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In der Grube unten heulten die unglücklichen Verlassenen in ihrem Entsetzen. Das Wasser reichte ihnen jetzt bis zu dem Leibe. Das Rauschen des unterirdischen Stromes betäubte sie; bei dem Absturze der letzten Reste der Verzimmerung glaubten sie, die Welt sei aus den Fugen gegangen. Was ihnen vollends den Verstand raubte, war das Gewieher der im Stalle eingeschlossenen Pferde: der furchtbare, unvergeßliche Todesschrei von Tieren, die hingemordet werden.
Mouque hatte Bataille frei gelassen; das alte Pferd war da und sah zitternd, mit weit offenen, starren Augen das Wasser immer höher steigen. Der Aufzugsraum füllte sich sehr rasch; in dem rötlichen Lichte der drei Lampen, die noch an der Decke hingen, sah man die grünliche Flut immer mehr anwachsen. Als das Tier fühlte, wie das eiskalte Wasser ihm die Haut durchnäßte, rannte es plötzlich davon und verlor sich in einer der Abfuhrgalerien.
Die Flucht wurde allgemein; die Männer folgten dem Tiere.
»Hier ist nichts mehr zu machen!« rief Mouque. »Man muß sich nach dem Réquillartschachte wenden.«
Der Gedanke, daß sie sich durch die benachbarte, alte Grube retten könnten, wenn sie dort ankämen, bevor ihnen der Weg abgeschnitten würde, riß alle fort. Die zwanzig Arbeiter drängten sich, in eine Kette aufgelöst, die Lampen hoch, damit das Wasser sie nicht auslösche. Glücklicherweise stieg die Galerie sanft an; sie konnten zweihundert Meter zurücklegen, immer mit dem Wasser kämpfend, ohne daß die Flut weitere Fortschritte machte. Alter Aberglaube erwachte in diesen verstörten Seelen; sie beschworen die Erde, denn die Erde rächte sich und ließ das Blut ihrer Adern ausströmen, weil man ihr eine Schlagader durchschnitten hatte. Ein Alter stammelte längst vergessene Gebete und bog dabei die Daumen nach außen, um die bösen Berggeister zu besänftigen.
Doch bei der ersten Wegkreuzung brach ein Zwist los. Der Stallwärter wollte links gehen, andere versicherten, daß man den Weg abkürze, wenn man rechts gehe. So verlor man eine Minute.
»Was geht's mich an, wenn ihr die Knochen laßt?« rief Chaval. »Ich gehe nach dieser Richtung.«
Er wandte sich rechts und zwei Kameraden folgten ihm. Die anderen liefen weiter hinter Mouque, der in der Réquillartgrube aufgewachsen war. Allein auch er schwankte und wußte nicht, wohin er sich wenden solle. Die Köpfe wurden irre; die Alten erkannten nicht mehr die Gänge, deren Netz sich in ihrem Gedächtnisse verwirrt hatte. Bei jeder Abzweigung blieben sie stehen, unsicher, nach welcher Richtung sie sich wenden sollten. Dennoch mußten sie sich entscheiden.
Etienne lief als letzter, durch Katharina zurückgehalten, der die Ermüdung und die Angst alle Kräfte genommen hatten. Er wäre mit Chaval nach rechts geflohen, weil er glaubte, dies sei der richtige Weg; aber er hatte ihn laufen lassen, auf die Gefahr hin, in der Grube zu bleiben. Übrigens dauerte die Auflösung der Schar fort; wieder waren einige abgefallen, und es blieben nur mehr sieben Leute bei dem alten Mouque.
»Hänge dich an meinen Hals, ich werde dich tragen«, sagte Etienne dem Mädchen, als er sah, daß es nicht weiter konnte.
»Nein, laß mich«, flüsterte sie. »Ich vermag nicht zu folgen und will lieber gleich sterben.«
Sie waren stehengeblieben und demzufolge etwa fünfzig Meter hinter den anderen zurück. Er hob sie trotz ihres Widerstandes empor, als die Galerie plötzlich verrammelt wurde; ein ungeheurer Block war niedergestürzt und trennte sie von den anderen. Die Überschwemmung lockerte bereits die Felsen; auf allen Seiten erfolgten Einstürze. Sie mußten umkehren. Dann wußten sie nicht mehr, nach welcher Richtung sie sich wenden sollten. Es war aus; sie mußten den Gedanken aufgeben, durch den Réquillartschacht aufzusteigen. Ihre einzige Hoffnung war, die höher gelegenen Schläge zu erreichen, wo man sie vielleicht nach dem Sinken des Wassers befreien würde.
Etienne erkannte endlich die Wilhelmader.
»Jetzt weiß ich, wo wir sind«, sagte er. »Wir waren auf dem richtigen Wege, aber jetzt ist's vorbei!... Laß uns geradeaus gehen; wir werden durch den Kamin hinaufklettern.«
Das Wasser reichte ihnen bis an die Brust; sie kamen sehr langsam vorwärts. Solange sie Licht hatten, wollten sie nicht verzagen; sie löschten eine Lampe aus, um das Öl zu sparen und im Bedarfsfalle die andere nachzufüllen. Sie hatten eben den Kamin erreicht, als ein Geräusch, das hinter ihnen entstand, sie den Kopf zu wenden veranlaßte. Kamen etwa die Kameraden zurück, weil ihnen gleichfalls der Weg verrammelt worden? Ein Fauchen wurde immer mehr vernehmbar; sie konnten sich den Sturm nicht erklären, der das schäumende Wasser peitschend immer näher kam. Entsetzt schrien sie auf, als sie eine weißgraue, riesige Masse aus dem Dunkel auftauchen sahen, die zwischen den engen Verholzungen mühsam vordrang, um sie zu erreichen.
Es war Bataille. Den Aufzugsraum verlassend, war das Pferd wie rasend durch die finsteren Galerien gerannt. Es schien seinen Weg zu kennen in dieser unterirdischen Stadt, die es seit elf Jahren bewohnte; seine Augen sahen klar in der ewigen Nacht, in der es lebte. Es rannte und rannte mit gesenktem Kopfe und eingezogenen Füßen durch die engen Gänge, die sein großer Körper ausfüllte. Es folgte Weg auf Weg, Kreuzung auf Kreuzung: für das Pferd gab es keinen Aufenthalt. Wohin stürmte es? Weithin vielleicht, nach der Vision seiner Jugend, nach der Mühle, wo es zur Welt gekommen, am Ufer der Skarpe; nach der unklaren Erinnerung an die Sonne, die wie eine ungeheure Lampe in der Luft brannte. Es wollte leben; sein tierisches Erinnerungsvermögen erwachte; das Verlangen, die frische Luft der Ebenen einzuatmen, trieb es immer geradeaus fort, bis es das Loch entdeckte, den Ausgang unter dem warmen Himmel nach dem Lichte. In seiner Verzweiflung schwand die lange Ergebung; diese Grube tötete es, nachdem sie es geblendet hatte. Das Wasser, das es verfolgte, reichte ihm bis zu den Schenkeln, bis zum Hinterteil. Doch in dem Maße, als es tiefer in die Galerien eindrang, wurden diese enger; die Wölbung senkte sich, die Mauern legten sich vor. Das Pferd aber rannte weiter, zerschund sich an den Wänden, ließ Fetzen seiner Glieder an der Verzimmerung hängen. Es war, als verenge sich die Grube von allen Seiten, um das Tier zu fangen und zu ersticken.
