Emile Zola
Germinal
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Noch in derselben Nacht, die dem Einstürze der Voreuxgrube folgte, war Herr Hennebeau nach Paris abgereist. weil er in Person die Verwaltungsräte von dem Unglück benachrichtigen wollte, noch ehe die Zeitungen die Nachricht brachten. Als er am nächsten Tage zurückkehrte, fand man ihn sehr ruhig mit der Miene eines stets vornehm auftretenden Direktors. Er hatte augenscheinlich seine Verantwortlichkeit entlastet, von der Gunst der Herren nichts eingebüßt; im Gegenteil; es wurde vierundzwanzig Stunden später die Verfügung unterzeichnet, die ihn zum Offizier der Ehrenlegion ernannte.

Doch wenn der Direktor heil geblieben, so wankte die Gesellschaft unter dem furchtbaren Schlag. Nicht wegen der einigen Millionen, die sie verloren, sondern wegen der offenen Wunde in ihrer Flanke, wegen der dumpfen, unaufhörlichen Furcht vor dem kommenden Tage angesichts der Vernichtung einer ihrer Gruben. Sie war so schwer getroffen, daß sie wieder einmal das Bedürfnis fühlte, Stillschweigen zu beobachten. Was konnte es auch nützen, diese abscheulichen Geschichten aufzuwühlen? Warum sollte man aus dem Banditen –- wenn er schon entdeckt würde –- einen Märtyrer machen, dessen furchtbarer Heldenmut ein ganzes Geschlecht von Brandstiftern und Mördern erzeugen würde? Sie hatte übrigens keine Ahnung von dem wirklichen Schuldigen; sie glaubte schließlich, es habe ein ganzes Heer von Verschworenen gegeben, weil sie nicht annehmen konnte, daß ein einziger Mensch die Kühnheit und die Kraft zu einem solchen Zerstörungswerke gefunden; das war eben der Gedanke, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ, der Gedanke, daß ihre Gruben fortan von einer immer größeren Gefahr bedroht seien. Der Direktor hatte die Weisung erhalten, ein ausgebreitetes Spioniersystem einzurichten, dann einzeln und unauffällig die gefährlichen Männer, die er im Verdachte habe, daß sie an dem Verbrechen mitbeteiligt seien, zu entlassen. Man begnügte sich mit dieser Säuberung, die man für einen Akt großer politischer Klugheit hielt.

Der Oberaufseher Dansaert wurde augenblicklich entlassen. Seit dem Ärgernis mit Frau Pierron war er unmöglich geworden. Als Vorwand diente sein Verhalten in der Gefahr, die Feigheit des Führers, der seine Leute im Stiche läßt. Es war übrigens ein stillschweigendes Zugeständnis an die Grubenarbeiter, die ihn verabscheuten.

Im Publikum hatten indessen gewisse Gerüchte Eingang gefunden, und die Direktion war genötigt, einer Zeitung eine Berichtigung zu senden, um die Behauptung zu widerlegen, daß die Ausständischen ein Pulverfaß hätten auffliegen lassen. Nach einer flüchtig durchgeführten Untersuchung kam der Regierungsingenieur in seinem Berichte zu dem Schlusse, daß man es mit einem natürlichen Bruche der Verzimmerung zu tun hatte, herbeigeführt durch eine Verschiebung des Erdreiches. Die Gesellschaft hatte es vorgezogen, zu schweigen und den Tadel wegen mangelhafter Aufsicht über sich ergehen zu lassen. Schon nach drei Tagen füllte die Katastrophe alle Pariser Blätter; man sprach nur mehr von den Arbeitern, die in den Gruben dem sicheren Untergang verfallen seien; die jeden Morgen veröffentlichen Depeschen wurden gierig verschlungen. In Montson selbst lebten die Bürger in bleicher Furcht; bei dem bloßen Namen »Voreux« erstarb ihnen das Wort in der Kehle; es bildete sich eine Legende, die selbst die Kühnsten nur zitternd und im Flüstertone weiter erzählten. Die ganze Gegend war von großem Mitleid für die Opfer ergriffen; es gab förmliche Wallfahrten zur verwüsteten Grube; ganze Familien wanderten herbei, um bei dem schrecklichen Anblicke der Trümmer zu erschauern, die so schwer auf den Köpfen der unglücklichen Begrabenen lasteten.

