mord mit Floskeln war, nannte man es eine Hinrichtung. Abends war Konzert bei Hofe. Es ist zum Rasendwerden! Acht Jahre sind es erst, und schon hat sich in Tugend umgewandelt, was damals für Verbrechen galt. Wenn man, wie es die Menschlichkeit und das Kriegsrecht will, auch die im Freiheitskampfe Besiegten in Gefangenschaft behielte, statt sie zu töten, dann lebten jene unglücklichen Jünglinge noch. Mit welchem Siegesjubel wäre ihr Kerker geöffnet worden, mit welchem Entzücken hätten sie das Licht, die Luft der Freiheit begrüßt! Könige sind schnell, weil sie wissen, daß es keine Ewigkeit gibt für sie, und Völker sind langsam, weil sie wissen, daß sie ewig dauern. Hier ist der Jammer. Wie damals, als ich die fluchwürdige Hinrichtung mit angesehen, so war auch heute mein Zorn weniger gegen den Übermut der Gewalt als gegen die niederträchtige Feigheit des Volkes gerichtet. Einige tausend Mann waren zum Schutze der Henkerei versammelt. Diese waren eingeschlossen, eingeengt von hunderttausend Bürgern, welchen allen Haß und Wut im Herzen kochte. Es war kein Leben, kaum eine Wunde dabei zu wagen. Hätten sie sich nur so viel bemüht, als sie es jeden Abend mit Fröhlichkeit tun, sich in die Schauspielhäuser zu drängen; hätten sie nur rechts und links mit den Ellenbogen gestoßen: die Tyrannei wäre erdrückt und ihr Schlachtopfer gerettet worden. Aber die abergläubische Furcht vor der Soldatenmacht! Warum taten sie nicht damals schon, was sie acht Jahre später getan? Es ist zum Verzweifeln, daß ein Volk sich erst berauschen muß in Haß, ehe es den Mut bekömmt, ihn zu befriedigen; daß es nicht eher sein Herz findet, bis es den Kopf verloren.

Mit solchen Gedanken ging ich neben dem Zuge her und begleitete ihn bis auf den Grève-Platz. Dort schlossen sie einen Kreis, und einer stellte sich auf eine Erhöhung und schickte sich zu reden an. Ich aber ging fort. Was an diesem Orte und über solche jammervolle Geschichten zu sagen ist, war mir bekannt genug. Ich ging die neue Kettenbrücke hinan, die jetzt vom Grève-Platz hinüberführt, und setzte mich auf eine der Bänke dort, um auszuruhen. Ich sah den Strom hinab, maß die kurze Entfernung zwischen dem Louvre, wo Frankreichs Könige herrschten, und dem Revolutionsplatze, wo sie gerichtet wurden von ihrem Volke, und ich erstaunte, daß die Gerechtigkeit, wenn auch eine Schnecke, so lange Zeit gebrauchte, diesen kurzen Weg zurückzulegen. Zwischen der Bartholomäusnacht und der Eroberung der Bastille sind mehr als zwei Jahrhunderte verflossen. Heillos wuchert die Rache der Könige; aber die edle Rache der Völker hat niemals Zinsen begehrt! Man kann ungestört träumen auf dieser Brücke. Sie ist nur für Fußgänger, und sooft einer darüberging, zitterte die ganze Brücke unter mir, und mir zitterte das Herz in der Brust. Hier, hier an dieser Stelle, wo ich saß, fiel in den Julitagen ein edler Jüngling für die Freiheit. Noch ist kein Winter über sein Grab gegangen, noch hat kein Sturm die Asche seines Herzens abgekühlt. Die Königlichen hatten den Grève-Platz besetzt und schossen über den Fluß, die von jenseits andrängenden Studenten abzuhalten. Da trat ein Zögling der Polytechnischen Schule hervor und sprach: »Freunde, wir müssen die Brücke erstürmen. Folgt mir! Wenn ich falle, gedenket meiner. Ich heiße d'Arcole; es ist ein Name guter Vorbedeutung. Hinauf!« Er sprach's und fiel, von zehn Kugeln durchbohrt. Jetzt liest man in goldnen Buchstaben auf der Pforte, die sich über die Mitte der Brücke wölbt: Pont d'Arcole, und auf der andern Seite: le 28 Juillet 1830. Für Ossians Aberglauben hätte ich in dieser Stunde meine ganze Philosophie hingegeben. Wie hätte es mich getröstet, wie hätte ich mich versöhnt mit dem zürnenden Himmel, hätte ich glauben können: um stille Mitternacht schreitet der Geist des gefallenen Helden über die Kettenbrücke, setzt sich auf die eiserne Bank und schaut hinauf nach seinem goldnen Namen, der im Glanze des Mondes blinkt. Dann vernehmen die am Ufer wohnen ein leises seliges Jauchzen, süß wie sterbender Flötenton, und sagen: das ist d'Arcoles Freude.

Tugend, Entsagung, Aufopferung – ich habe dort viel darüber nachgedacht. Soll man oder soll man nicht? Der Ruhm; er ist ein schöner Wahnsinn, aber doch ein Wahnsinn aller. Was heißt Wahnsinn? Die Vernunft des einzelnen. Was nennt ihr Wahrheit? Die Täuschung, die Jahrhunderte alt geworden. Was Täuschung? Die Wahrheit, die nur eine Minute gelebt. Ist es aber die letzte Minute unsres Lebens, folgt ihr keine andere nach, die uns enttäuscht, dann wird die Täuschung der Minute zur ewigen Wahrheit. Ja, das ist's. O schöner Tod des Helden, der für einen Glauben stirbt! Alles für nichts gewonnen. Die Zukunft zur Gegenwart machen, die kein Gott uns rauben kann; sich sicherzustellen vor allen Täuschungen; unverfälschtes, ungewässertes Glück genießen; die Freuden und Hoffnungen eines ganzen Lebens in einen, einen Feuertropfen bringen, ihn kosten und dann sterben – ich habe es ausgerechnet bis auf den kleinsten Bruch – es ist Verstand darin! Ich ging auf der andern Seite zurück. Dort fragte mich ein Bürger, der das Gedränge auf dem Grève-Platz bemerkte: Est-ce que l'on guillotine? Ich anwortete: Au contraire, on déguillotine. »Wird guillotiniert?« Ist das nicht köstlich gefragt? Ich glaube, daß ich darüber gelacht.


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