Etienne und Katharina sahen es auf sich zukommen und zwischen den Felswänden sich verfangen. Es war gestrauchelt und hatte im Sturze die beiden Vorderbeine gebrochen. Mit einer letzten Anstrengung schleppte es sich noch einige Meter weit; doch seine Lenden waren kraftlos; es war von der Erde umfangen, erwürgt. Es streckte den Kopf aus und suchte mit den großen, brechenden Augen noch einen Spalt. Das Wasser bedeckte es rasch; es begann zu wiehern; und dann folgte dasselbe anhaltende, furchtbare Röcheln, mit dem die anderen Pferde schon im Stalle verendet waren. Es war ein schrecklicher Todeskampf, in dem das alte, zerschlagene, unbewegliche Tier in dieser Tiefe, fern vom Tageslichte sich wand. Sein Notschrei wollte kein Ende nehmen; die Flut benetzte schon seine Mähne, als das Todesröcheln noch rauher aus dem weit offenen Rachen kam. Es gab ein letztes Glucksen, wie wenn eine Tonne sich füllt; dann ward alles still.
»Oh, mein Gott! Führe mich hinweg«, schluchzte Katharina. »Oh, mein Gott! Ich habe Furcht. Ich will nicht sterben... Führe mich hinweg! Führe mich hinweg!«
Sie hatte den Tod gesehen. Weder der Einsturz des Schachtes noch die Überschwemmung der Grube hatte ein solches Entsetzen in ihr hervorgerufen als der Todeskampf des Pferdes Bataille. Sie hörte noch immer seinen Schrei; er gellte ihr in den Ohren, ihr ganzer Leib zitterte.
»Führe mich hinweg! Führe mich hinweg!«
Etienne packte sie und trug sie hinweg. Es war übrigens Zeit; das Wasser reichte ihnen bis zu den Schultern, als sie in dem Kamin emporkletterten. Er mußte ihr dabei helfen, denn sie hatte nicht mehr die Kraft, sich an den Hölzern festzuhalten. Dreimal war sie nahe daran, ihm zu entgleiten und in die tiefe Flut zurückzufallen, die hinter ihnen grollte. Sie konnten einige Augenblicke ausruhen, als sie den ersten Gang erreichten; derselbe war noch frei vom Wasser. Es erschien aber bald, und sie mußten höher klettern. Der Aufstieg währte stundenlang; das steigende Wasser jagte sie von Gang zu Gang, nötigte sie immer höher hinaufzuklettern. In der sechsten Galerie trat wieder ein Stillstand ein, der sie mit neuer Hoffnung erfüllte; es schien ihnen, als bleibe die Wasserhöhe unverändert. Doch bald trat ein stärkeres Steigen ein; sie mußten in die siebente, dann in die achte Galerie emporklettern. Es blieb ihnen nur noch eine einzige und als sie dieselbe erreicht hatten, sahen sie mit Schrecken, wie das Wasser um jeden Zentimeter zunahm. Wenn es nicht stillstand, mußten sie da sterben wie das alte Roß, an die Decke gedrückt, die Kehle vom Wasser erfüllt.
Jeden Augenblick erfolgten Einstürze, deren hallendes Geräusch sie hörten. Die ganze Mine war erschüttert; ihr Inneres war zu schwach und sank in Trümmer unter dem Druck des Meeres, das sie ersäufte. Am Ende der Galerien sammelte sich die zurückgedrängte Luft, verdichtete sich und entlud sich in furchtbaren Explosionen zwischen den geborstenen Felsen und eingestürzten Erdreichen. Es war das entsetzliche Getöse der inneren Zusammenbrüche, im Kleinen eine Wiederholung des Kampfes, der in vorgeschichtlicher Zeit sich abspielte, als die Meere das Festland überfluteten und ganze Gebirge unter Ebenen begruben.
Erschüttert und betäubt von diesem ewigen Getöse faltete Katharina die Hände und stammelte unaufhörlich dieselben Worte:
»Ich will nicht sterben... Ich will nicht sterben...«
Um sie zu beruhigen, versicherte Etienne, daß das Wasser sich nicht mehr rühre. Ihre Flucht währte schon sechs Stunden; man werde ihnen sicherlich bald zu Hilfe kommen. Er sagte sechs Stunden, ohne es genau zu wissen, denn es entging ihnen die Kenntnis der Zeit. In Wirklichkeit hatte ihr Aufstieg in der Wilhelmader einen ganzen Tag gedauert.
Durchnäßt und fröstelnd richteten sie sich ein. Sie entkleidete sich ohne Scham, um ihre Kleider auszuwinden; dann legte sie die Hose und den Kittel wieder an, um sie an ihrem Leibe trocknen zu lassen. Da sie barfüßig war, zwang er sie, seine Holzschuhe zu nehmen. Sie konnten jetzt geduldiger warten; sie hatten den Docht ihrer Lampe niedriger gestellt, daß sie nur das schwache Licht eines Nachtlämpchens gab. Doch beiden ward der Magen von Krämpfen gequält und jetzt erst wurden sie ihres großen Hungers gewahr; bis jetzt waren sie sich kaum ihres Lebens bewußt. Im Augenblick der Katastrophe hatten sie noch nicht gefrühstückt, und sie fanden jetzt ihre Brotschnitten von Wasser durchweicht, in eine Suppe verwandelt. Sie mußte böse werden, bis er einwilligte, seinen Teil davon zu nehmen. Als sie gegessen hatte, schlief sie vor Ermüdung sofort auf der kalten Erde ein. Er fand in seiner fieberhaften Erregung keinen Schlaf und wachte bei ihr, den Kopf auf die Hände gestützt, mit stieren Augen.