Deneulin, zum Ableilungsingenieur ernannt, trat inmitten dieser Katastrophe sein Amt an. Seine erste Sorge war, den Kanal wieder in seinem Bette einzudämmen, denn dieser reißende Strom vergrößerte mit jeder Stunde die Beschädigungen. Große Arbeiten waren notwendig; etwa hundert Arbeiter wurden zur Herstellung eines Dammes verwendet. Zweimal wurden die ersten Verrammungen durch die Gewalt der Flut weggerissen. Dann stellte man Pumpen auf; es war ein erbitterter Kampf; Schritt für Schritt wurde der verlorene Boden wieder erobert.

Noch weit größer ward der Eifer, der an die Rettung der verschütteten Arbeiter gesetzt wurde. Negrel war beauftragt, eine äußerste Anstrengung zu versuchen, und es fehlte ihm dabei nicht an hilfreichen Armen; in einem Drang der Brüderlichkeit boten alle Bergleute sich ihm an. Sie vergaßen den Streik, dachten nicht an die Bezahlung; da es sich darum handelte, Kameraden zu befreien, die in Lebensgefahr schwebten, wollten sie nur ihre Haut wagen und kümmerten sich nicht darum, ob man ihnen etwas gab oder nicht. Alle waren da mit ihren Werkzeugen in zitternder Erwartung, wo man das Rettungswerk in Angriff nehmen solle. Viele waren noch krank vom Schrecken nach dem Unglück, von einem nervösen Zittern geschüttelt, mit kaltem Schweiß bedeckt, eine Beute fortwährender Schreckensgesichter. Aber sie erhoben sich von ihrem Lager und zeigten sich als die Eifrigsten im Kampfe mit der Erde, als hätten sie an ihr Vergeltung zu üben. Unglücklicherweise begann die Verlegenheit gleich bei der ersten Frage: Was war zu tun? Wie sollte man hinabgelangen? Auf welcher Seite sollte der Angriff auf das Gestein beginnen?

Negrel war der Meinung, daß kein einziger der Unglücklichen mehr am Leben sei. Die fünfzehn Leute waren sicherlich umgekommen, ertrunken oder erstickt. Allein bei diesen Grubenkatastrophen war es die Regel anzunehmen, daß die verschütteten Leute noch am Leben seien. Er traf also in diesem Sinne seine Maßnahmen. Die erste Frage, die er sich vorlegte, war die Ermittelung des Punktes, wohin sie hatten flüchten mögen. Die Aufseher und die alten Bergleute, die er zu Rate zog, waren einhellig folgender Meinung: vor dem steigenden Wasser hatten sich die Kameraden von Galerie zu Galerie in die Höhe geflüchtet, bis zu den höchsten Schlägen, so daß sie ohne Zweifel in einem der höchst gelegenen Gänge eingeschlossen waren. Dies stimmte übrigens mit den Berichten des Vater Mouque überein, dessen verworrene Erzählung sogar die Annahme gestattete, daß in der Kopflosigkeit der Flucht die Schar sich in kleine Gruppen aufgelöst habe, die sich nach allen Stockwerken verteilten. Doch über die Frage, wo und welche Rettungsversuche möglich seien, gingen die Ansichten der Aufseher sogleich auseinander. Indem die der Erdoberfläche am nächsten gelegenen Gänge in einer Tiefe von hundertfünfzig Metern lagen, konnte man nicht daran denken, einen Schacht abzuteufen. Es blieb daher nur Réquillart als einziger Zugang, als einziger Punkt, von dem aus man sich nähern konnte. Das Schlimmste war, daß die alte Grube, gleichfalls überflutet, mit dem Voreux nicht mehr in Verbindung war; über dem Spiegel der unterirdischen Wasser waren nur mehr Bruchstücke von Galerien frei, die mit dem ersten Absatze zusammenhingen. Das Ausschöpfen mußte Jahre in Anspruch nehmen; der vernünftigste Entschluß war, die Galerien zu untersuchen, um zu sehen, ob diese nicht an die überschwemmten Gänge stießen, an deren Ende man die in Not geratenen Grubenarbeiter vermutete. Bevor man logischerweise zu diesem Schlusse gelangte, hatte man lange hin und her gestritten, um eine Menge von undurchführbaren Vorschlägen zu verwerfen.