Wieviele Stunden so verflossen: er hätte es nicht zu sagen vermocht. Was er wußte, war, daß vor ihm – durch den Kamin aufsteigend – die schwarze, bewegliche Flut wieder erschien, das Tier, dessen Rücken unaufhörlich anschwoll, um sie zu erreichen. Anfänglich war es nur eine dünne Linie, eine geschmeidige Schlange, die sich ausdehnte; dann breitete das Ding sich aus zu einem gärenden, kriechenden Rücken, und bald waren sie eingeholt, die Füße des schlafenden Mädchens waren schon vom Wasser durchnäßt. Von Angst ergriffen zögerte er sie zu wecken. Wäre es nicht grausam, sie in ihrer Ruhe zu stören, in ihrem tiefen Schlafe, der sie vielleicht in einen Traum von Sonne und frischer Luft wiegte? Wo hätten sie auch einen Ausweg gefunden? Er sann nach und erinnerte sich, daß die in diesem Teile der Wilhelmsader angelegte schiefe Ebene am äußersten Ende eine Verbindung habe mit der schiefen Ebene, die für den Dienst des oberen Aufzugsraumes angelegt war. Dies war ein Ausgang. Er ließ sie noch so lange schlafen, bis die Flut, deren Steigen er unablässig beobachtete, sie auch von da verjagte. Endlich hob er sie sanft auf und sie fuhr in einem heftigen Frösteln zusammen.
»Ach, mein Gott, es ist wahr!... Es beginnt wieder...«
Sie erinnerte sich und schrie auf, als sie sich wieder so nahe dem Tode sah.
»Nein, beruhige dich«, murmelte er. »Man kann hindurchkommen, ich schwöre es dir.«
Um zu der schiefen Ebene zu gelangen, mußten sie gebeugt, bis zu den Schultern im Wasser gehen. Der Aufstieg begann von neuem und war jetzt gefährlicher durch diesen ganz verzimmerten Schlund von hundert Metern Länge. Anfänglich wollten sie das Seil herunterziehen, um unten den einen der Karren festzubinden; denn wenn der andere während ihres Emporklimmens niederführe, mußte er sie zermalmen. Aber es rührte sich nichts; irgendein Hindernis lähmte den Mechanismus. Sie wagten sich hinauf, ohne sich des Seiles zu bedienen, das ihnen hinderlich war und zerrissen sich die Nägel an den glatten Balken. Er kletterte hinter ihr und hielt sie mit dem Schädel fest, wenn ihre blutenden, zerschundenen Hände abglitten. Plötzlich stießen sie an Balkensplitter, welche die schiefe Bahn verrammelten. Erde war abgerutscht; ein Einsturz hinderte sie, höher hinaufzudringen. Glücklicherweise war da eine Tür, die in einen Gang führte.
Zu ihrer grenzenlosen Verwirrung erblickten sie vor sich ein Lampenlicht. Ein Mann rief ihnen wütend zu:
»Gibt es noch mehr solche Dummköpfe wie ich?«
Sie erkannten Chaval; er war durch den Einsturz blockiert, welcher die schiefe Ebene verrammelte; die zwei Kameraden, die mit ihm aufgebrochen, waren mit gespaltenem Schädel unterwegs geblieben. Er selbst war am Ellbogen verletzt worden und hatte den Mut gehabt, auf allen Vieren kriechend zurückzukehren, um ihre Lampen zu nehmen und ihre Brotschnitten zu stehlen. Als er dann flüchtete, verlegte ein letzter Einsturz hinter ihm die Galerie.
Er weigerte sich sogleich, seine Vorräte mit den Leuten zu teilen, die da aus der Erde hervorkamen. Er hätte sie umbringen mögen. Dann erkannte auch er sie, sein Zorn schwand, und er brach in ein boshaftes Gelächter aus.
»Ach, bist du's, Katharina? Du bist übel angekommen und kehrst zu deinem Mann zurück, wie? Gut, gut, wir wollen zusammen Hochzeit halten.«
Er tat, als sehe er Etienne nicht. Dieser war bestürzt wegen des Zusammentreffens und hatte eine Bewegung gemacht, wie um Katharina zu schützen, die sich an ihn schmiegte. Indes mußte er sich in die Lage finden. Er fragte einfach den Kameraden, als seien sie vor einer Stunde in bester Freundschaft geschieden:
»Hast du dich unten umgesehen? Kann man nicht durch die Schläge hindurchkommen?«
Chaval antwortete noch immer in seinem höhnischen Tone:
»Ach, die Schläge! Die sind sämtlich eingestürzt; wir befinden uns zwischen zwei Mauern, in einer wahren Mäusefalle... Aber du kannst über die schiefe Ebene zurückkehren, wenn du ein guter Taucher bist.«
In der Tat stieg das Wasser, man hörte das Geplätscher. Der Rückweg war schon abgeschnitten. Er hatte recht, es war eine Mäusefalle, ein Stück Galerie, vorn und hinten durch bedeutende Einstürze verrammelt. Kein Ausgang, die drei waren eingemauert.
»Du bleibst also da?« fuhr Chaval höhnisch fort. »Es ist das beste, was du tun kannst, und wenn du mich in Ruhe läßt, will ich nicht ein Wort mit dir reden. Es ist noch Platz für zwei Menschen da ... Wir werden sehen, wer zuerst hin wird. Es sei denn, daß man kommt, uns zu retten, und das scheint mir schwer möglich.«
»Wenn wir an die Wand pochten, würde man uns vielleicht hören«, hub Etienne wieder an.
»Ich bin des Pochens schon überdrüssig ... Da, versuche es selbst mit diesem Stein.«
Etienne hob das Stück Sandstein auf, welches der andere schon zum Teil zerbröckelt hatte, und schlug damit an die Wand im Hintergrunde den Anruf der Bergleute, das anhaltende Trommeln, womit die in Not geratenen Bergleute ihre Anwesenheit bekanntgeben. Darin drückte er ein Ohr an die Wand, um zu horchen. Diesen Vorgang wiederholte er zwanzigmal, doch von außen kam kein Geräusch zur Antwort.
Inzwischen richtete sich Chaval mit erheuchelter Ruhe häuslich ein. Zunächst stellte er seine drei Lampen an die Wand hin; nur eine brannte, die anderen sollten später an die Reihe kommen. Dann legte er auf einen Balken der Verholzung die zwei Brotschnitten, die er noch besaß. Das war sein Speiseschrank; bei kluger Wirtschaft werde er mit diesem Vorrat zwei Tage das Auslangen finden. Zu Katharina gewendet sagte er:
»Die Hälfte ist für dich, wenn du gar zu hungrig wirst.«
Das Mädchen schwieg. Um das Maß ihres Unglücks vollzumachen, mußte sie sich zwischen diesen beiden Männern befinden.
Jetzt begann das furchtbare Leben. Chaval und Etienne saßen einige Schritte voneinander entfernt auf dem Boden; keiner von beiden öffnete den Mund. Auf eine Bemerkung des ersteren löschte letzterer seine Lampe aus, damit kein Licht verschwendet werde. Dann trat wieder Stille ein. Beunruhigt durch die Blicke, die ihr ehemaliger Galan ihr zuwarf, hatte Katharina sich in der Nähe des jungen Mannes ausgestreckt. Die Stunden gingen dahin; man hörte das leise Plätschern des unaufhörlich steigenden Wassers, während von Zeit zu Zeit dumpfe Stöße, von fernher kommendes Getöse die letzten Einstürze der Grube kündeten. Als die Lampe ausgebrannt war und man eine andere öffnen mußte, um sie anzuzünden, wurden sie von der Angst vor schlagenden Wettern erfaßt; allein sie wollten lieber gleich in die Luft fliegen, als in der Finsternis bleiben. Es gab indes keine Explosion, sie flogen nicht in die Luft. Sie hatten sich wieder auf der Erde ausgestreckt, und wieder verrann Stunde um Stunde.
Etienne und Katharina hoben den Kopf, als sie zu ihrer Überraschung ein Geräusch vernahmen. Chaval hatte sich entschlossen zu essen; er hatte die Hälfte einer Brotschnitte genommen und kaute seine Bissen lange, um nicht versucht zu werden, alles auf einmal zu verschlingen. Die zwei anderen waren vom Hunger gefoltert und sahen ihm zu, wie er aß.
»Ist's wirklich wahr, du weisest deinen Anteil zurück?« sagte er zu der Schlepperin mit seiner herausfordernden Stimme. »Du tust unrecht.«
Sie hatte die Augen gesenkt, weil sie fürchtete, daß sie der Versuchung nachgeben könne. Ihr Magen wurde von solchen Krämpfen durchwühlt, daß ihr die hellen Tränen aus den Augen rannen. Aber sie begriff, was er wollte. Schon am Morgen hatte er ihr auf den Hals geblasen; als er sie an der Seite des ändern sah, ward er von seiner ehemaligen Gier wieder ergriffen. In den Blicken, mit denen er sie rief, loderte eine Flamme, die ihr wohlbekannt war, die Flamme seiner Eifersuchtsanfälle, in denen er sie mit Faustschlägen bearbeitete und beschuldigte, daß sie mit dem Mieter ihrer Mutter Scheußlichkeiten treibe. Sie wollte nicht; sie zitterte, durch ihre Rückkehr zu ihm die beiden Männer in tödlichem Hasse gegeneinander zu jagen in diesem engen Kellerloche, wo sie ohnehin dem Tode geweiht waren. Mein Gott! Konnte man denn nicht in Freundschaft aus dem Leben scheiden?
Etienne wäre lieber Hungers gestorben, ehe er Chaval um einen Bissen Brot angegangen wäre. Eine dumpfe Stille war wieder eingetreten; die Zeit verlängerte sich zu einer Ewigkeit; Minute reihte sich an Minute, eintönig und hoffnungslos. Ein Tag war vergangen, seitdem sie zusammen eingeschlossen waren. Die zweite Lampe erbleichte, sie zündeten die dritte an.
Chaval griff seine zweite Brotschnitte an und brummte:
»So komm' doch, Dummkopf!«
Katharina fuhr zusammen. Etienne wandte sich ab, um ihr ihre Freiheit zu lassen. Als sie sich noch immer nicht rührte, sagte er leise:
»Geh' hin, mein Kind!«
Da stürzten die Tränen hervor, die sie schier erstickten. Sie weinte lange und fand nicht die Kraft, sich zu erheben; sie wußte nicht mehr, ob sie Hunger habe, und litt unter einem Schmerze, der ihren ganzen Körper ergriffen hatte. Etienne hatte sich erhoben, ging hin und her und schlug den Anruf der Bergleute, wütend darüber, daß er diesen Rest des Lebens hier Seite an Seite mit dem verhaßten Nebenbuhler zuzubringen genötigt war. Nicht einmal soviel Platz, um fern voneinander zu verrecken. Wenn er zehn Schritte gemacht hatte, mußte er umkehren und an diesen Menschen stoßen. Und sie, das traurige Mädchen, um das sie noch unter der Erde stritten: sie werde dem letzten Lebenden gehören; dieser Mensch werde sie ihm wieder stehlen, wenn er zuerst von hinnen gehen sollte. Es wollte kein Ende nehmen; Stunden folgten auf Stunden; das Zusammenleben wurde immer unerträglicher in diesem engen Raume, der vergiftet wurde durch den zusammenströmenden Atem und durch die in Gemeinschaft befriedigte Notdurft. Zweimal rannte Etienne gegen die Felsen, als wolle er sich mit Faustschlägen einen Weg durch sie bahnen.
Wieder ging ein Tag zu Ende. Chaval hatte sich zu Katharina gesetzt und mit ihr die letzte halbe Brotschnitte geteilt. Sie kaute mühselig die Bissen, und er machte sich für jeden mit einer Liebkosung bezahlt in seinem Eigensinn eines Eifersüchtigen, der nicht sterben wollte, ohne sie in Gegenwart des andern noch einmal besessen zu haben. Erschöpft ließ sie ihn gewähren; doch als er sie ergreifen wollte, klagte sie.
»Ach, laß mich, du zerbrichst mir die Knochen.«
Etienne zitterte am ganzen Leibe; er hatte die Stirne an die Hölzer gedrückt, um nicht zu sehen. Doch jetzt verließ ihn seine Ruhe und mit einem Satze kam er zurück.
»Laß sie los!« schrie er.
»Was geht es dich an?« entgegnete Chaval. »Sie ist mein Weib; sie wird doch wohl mir gehören!«
Er ergriff sie wieder und drückte sie an sich aus reiner Prahlerei; und während er seinen roten Schnurrbart auf ihren Mund preßte, fuhr er fort:
»Laß uns in Frieden und tue uns den Gefallen wegzuschauen, wenn wir dabei sind.«
Doch Etienne rief mit wutbleichen Lippen:
»Laß sie los, oder ich erwürge dich!«
Hastig erhob sich der andere; er hatte an dem Zischen der Stimme des Kameraden erkannt, daß dieser ein Ende machen wolle. Der Tod schien ihnen zu langsam zu kommen; sogleich mußte der eine dem andern Platz machen. Die alte Fehde brach wieder los hier unter der Erde, wo sie alsbald Seite an Seite schlafen sollten; sie hatten so wenig Raum, daß sie die Fäuste nicht ausstrecken konnten, ohne die Haut abzuschürfen.
»Nimm dich in acht!« brummte Chaval. »Diesmal fresse ich dich!«
Etienne ward in diesem Augenblicke toll. Ein roter Nebel trübte seine Augen; ein Blutstrom stieg ihm in die Kehle und drohte ihn zu ersticken. Das Bedürfnis zu töten erfaßte ihn unwiderstehlich, ein körperliches Bedürfnis, gleich dem Reiz der Schleimhaut, der einen Hustenanfall hervorruft. Er brach gegen seinen Willen hervor unter dem mächtigen Drang des Erbübels, ergriff einen aus der Wand hervorragenden Schieferblock, lockerte ihn und riß ihn heraus; es war ein breites, schweres Stück. Er packte es mit verzehnfachter Kraft und fuhr damit auf Chavals Schädel nieder.