Fortan durchsuchte Negrel die staubigen Archive, und als er die alten Pläne der beiden Gruben entdeckt hatte, studierte er sie und stellte die Punkte fest, wo das Rettungswerk versucht werden müsse. Diese Jagd erhitzte ihn allmählich; trotz seiner spöttischen Gleichgültigkeit für Menschen und Dinge ward er jetzt von einem fieberhaften Eifer der Hingebung ergriffen. Als man in Réquillart hinabzusteigen versuchte, ergaben sich die ersten Schwierigkeiten; man mußte die Hindernisse hinwegräumen, welche die Mündung des Schachtes verlegten, den Spierlingbaum fällen, die Schlehen- und Hagedornsträucher ausrotten, die schadhaften Leitern ausbessern. Dann begann mit vorsichtigem Tasten die Einfahrt. Der Ingenieur, der mit zehn Arbeitern hinabstieg, ließ diese mit ihren eisernen Geräten an gewisse Stellen der Ader klopfen, die er ihnen bezeichnete; und in der tiefen Stille drückte jeder ein Ohr an die Wand und horchte, ob auf das Klopfen keine Erwiderung käme; doch vergebens durcheilte man alle gangbaren Galerien, kein Echo antwortet. Die Verlegenheit wuchs: an welcher Stelle sollte die Schicht angegriffen werden? Wem sollte man sich zu nähern suchen? Schien doch niemand da zu sein. Sie suchten indes hartnäckig weiter mit wachsender Beängstigung.

Vom ersten Tage an erschien Frau Maheu schon am Morgen zu Réquillart. Sie setzte sich am Eingang des Schachtes auf einen Balken und rührte sich nicht bis zum Abend. Wenn ein Mann heraufstieg, erhob sie sich und befragte ihn mit den Augen: Nichts? Nein, nichts. Sie setzte sich wieder hin und wartete weiter ohne ein Wort mit hartem, verschlossenem Gesichte. Auch Johannes hatte, als er sein Versteck aufgestöbert sah, herumzuschleichen begonnen mit der Verstörtheit eines Raubtieres, dessen Beute durch einen Spürhund verraten worden. Er dachte an den kleinen Soldaten, der unter den Felsen lag; er fürchtet, man könne den Schläfer dort in seiner Ruhe stören. Allein jener Teil der Grube war überschwemmt, und die Nachforschungen richteten sich mehr nach links, nach der Westgalerie. Anfänglich war auch Philomene gekommen, um Zacharias zu begleiten, der mit zur Rettungsmannschaft gehörte; dann fand sie es langweilig, ohne Grund und ohne Nutzen zu frieren; sie blieb zu Hause und verbrachte ihre Tage als lässiges, für alles gleichgültiges Weib, hustend vom Morgen bis zum Abend. Zacharias hingegen hatte kein Leben mehr; er würde die Erde weggefressen haben, um seine Schwester wiederzufinden. In seinen Träumen sah und hörte er sie, durch den Hunger ganz abgemagert, die Kehle zerrissen von den unausgesetzten, verzweifelten Hilferufen. Zweimal hatte er ohne Wahl und Regel nachgraben wollen, indem er behauptete, da müsse es sein, er fühle es. Der Ingenieur ließ ihn nicht mehr hinabsteigen; er entfernte sich nicht mehr von diesem Schachte, von dem er verjagt worden; er hatte nicht die Ruhe, neben seiner Mutter sitzend zu warten; ein Bedürfnis zu handeln trieb ihn unablässig umher.

So war der dritte Tag herangekommen. Negrel war verzweifelt und beschloß, am Abend die Rettungsarbeit einzustellen. Als er mittags nach dem Imbiß mit seinen Leuten zurückkehrte, um einen letzten Versuch zu machen, sah er zu seiner großen Überraschung Zacharias ganz rot, gestikulierend und schreiend aus der Grube hervorkommen.