Dieser hatte nicht mehr Zeit gehabt zurückzuspringen; mit gespaltenem Schädel und zermalmtem Gesichte sank er zu Boden. Das Gehirn war zur Decke der Galerie emporgespritzt; ein roter Strahl schoß aus der entsetzlichen Wunde, gleich dem unaufhörlichen Strahl einer Quelle. Sogleich entstand eine Blutlache, in der das rauchige Licht der Lampe sich widerspiegelte. Schatten lagerte auf dieser gemauerten Höhle; die Leiche am Boden glich dem schwarzen Höcker eines Haufens von Kohlenabfällen.
Etienne beugte sich hernieder und betrachtete mit weit geöffneten Augen den Erschlagenen. So war es denn geschehen: er hatte getötet. Die verworrene Erinnerung an alle seine Kämpfe stieg in ihm auf; der unnütze Widerstand gegen das in seinen Muskeln schlummernde Gift, gegen den von seinem ganzen Geschlecht langsam angesammelten Alkohol. Und doch war er nur vom Hunger berauscht; die ferne Trunkenheit der Eltern hatte genügt. Seine Haare sträubten sich vor der Abscheulichkeit dieses Mordes; trotzdem seine bessere Erziehung sich dagegen auflehnte, schlug sein Herz stürmischer in der tierischen Freude, endlich seine Gier befriedigt zu haben. Dann stieg der Stolz des Stärkeren in ihm auf. Der kleine Soldat tauchte vor ihm auf, dessen Hals vom Messer eines Knaben durchbohrt war. Jetzt hatte auch er getötet.
Katharina, die neben ihm stand, stieß einen Schrei aus.
»Mein Gott, er ist tot!«
»Bedauerst Du ihn?« fragte Etienne wild.
Sie erstickte fast und brachte kein Wort hervor; dann wankte sie und warf sich ihm in die Arme.
»Ach, töte auch mich! Laß uns beide sterben!«
Sie umschlang ihn, hängte sich an seine Schultern, und auch er preßte sie an sich, und sie hofften so zu sterben. Doch der Tod hatte keine Eile; ihre Arme lösten sich wieder. Dann – während sie die Hände vor die Augen legte – schleppte er den Erbärmlichen fort und warf ihn in die schiefe Ebene hinab, um ihn aus dem engen Raum zu entfernen, wo sie noch leben mußten. Mit dieser Leiche unter den Füßen wäre das Leben unmöglich gewesen. Sie entsetzten sich von neuem, als sie ihn ins Wasser fallen hörten, daß der Gischt hoch aufspritzte. Das Wasser hatte also auch dieses Loch schon angefüllt; sie sahen es; es erreichte schon die Galerie.
Ein neuer Kampf begann. Sie hatten die letzte Lampe angezündet, und diese verzehrte sich, das Wasser beleuchtend, das unaufhaltsam höher stieg. Zuerst reichte es ihnen bis zu den Knöcheln, dann bespülte es ihr Knie. Der Gang war abschlüssig angelegt; sie flüchteten in den Hintergrund, und dies gewährte ihnen eine Ruhe von einigen Stunden. Allein die Flut erreichte sie wieder; sie standen bis zum Gürtel im Wasser. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt betrachteten sie das unablässige Steigen des Wassers. Wenn es ihren Mund erreichte, war es aus. Die Lampe, die sie aufgehängt hatten, warf ein fahles, gelbes Licht auf die sich kräuselnde Wasserfläche; das Licht ward immer blasser; sie sahen bald nur einen Halbkreis, der immer kleiner ward, gleichsam verzehrt von dem Schatten, der mit der Flut zu wachsen schien. Plötzlich waren sie in Dunkel gehüllt, die Lampe war erloschen, nachdem sie den letzten Tropfen Öl aufgesogen hatte. Es war vollständige Nacht; die Nacht der Erde, wo sie schlafen würden, ohne jemals die Augen im Sonnenlichte wieder zu erschließen.
»Donner Gottes!« fluchte Etienne.
Katharina suchte Schutz an seinem Körper, als habe sie die Finsternis sie umfangen fühlen. Mit leiser Stimme flüsterte sie das Wort der Bergleute:
»Der Tod löscht die Lampe aus.«
Doch angesichts dieser Drohung erwachte ihr Lebenstrieb von neuem. Etienne begann mit dem Haken der Lampe heftig die Wand zu bearbeiten, um sie auszuhöhlen, und sie half ihm bei dieser Arbeit mit ihren Fingernägeln. In dieser Weise stellten sie eine Art erhöhter Bank her, und als beide diese erklettert hatten, saßen sie daselbst mit hängenden Beinen und gebeugten Rücken, denn die Wölbung zwang sie den Kopf zu neigen. Das Wasser benetzte jetzt nur ihre Sohlen; aber bald fühlten sie seine eisige Kälte an den Knöcheln, an den Waden, an den Knien in unbesieglicher und unablässiger Bewegung. Die unebene Bank bedeckte sich mit einer dermaßen glitschigen Nässe, daß sie sich fest anklammern mußten, um nicht hinabzugleiten. Es war das Ende; wie lange würden sie aushalten können in dieser Nische, die ihr letzter Zufluchtsort war und wo sie nicht eine Bewegung zu machen wagten, erschöpft, ausgehungert, ohne Brot und ohne Licht? Sie litten hauptsächlich durch die Finsternis, die sie hinderte, den Tod kommen zu sehen. Es herrschte eine tiefe Stille; in der ersäuften Grube regte sich nichts mehr. Sie fühlten jetzt unter ihren Füßen nichts mehr als dieses Meer, dessen stumme Flut aus den Tiefen der Galerien unablässig genährt wurde.
Es folgten Stunden auf Stunden in gleichmäßiger Düsterheit, ohne daß sie imstande gewesen wären, ihre Dauer zu ermessen, weil sie in der Berechnung der Zeit immer mehr irre wurden. Ihre Qualen ließen ihnen die Minuten rasch dahinschwinden, anstatt sie ihnen zu verlängern. Sie glaubten erst seit zwei Tagen und einer Nacht eingeschlossen zu sein, während in Wirklichkeit schon der dritte Tag zu Ende ging. Alle Hoffnung auf Hilfe war geschwunden; niemand wußte, daß sie da seien; niemand hatte die Macht hierher zu gelangen; wenn die Überschwemmung sie nicht verschlang, mußten sie vor Hunger umkommen. Ein letztes Mal waren sie auf den Einfall gekommen, den Anruf zu pochen; allein das Stück Sandstein war unten geblieben. Wer würde sie übrigens hören?
Katharina hatte ihr schmerzendes Haupt mutlos an die Wand gelehnt, als sie plötzlich erbebte und sich aufrichtete.
»Horch!« sagte sie.
Zuerst glaubte Etienne, sie spreche von dem leisen Geräusch der steigenden Flut. Er log, um sie zu beruhigen.