Sie ist unten, sie hat mir geantwortet!« schrie er. »Kommt! Kommt!«

Er war trotz der Abwehr des Wächters die Leitern hinabgeschlüpft und versicherte, daß man unten im ersten Gang der Wilhelmader gepocht habe.

»Aber wir sind ja dort zweimal vorübergekommen«, bemerkte Negrel ungläubig. »Doch wir wollen sehen.«

Frau Maheu hatte sich erhoben, und man mußte sie gewaltsam hindern hinabzusteigen. Sie wartete am Rande des Schachtes und blickte starr in die Finsternis des Loches hinunter.

Unten führte Negrel selbst drei Schläge in größeren Abständen, dann drückte er sein Ohr an die Kohlenwand und gebot den Arbeitern das tiefste Schweigen. Er vernahm keinerlei Geräusch und schüttelte den Kopf; augenscheinlich hatte der arme Junge geträumt. Zacharias wurde wütend und pochte seinerseits an die Wand; dann horchte er von neuem, seine Augen glänzten, ein freudiges Beben schüttelte seine Glieder. Jetzt machten die anderen Arbeiter den Versuch, die einen nach den anderen; alle vernahmen sehr deutlich die von fernher kommende Antwort. Der Ingenieur war erstaunt; er drückte noch einmal das Ohr an die Wand und vernahm schließlich ein Geräusch von der Leichtigkeit der Luft, ein kaum hörbares gleichmäßiges Rollen, der wohlbekannte Takt des Aufrufes der Bergleute, den sie an die Kohlenwand klopfen, wenn sie in Gefahr sind. Die Kohle vermittelt den Ton sehr weit und mit der Klarheit des Kristalls. Ein anwesender Aufseher schätzte die Dicke des Blocks, die sie von den verunglückten Kameraden trennte, auf nicht weniger als fünfzig Meter. Und doch brach sogleich helle Freude aus unter den Arbeitern, als könnten sie ihnen schon die Hände reichen. Negrel mußte augenblicklich die Annäherungsarbeiten in Angriff nehmen.

Als Zacharias oben seine Mutter erblickte, fielen sich beide in die Arme.

»Freut euch nicht zu früh«, sagte grausam Frau Pierron, die an diesem Tage aus Neugier einen Spaziergang nach der Grube gemacht hatte. »Wenn Katharina doch nicht unten wäre, müßtet ihr euch nachher grämen.«

Das war richtig, Katharina war vielleicht anderswo.

»Laß mich in Frieden!« schrie Zacharias wütend. »Sie ist da, ich weiß es.«

Frau Maheu hatte sich wieder gesetzt und wartete stumm mit unbeweglichem Gesichte.

Als die Nachricht in Montsou eintraf, liefen die Leute herbei. Man sah nichts, aber man blieb doch da; man mußte die Neugierigen in angemessener Entfernung halten. Unten wurde Tag und Nacht gearbeitet. Aus Besorgnis, daß man auf ein Hindernis stoßen könne, hatte der Ingenieur drei Wege in absteigender Richtung durch die Ader schlagen lassen, die nach dem Punkte liefen, wo man die eingeschlossenen Arbeiter vermutete. Ein einziger Häuer konnte in dem engen Schlauch die Kohle schlagen; alle zwei Stunden ward er abgelöst; die Kohle ward in Körben hinausbefördert, die von Hand zu Hand gingen, durch eine Kette von Menschen, die sich in dem Maße verlängerte, als man in dem Loche vordrang. Anfänglich ging die Arbeit sehr rasch: man kam an einem Tage sechs Meter weit.

Zacharias hatte die Erlaubnis erhalten, mit zu der auserlesenen Mannschaft zu gehören, welche die Gänge anlegte. Es war dies ein Ehrenposten, um den man sich stritt. Er wurde böse, als man nach den vorschriftsmäßigen zwei Stunden schwerer Arbeit ihn ablösen wollte. Er prellte die Kameraden um ihren Anteil an der Arbeit und weigerte sich, die Spitzhacke aus der Hand zu legen. Sein Weg war den anderen bald voraus; er bearbeitete die Kohle mit einem solchen Feuereifer, daß man aus dem Schlauche seinen fauchenden Atem hörte, der aus einer unterirdischen Schmiedeesse zu kommen schien. Als er schwarz und beschmutzt, von der Müdigkeit betäubt hervorkroch, sank er zu Boden; man mußte ihn in eine Decke hüllen. Dann stieg er –- noch wankend –- wieder hinab, und der Kampf begann von neuem, die schweren, dumpfen Schläge, die unterdrückten Klagen, ein siegreiches Kämpfen. Das Schlimmste war, daß die Kohle jetzt hart wurde; zweimal zerbrach er seine Geräte in seiner Verzweiflung, nicht rasch genug vorwärts zu kommen. Er litt auch durch die Hitze, die mit jedem Meter, um den er vorrückte, zunahm und unerträglich wurde in der Tiefe dieses engen Schlundes, wo es keine Luftströmung gab. Wohl war ein Handventilator in Tätigkeit gesetzt worden; allein die Lüftung wollte nicht recht gelingen; dreimal wurden ohnmächtige Häuer herausgeholt, die zu ersticken drohten.

Negrel lebte mit seinen Arbeitern in der Grube. Man brachte ihm seine Mahlzeiten dahin; zuweilen schlief er zwei Stunden auf einem Bund Stroh, in seinen Mantel gehüllt. Der Mut aber ward nur aufrecht erhalten durch das Flehen der Unglücklichen da unten, durch den immer deutlicher vernehmbaren Anruf, den sie an die Kohlenwand schlugen, damit man sich beeile. Der Anruf tönte jetzt sehr hell, mit einer musikalischen Klangfülle, wie auf den Klappen einer Harmonika. Der Anruf gab den Arbeitern die Richtung; bei diesem kristallhellen Geräusche drangen sie vor, wie man in den Schlachten bei dem Kanonendonner vorrückt. Jedesmal, wenn ein Häuer abgelöst wurde, stieg Negrel hinab, klopfte an die Wand und preßte sein Ohr daran; und jedesmal – bis jetzt – war rasch und dringlich die Antwort gekommen. Er hatte keinen Zweifel mehr; man bewegte sich in der rechten Richtung; aber welche verhängnisvolle Langsamkeit! Man werde gewiß nicht rechtzeitig ankommen. Wohl hatte man in zwei Tagen dreizehn Meter abgeschlagen; allein am dritten Tage brachte man nur mehr fünf Meter fertig, am vierten Tage nur drei Meter. Die Kohle wurde immer dichter und härter, so daß man jetzt kaum zwei Meter in einem Tage abteufte. Am neunten Tage war man –- nach übermenschlichen Anstrengungen –- zweiunddreißig Meter tief eingedrungen, und man berechnete, daß man noch zwanzig Meter durchzuschlagen habe. Für die Gefangenen begann der zwölfte Tag, zwölf mal vierundzwanzig Stunden ohne Brot, ohne Feuer, in eisiger Finsternis! Dieser entsetzliche Gedanke trieb allen die Tränen in die Augen und verlieh den ermattenden Armen neue Kraft zur Arbeit. Es schien unmöglich, daß Christenmenschen länger aushalten könnten; die fernen Schläge wurden seit gestern schwächer; man zitterte jeden Augenblick, daß sie ganz aufhören könnten.

Frau Maheu erschien jeden Tag regelmäßig, um sich an der Mündung des Schachtes niederzusetzen. Sie brachte auf ihrem Arm Estelle mit, die nicht vom Morgen bis zum Abend allein bleiben konnte. Stunde um Stunde verfolgte sie so die Arbeit, teilte die Hoffnungen und die Entmutigung der Arbeiter. In den harrenden Gruppen, und weit umher, bis nach Montsou, herrschte eine fieberhafte Erwartung, ein endloser Austausch von Meinungen und Bemerkungen. Alle Herzen des Landes schlugen dort unten unter der Erde.