»Mich hörst du; ich bewege die Beine.«
»Nein, nein, nicht das... Da unten, horch!«
Und sie drückte das Ohr an die Kohlenwand. Er begriff und tat wie sie. Beklommenen Herzens harrten sie einige Sekunden. Dann hörten sie aus weiter Ferne drei Schläge, sehr leise und in großen Zwischenräumen. Aber sie zweifelten noch; ihre Ohren klangen; es war vielleicht ein Krachen in der Schicht. Sie wußten nicht, womit sie pochen sollten, um zu antworten.
Etienne hatte einen Einfall.
»Du hast deine Holzschuhe; hebe die Füße und poche mit den Absätzen.«
Sie pochte, schlug den Anruf der Bergleute; und sie horchten und unterschieden abermals drei Schläge aus der Ferne. Zwanzigmal begannen sie von neuem, und zwanzigmal kam die Antwort. Sie weinten vor Ergriffenheit und umarmten sich, auf die Gefahr hin, das Gleichgewicht zu verlieren. Endlich waren die Kameraden da; endlich kamen sie. In dem Überströmen ihrer Freude und ihrer Liebe schwanden die Qualen des Harrens, die Wut über die lange vergebens wiederholten Anrufe, als ob die Retter mit dem Finger hatten den Felsen spalten können, um sie zu befreien.
»Ist es nicht ein Glück, daß ich den Kopf an die Wand gelehnt habe?« rief sie fröhlich aus.
»Du hast ein feines Ohr!« antwortete er. »Ich habe nichts gehört.«
Von diesem Augenblicke an lösten sie einander ab; immer horchte einer, bereit auf das leiseste Signal zu antworten. Bald hörten sie die mit der Spitzhacke geführten Hiebe; man begann die Rettungsarbeiten, eine Galerie wurde angelegt. Nicht das geringste Geräusch entging ihnen. Doch bald sank ihre Freude. Vergebens lachten sie, um sich gegenseitig über ihre Stimmung zu täuschen; die Verzweiflung bemächtigte sich bald ihrer wieder. Anfänglich ergingen sie sich in weitläufigen Erklärungen: man nähere sich ihnen augenscheinlich durch die Réquillartgrube; die Galerie senke sich durch die Schicht herab; vielleicht lege man mehrere an; denn es seien drei Männer bei der Durchschlagsarbeit. Dann redeten sie weniger, und schließlich schwiegen sie ganz, wenn sie die ungeheure Masse berechneten, die sie von den Kameraden trennte. In der Stille spannen sie ihre Gedanken fort; sie berechneten, wie viele Tage und Nächte ein Arbeiter brauche, um einen solchen Block durchzuschlagen. Man werde sie nicht früh genug erreichen; sie würden bis dahin zwanzigmal gestorben sein. In düsterer Stimmung, ohne in ihrer erhöhten Angst ein Wort auszutauschen, antworteten sie auf die Anrufe mit einem anhaltenden Pochen der Holzschuhe ohne Hoffnung, nur in dem mechanischen Bedürfnis, jenen kundzugeben, daß sie noch lebten.
Es verging noch ein Tag und noch ein zweiter. Sie waren seit sechs Tagen in der Grube. Das Wasser, das ihnen bis zu den Knien reichte, stieg nicht mehr und sank auch nicht; ihre Beine schienen in dem eisigen Bade zu zerfließen. Auf eine Stunde konnten sie sie wohl herausziehen, aber ihre Lage ward dann so unbequem, daß sie von schrecklichen Krämpfen erfaßt wurden und die Beine wieder hängen lassen mußten. Alle zehn Minuten rückten sie auf den glitschigen Felsen hinauf. Die Kanten der Kohlenwand zerrissen ihnen den Rücken; sie fühlten im Nacken einen dauernden, heftigen Schmerz, weil sie immer gebeugt sitzen mußten, um sich den Schädel nicht einzurennen. Das Atmen wurde immer schwieriger; die von dem Wasser zurückgedrängte Luft verdichtete sich in dieser Art von Glocke, in der sie eingeschlossen waren. Ihre gedämpften Stimmen schienen von sehr weit her zu kommen. Ihre Ohren summten; es war, als hörten sie ein schrilles Sturmläuten, den Galopp einer Herde unter einem endlosen Hagelschauer.
Anfänglich litt Katharina furchtbar durch den Hunger. Sie fuhr mit den mageren, gekrümmten Händen nach der Kehle, aus der ein hohler, keuchender Atem hervorbrach, eine fortwährende, herzzerreißende Klage. Es war, als ob man ihr mit einer Zange den Magen aus dem Leibe reißen wolle. Etienne, der die nämlichen Qualen litt, tastete fieberhaft in der Finsternis, und als seine Finger auf ein morsches Stück der Verzimmerung stießen, zermalmte er dieses mit seinen Fingernägeln und gab davon eine Handvoll dem Mädchen, das den Holzstaub gierig verschlang. Zwei Tage lebten sie von diesem morschen Holze; sie verzehrten das ganze Stück und waren trostlos, als es zu Ende war; sie zerschunden sich die Hände, um ein anderes Stück Holz in Angriff zu nehmen; es gelang aber nicht, die anderen Hölzer waren noch fest, ihre Fasern gaben nicht nach. Ihre Marter ward immer größer; sie waren wütend, weil sie die Leinwand ihrer Kleidung nicht zerkauen konnten. Ein Ledergürtel, der seine Jacke zusammenhielt, brachte ihnen kurze Hilfe. Er zerlegte ihn mit den Zähnen in kleine Stückchen, und sie zermalmte und verschlang sie. Dies beschäftigte ihre Kinnladen; sie konnten wähnen, daß sie aßen. Als der Ledergürtel aufgezehrt war, machten sie sich wieder an die Leinwand, an der sie Stunden lang sogen.
Doch diese heftigen Anfälle legten sich bald; der Hunger war nur mehr ein tiefer, dumpfer Schmerz, das langsame, fortschreitende Ermatten ihrer Kräfte. Sie wären sicherlich ihren Leiden erlegen, wenn sie nicht Wasser gehabt hätten, soviel sie wollten. Sie brauchten sich nur zu bücken und konnten aus der hohlen Hand trinken. Dies taten sie auch unzählige Male, von einem solchen Durst gequält, daß all das Wasser nicht hingereicht hätte, ihn zu löschen.
Als Katharina am siebenten Tage sich bückte, um zu trinken, stieß ihre Hand an einen schwimmenden Körper. »Schau... was ist das?« sagte sie.
Etienne tastete in der Finsternis.
»Ich begreife nicht; es ist wie die Decke einer Lüftungstür.«
Sie trank; doch als sie ein zweites Mal schöpfen wollte, traf ihre Hand wieder den Körper, und sie stieß einen furchtbaren Schrei aus.