Als man am neunten Tage zur Frühstücksstunde Zacharias rief, um ihn ablösen zu lassen, antwortete er nicht. Er war wie wahnsinnig und hieb unter fortwährenden Flüchen auf die Wand ein. Negrel, der einen Augenblick den Gang verlassen hatte, konnte ihn nicht zum Gehorsam bringen; es war nur mehr ein Aufseher mit drei Bergleuten da. Ohne Zweifel hatte Zacharias, weil er ein schlechtes Licht hatte und wütend war über den flackernden Schein, der ihn in der Arbeit hinderte, die Unklugheit begangen, seine Lampe zu öffnen. Man hatte dies streng verboten, um schlagende Wetter zu verhüten; das Gas lagerte in einer enormen Masse in diesen engen, luftlosen Schläuchen. Plötzlich gab es einen Donnerschlag, und eine Feuergarbe schoß aus dem Schlauch hervor, wie aus dem Rohr einer Kanone. Alles flammte; die Luft entzündete sich wie Schießpulver, von einem Ende der Galerien bis zum andern. Dieser Flammenstrom riß den Aufseher und die drei Arbeiter mit sich fort, fuhr durch den Schlund empor und brach mit großer Gewalt hervor, Steine und Balkentrümmer weit umherstreuend. Die neugierig harrenden Leute ergriffen die Flucht; Frau Maheu erhob sich, das entsetzt aufschreiende Kind an ihre Brust drückend.

Als Negrel und die Arbeiter zurückkehrten, wurden sie von einem furchtbaren Zorn ergriffen. Sie stampften mit ihren Stiefelabsätzen die Erde, wie eine Stiefmutter, die in den blöden Launen ihrer Grausamkeit ihre Kinder tötet. Man opferte sich auf, um Kameraden zu Hilfe zu eilen, und nun mußte man noch mehr Leute verlieren! Nach drei Stunden mühseliger und gefahrvoller Arbeit konnte man endlich in die Galerien eindringen und die Opfer herausschaffen. Weder der Aufseher noch die Arbeiter waren tot; doch waren ihre Leiber mit furchtbaren Wunden bedeckt, die einen abscheulichen Geruch von verbranntem Fleisch verbreiteten. Sie hatten Feuer getrunken, das ihnen selbst die Kehlen verbrannte, stießen ein unablässiges Geheul aus und flehten, man möge ihnen den Rest geben.

Einer der drei Grubenarbeiter war jener Mann, der während des Streiks die Pumpe zu Gaston-Marie mit einem letzten Streiche seiner Hacke in Trümmer geschlagen hatte; die anderen hatten zerschundene Hände, weil sie Ziegelstücke nach den Soldaten geschleudert hatten. Die bleiche, bebende Menge entblößte das Haupt, als die Verunglückten vorübergetragen wurden.

Frau Maheu wartete aufrecht stehend. Endlich kam Zacharias' Leiche zum Vorschein; die Kleider waren verbrannt, der Körper unkenntlich, zu einem einzigen Stück verkalkter Kohle geworden. Der Kopf war nicht mehr da; er war infolge der Explosion verschwunden. Als man diese schaudererregenden Reste auf eine Tragbahre gelegt hatte, folgte die Maheu mechanisch, mit glühenden, tränenleeren Augen. Sie hielt die schlafende Estelle in den Armen und ging – eine Schmerzensgestalt mit fliegenden Haaren – davon. Als der traurige Zug im Dorfe ankam, war Philomene wie vom Donner gerührt; ihre Augen verwandelten sich in einen unversieglichen Tränenquell, und dies brachte ihr Erleichterung. Doch schon war die Mutter nach Réquillart zurückgekehrt; sie hatte dem Sohne das Geleit gegeben und kam jetzt zurück, um die Tochter zu erwarten.