»Mein Gott, er ist's!«
»Wer denn?«
»Er, du weißt?... Ich habe seinen Schnurrbart gefühlte.«
Es war die Leiche Chavals, die aus der schiefen Ebene durch die Flut heraufgeschwemmt, bis zu ihnen gekommen war. Etienne streckte den Arm aus und fühlte auch seinerseits den Schnurrbart und die plattgeschlagene Nase. Ein Schauer des Ekels und der Furcht schüttelte ihn. Von einem fürchterlichen Abscheu ergriffen, spie Katharina das Wasser aus, das ihr im Munde geblieben. Es war ihr, als habe sie Blut getrunken, als sei jetzt all das tiefe Wasser vor ihr das Blut dieses Menschen.
»Wart',« stammelte Etienne; »ich will ihn wieder fortschicken.«
Mit einem Fußtritte stieß er die Leiche hinweg; doch bald fühlten sie sie wieder an ihren Beinen.
»So geh' doch zum Teufel!« rief Etienne.
Ein drittes Mal mußte er ihn herankommen lassen. Eine Strömung schwemmte den Leichnam immer wieder heran. Chaval wollte sich nicht entfernen; er wollte ganz nahe bei ihnen sein. Es war ein furchtbarer Genösse, der die Luft vollends verpestete. An diesem Tage tranken sie nicht; sie kämpften gegen den Durst und wollten lieber sterben; erst am folgenden Tage zwang sie die Qual; sie stießen bei jedem Schluck die Leiche weg und tranken. Es war nicht der Mühe wert, ihm den Schädel zu zerschlagen, wenn er in seiner hartnäckigen Eifersucht jetzt wiederkam. Bis ans Ende werde er da sein, selbst als Leiche, um sie zu hindern beisammen zu sein.
Noch ein Tag; und noch ein Tag. Bei jedem Kräuseln des Wassers empfing Etienne einen leichten Stoß des Mannes, den er getötet hatte; es war gleichsam die Berührung eines Nachbars mit dem Ellbogen zur Erinnerung, daß er da sei. Und jedesmal erbebte er. Unaufhörlich sah er ihn; aufgedunsen, grün, mit dem roten Schnurrbart in dem zermalmten Gesichte. Dann verwirrten sich seine Erinnerungen; er hatte ihn nicht getötet; der andere schwamm einfach da herum und wollte ihn beißen. Katharina war jetzt von endlosen Weinkrämpfen geschüttelt, nach denen sie jedesmal in eine vollständige Erschöpfung versank. Sie verfiel schließlich in einen Zustand unbezwinglicher Schlafsucht. Er weckte sie; sie stammelte unverständliche Worte und schlief sogleich wieder ein, ohne auch nur die Augenlider zu heben. Aus Furcht, daß sie in das Wasser stürzen könne, hatte er seinen Arm um ihren Leib gelegt. Jetzt antwortete er allein auf den Anruf der Kameraden. Die Schläge der Spitzhacken kamen näher; er hörte sie jetzt hinter seinem Rücken. Aber auch seine Kräfte schwanden; er hatte den Mut verloren, noch länger zu pochen. Man wußte ja, daß sie da seien; wozu sollte er sich ermüden? Es interessierte ihn nicht mehr, ob man komme oder nicht. In dem bewußtlosen Hinbrüten seines Harrens gab es Stunden, in denen er sich nicht mehr erinnerte, worauf er wartete.
Ein tröstlicher Umstand trat ein, der sie wieder ein wenig aufrichtete. Das Wasser sank, und Chavals Leiche entfernte sich. Seit neun Tagen arbeitete man an ihrer Befreiung, und sie machten zum ersten Male einige Schritte in der Galerie, als eine furchtbare Erschütterung sie zu Boden schleuderte. Sie suchten sich und hielten sich umfangen, fast den Verstand verlierend und nicht begreifend, was geschehen war, an eine Wiederholung der Katastrophe glaubend. Aber nichts rührte sich; das Geräusch der Spitzhacken hatte aufgehört.
Sie saßen in einem Winkel Seite an Seite, als Katharina plötzlich ein leises Lachen vernehmen ließ.
»Draußen muß es schön sein... Komm, laß uns hinausgehen«, sprach sie.
Etienne hatte anfänglich gegen die Verrücktheit gekämpft; allein sie schien anzustecken, seinen fester sitzenden Kopf wankend zu machen; er verlor das genaue Bewußtsein von der Wirklichkeit. Alle ihre Sinne verwirrten sich, besonders die Katharinas, die von einem Fieber geschüttelt, von einem Bedürfnis nach Worten und Gebärden ergriffen wurde. Das Sausen ihrer Ohren war zum Plätschern eines Baches, zu einem Vogelgezwitscher geworden; sie roch den starken Geruch zertretenen Grases; und sie sah ganz klar; große gelbe Flecke schwebten vor ihren Augen, so breit, daß sie sich draußen wähnte am Kanal, in den Feldern, an einem schönen, sonnenhellen Tage.
»Wie schön warm es ist!... Nimm mich doch und laß uns beisammen bleiben; immer, ach immer!«
Er preßte sie an sich; sie schmiegte sich in einer langen Liebkosung an ihn und fuhr in ihrem Geschwätz eines glücklichen Mädchens fort:
»Wie dumm waren wir, so lange zu warten! Ich hätte dich sogleich mögen, aber du hast nicht begriffen, du hast geschmollt.... Und erinnerst du dich der Nacht bei uns, da wir nicht schlafen konnten, da wir gegenseitig unser Atemholen belauschten in der übermächtigen Sehnsucht, uns zu umschlingen!«
Er ward von ihrer Heiterkeit angesteckt und scherzte über die Erinnerungen an ihre stumme Leidenschaft.
»Du hast mich einmal geschlagen,« sagte er; »jawohl, auf beide Wangen geschlagen.«
»Weil ich dich liebte«, flüsterte sie. »Ich wehrte mich dagegen, an dich zu denken; ich sagte mir, es sei aus. Und im Grunde wußte ich dennoch, daß wir eines Tages uns zusammenfinden würden. Es fehlte nur eine Gelegenheit, eine glückliche Fügung, nicht wahr?«
Ein Schauder erfaßte ihn; er wollte diesen Traum abschütteln; dann wiederholte er langsam:
»Man soll niemals sagen, daß alles aus ist; es genügt ein klein wenig Glück, und alles kommt wieder.«
»Du behältst mich also? Diesmal ist's wirklich wahr?«
Sie entglitt seinen Armen. So schwach war sie, daß ihre dumpfe Stimme erlosch. Erschrocken hielt er sie an seinem Herzen fest.
»Du leidest?« fragte er.
Sie richtete sich erstaunt auf.
»Nein ... keineswegs... Warum denn?«
Doch diese Frage hatte sie aus ihrem Traume erweckt. Sie starrte sinnlos in die Finsternis und rang die Hände in einem Anfall von Weinkrampf.
»Mein Gott! Mein Gott! Wie schwarz ist es!«
Fort waren die Felder, das wohlriechende Gras, der Vogelgesang, das helle Sonnenlicht, und geblieben waren die eingestürzte, ersäufte Grube, die stinkende Nacht, diese trübselig feuchte Gruft, in der sie seit so vielen Tagen mit dem Tode rangen. Die Verwirrung ihrer Sinne erhöhte jetzt die Schrecknisse dieses Aufenthaltes; sie ward von allem Aberglauben ihrer Kindheit wieder erfaßt; sie sah den schwarzen Mann, den alten, toten Bergmann, der nach der Grube zurückkehrte, um den schlimmen Mädchen den Hals umzudrehen.
»Horch! Hast du gehört?«
»Nein, nichts; ich höre nichts.«
»Es ist der Mann, du weißt ja ... Schau, da ist er ... Die Erde hat alles Blut der Ader losgelassen, um sich dafür zu rächen, daß man ihr eine Schlagader durchschnitten. Er ist da, schau; er ist schwärzer als die Nacht! ... Ach, ich habe Furcht! Ich habe Furcht! ...«
Sie schwieg, am ganzen Leibe zitternd. Dann fuhr sie in ganz leisem Tone fort:
»Nein; es ist noch immer der andere.«
»Welcher andere«?«
»Der, der bei uns ist; der nicht mehr ist.«
Das Gespenst Chavals ließ sie nicht zur Ruhe kommen; sie sprach in verworrenen Worten von ihm; erzählte von ihrem Hundeleben, von dem einzigen Tage, an dem er sich in der Jean-Bart-Grube freundlich gezeigt hatte; und erzählte von den anderen Tagen, an denen es Roheiten und Schläge gegeben, und wie er sie mit seinen Liebkosungen überhäuft, nachdem er sie mit Faustschlägen und Fußtritten halb totgemacht.
»Ich sage dir, er kommt und wird uns hindern, beisammen zu bleiben ... Die Eifersucht packt ihn wieder ... Schicke ihn hinweg! Behalte mich, bei dir! Behalte mich ganz! ...«
Fest hatte sie sich an ihn gehängt; sie suchte seine Lippen und drückte leidenschaftlich ihren Mund auf seinen Mund. Die Finsternis hellte sich auf; sie sah die Sonne wieder, sie fand das ruhige Lachen der Verliebten wieder. Er fuhr zusammen, als er sie so an seinem Leibe fühlte, halbnackt in ihrer in Fetzen zerfallenden Kleidung; und in einem Wiedererwachen seiner Männlichkeit schloß er sie an sich. Dies war endlich ihre Hochzeitsnacht in dieser Gruft, auf diesem Schmutzlager; es war das Bedürfnis, nicht zu sterben, ehe sie ihr Glück hatten; das hartnäckige Bedürfnis zu leben und ein letztes Mal das Leben zu betätigen. Sie liebten sich in der äußersten Verzweiflung, sie liebten sich im Tode.
Dann war gar nichts mehr. Etienne saß auf der Erde immer in dem nämlichen Winkel, und Katharina lag unbeweglich auf seinen Knien. So gingen viele Stunden dahin. Er glaubte lange, daß sie schlafe; als er sie berührte, fand er, daß sie kalt und starr sei. Sie war tot. Dennoch rührte er sich nicht aus Furcht, sie zu erwecken. Der Gedanke, daß er sie, seitdem sie Weib geworden, zum ersten Male besessen, und daß sie vielleicht schwanger sein könne, versetzte ihn in tiefe Rührung. Noch andere Gedanken kamen ihm: der Wunsch, mit ihr fortzuziehen, die Freude des Zusammenlebens – aber all das war nur vorübergehend, so unklar, daß diese Gedanken kaum seine Stirn streiften wie der Hauch des Schlafes. Er ward immer schwächer; es blieb ihm soviel Kraft, um eine langsame Bewegung mit der Hand zu machen und sich zu überzeugen, daß sie da sei wie ein schlafendes Kind in ihrer eisigen Starre. Alles versank in nichts; die Nacht selbst war versunken; er war nirgends mehr, außerhalb des Raumes, außerhalb der Zeit. Etwas pochte neben seinem Haupte; es waren Schläge, die immer stärker, immer näher klangen; doch in seiner unermeßlichen Ermattung war er anfänglich zu träge, um zu antworten; und jetzt wußte er gar nichts mehr; er träumte bloß, daß sie vor ihm her gehe, und daß er das leise Klappern ihrer Holzschuhe höre. Zwei Tage vergingen so; sie hatte sich nicht mehr bewegt; er berührte sie mit seiner mechanischen Bewegung, beruhigt, weil sie sich so still verhielt.
Jetzt fühlte Etienne eine Erschütterung. Er hörte ein Gemurmel von Stimmen; Felsen stürzten nieder und rollten bis zu seinen Füßen. Als er eine Lampe erblickte, begann er zu weinen. Seine blinzelnden Augen folgten dem Lichtschein; er ward nicht müde, ihn zu sehen, entzückt von diesem roten Punkte, der kaum die Finsternis durchdrang. Doch schon trugen ihn Kameraden davon, und er ließ es geschehen, daß sie ihm zwischen den zusammengepreßten Zähnen einige Löffel Fleischbrühe einflößten. Erst in der Galerie Réquillart erkannte er einen von ihnen, den Ingenieur Negrel, der vor ihm stand. Diese beiden Männer, die einander verachteten, der meuterische Arbeiter und der zweifelsüchtige Vorgesetzte: sie sanken einander laut schluchzend in die Arme, in der mächtigen Erschütterung alles Menschlichen, das sich in ihnen barg. Es war eine unendliche Traurigkeit, das Elend ganzer Geschlechter, das Übermaß des Jammers, in den das Leben versinken kann.
Als man die tote Katharina hinaufgeschafft hatte, sank die Maheu, mit lautem Wehgeschrei an der Leiche ihrer Tochter nieder, und ein Schrei folgte dem andern, lange, unaufhörlich. Mehrere Leichen waren zutage gefördert und auf der Erde niedergelegt worden: Chaval, den man von einem Einsturze erschlagen glaubte, einen Schlepperjungen und zwei Häuer, gleichfalls erschlagen, mit leerem Schädel und aufgedunsenem Bauche. Mehrere Weiber in der Menge verloren den Verstand, rissen sich die Kleider vom Leibe und zerfleischten sich das Gesicht. Nachdem man ihn an das Lampenlicht gewöhnt und ein wenig mit Nahrung gestärkt hatte, erschien Etienne endlich, bis auf die Knochen abgemagert, die Haare gebleicht. Alle traten zitternd beiseite, als dieser Greis vorüberkam. Auch die Maheu unterbrach sich in ihrem Jammergeschrei, um ihn blöde, mit stieren Augen anzuschauen.