Dann vergingen noch drei Tage. Unter unerhörten Schwierigkeiten hatte man das Rettungswerk wiederaufgenommen; die Rettungswege waren glücklicherweise infolge der schlagenden Wetter nicht eingestürzt; aber es herrschte darin eine so schlechte heiße Luft, daß man noch weitere Ventilatoren hatte aufstellen müssen. Alle zwanzig Minuten wurden die Häuer abgelöst. Die Arbeit machte Fortschritte, man war kaum mehr zwei Meter von den Kameraden getrennt. Allein, sie arbeiteten jetzt mit schwerem Herzen und hieben nur auf die Kohle los, um an ihr Rache zu nehmen; denn das Klopfen hatte aufgehört, der Anruf ließ nicht mehr seinen hellen, gemessenen Schall vernehmen. Man war am zwölften Arbeitstage und am fünfzehnten Tage nach der Katastrophe; und seit dem Morgen war eine Totenstille eingetreten. Der neuerliche Unglücksfall verdoppelte noch die Neugier der Bevölkerung von Montsou; die Spießbürger veranstalteten Ausflüge mit einem solchen Eifer, daß die Grégoire sich entschlossen, den übrigen zu folgen. Man vereinbarte einen Ausflug dahin, und es wurde bestimmt, daß sie in ihren Wagen nach dem Voreux fahren sollten, während Frau Hennebeau in dem ihrigen die Damen Luzie und Johanna Deneulin dahin bringen sollte. Herr Deneulin sollte ihnen seinen Werkplatz zeigen, dann wollte man über Réquillart zurückkehren, wo sie von Negrel erfahren würden, wie weit die Galerien gediehen seien und ob er noch immer Hoffnung habe. Am Abend werde man mitsammen speisen.

Als gegen drei Uhr die Grégoire und ihre Tochter bei der eingestürzten Grube den Wagen verließen, fanden sie daselbst Frau Hennebeau, die zuerst gekommen war. Sie trug eine marineblaue Toilette und schützte sich mit einem Schirm gegen die bleiche Februarsonne. Der Himmel war sehr klar, das Wetter mild wie im Frühjahr. Herr Hennebeau war schon da in Gesellschaft des Herrn Deneulin; er hörte mit zerstreutem Sinn die Erklärungen, die der letztere ihm über die großen Anstrengungen gab, die man hatte machen müssen, um den Kanal einzudämmen. Johanna, die stets ein Zeichenalbum mit sich führte, entwarf eine Skizze, entzückt von dem furchtbar-schönen Motiv; während Luzie, die auf einem zertrümmerten Karren neben ihr saß, gleichfalls Rufe wohlgefälligen Erstaunens ausstieß. Der Damm war noch unfertig und ließ durch zahlreiche Risse das Wasser durchsickern, das sich als schäumender Wasserfall in die ungeheure Grube ergoß. Indes leerte sich der Krater allmählich; das Wasser ward von der Erde eingesogen; es sank immer mehr, so daß das furchtbare Durcheinander am Boden der Grube sichtbar wurde. Im zarten blauen Lichte des schönen Tages war es eine greuliche Kloake, gleichsam die Ruinen einer versunkenen, in Schmutz aufgelösten Stadt.

»Es lohnt wahrlich nicht die Mühe, sich das anzusehen!« rief Grégoire enttäuscht.

Cäcilie, rosig in ihrer blühenden Gesundheit, war glücklich, die reine Luft einzuatmen; sie scherzte in ihrem Frohsinn, während Frau Hennebeau ein angewidertes Mäulchen machte.

»Es ist wirklich nicht hübsch«, sagte sie.

Die beiden Ingenieure lachten. Sie suchten die Besucher für die Sache zu interessieren, führten sie überall herum, erklärten ihnen die Arbeit der Pumpe und des Stößers, der die Pfähle einrammte. Doch die Damen wurden unruhig; sie schauerten zusammen, als sie erfuhren, daß die Pumpen vielleicht sechs, sieben Jahre zu arbeiten hätten, ehe die Grube leergepumpt sein würde und wieder in einen betriebsfähigen Zustand gebracht werden könne. Nein, sie wollten lieber an anderes denken; diese Verwüstung verursache nur schlechte Träume.

»Brechen wir auf«, sagte Frau Hennebeau und lenkte ihre Schritte zu dem Wagen.

Johanna und Luzie widersprachen. Wie, so schnell? Die Zeichnung war noch nicht fertig. Sie wollten noch bleiben; der Vater werde sie am Abend zum Essen begleiten. Herr Hennebeau allein nahm mit seiner Frau im Wagen Platz; denn auch er wollte Negrel befragen.

»Gut, fahren Sie voraus«, sagte Herr Grégoire. »Wir folgen Ihnen bald; wir haben nur einen kurzen Besuch im Arbeiterdorfe zu machen, hoffen aber gleichzeitig mit Ihnen in Réquillart einzutreffen.«

Er stieg hinter Frau und Tochter ein; und während der andere Wagen längs des Kanals dahinfuhr, erklomm der ihre langsam den Abhang des Arbeiterdorfes.

Sie wollten den Ausflug mit einer milden Handlung beschließen. Der Tod Zacharias' hatte sie mit tiefem Mitleid für die unglückliche Familie Maheu, erfüllt, von der in der ganzen Gegend gesprochen wurde. Sie beklagten nicht den Vater, diesen Räuber, diesen Soldatentöter, den man hatte niederschlagen müssen wie einen Wolf. Nur das Schicksal der Mutter rührte sie, dieser armen Frau, die ihren Sohn verlor, nachdem sie den Gatten verloren, und deren Tochter – in der Grube verschüttet – vielleicht auch schon eine Leiche war; außerdem sprach man von einem siechen Großvater, von einem Sohne, dem ein Einsturz die Beine zerschlagen, und von einer Tochter, die während des Streiks Hungers gestorben war. Hatte auch die Familie ihr Unglück zum Teil verdient, so hatten sie doch beschlossen, ihre Mildtätigkeit und Versöhnlichkeit zu bekunden, indem sie selbst ein Almosen brachten. Unter einer Sitzbank ihres Wagens lagen zwei sorgfältig eingehüllte Pakete.

Ein altes Weib zeigte dem Kutscher das Haus der Maheu, Nummer 16 im zweiten Block. Doch als die Grégoire mit ihren Paketen den Wagen verlassen hatten, klopften sie vergebens an; schließlich bearbeiteten sie die Tür mit ihren Fäusten, ohne indes eine Antwort zu bekommen; das Haus hallte trübselig wider wie eine durch den Tod geleerte, eisigdüstere, längst verlassene Wohnstätte.

»Es ist niemand da«, sagte Cäcilie enttäuscht. »Das ist aber ärgerlich! Was sollen wir mit all dem Zeug anfangen?«

Plötzlich öffnete sich die Tür des Nachbarhauses und die Levaque erschien.

»Ach, bitte tausendmal um Vergebung, gnädiger Herr und gnädige Frau! ... Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein! ... Sie suchen die Nachbarin? Sie ist nicht zu Hause; sie ist in Réquillart ...«

In einem reichlichen Wortschwall erzählte sie ihnen die Geschichte, wiederholte ihnen, daß man sich gegenseitig unterstützen müsse, daß sie Leonore und Heinrich bei sich behalte, um der Mutter zu ermöglichen, in Réquillart das Ergebnis der Rettungsarbeiten abzuwarten. Ihre Blicke waren auf die Pakete gefallen, und sie begann von ihrer armen, verwitweten Tochter zu sprechen, ihr eigenes Elend zu schildern, wobei ihre Augen habgierig leuchteten. Dann murmelte sie mit zögernder Miene:

»Ich habe den Schlüssel. Wenn die Herrschaften durchaus hineingehen wollen ... Der Großvater ist da.«

Die Grégoire sahen sie erstaunt an. Wie? Der Großvater wäre da? Es hat doch niemand geantwortet! Schlief er denn? Als die Levaque sich entschlossen hatte, die Tür zu öffnen, hielt das, was sie sahen, sie verblüfft auf der Schwelle fest.

Bonnemort war da allein mit weit offenen, starren Augen, vor dem kalten Kamin an seinen Stuhl gefesselt. Die Stube ringsumher schien jetzt größer, weil die Möbel von gefirnißtem weichem Holze, und die Kuckucksuhr, die den Wohnraum einst belebt hatten, nicht mehr da waren; und an den Wänden mit dem grünlichen, rohen Anwurf war nichts geblieben als die Bildnisse des Kaisers und der Kaiserin, deren rote Lippen mit offiziellem Wohlwollen lächelten. Der Alte rührte sich nicht und zuckte nicht einmal mit den Wimpern, als durch die offene Tür das helle Tageslicht hereinfiel; er verharrte auf seinem Platze mit seiner blöden Miene, als habe er alle die Leute nicht gesehen. Zu seinen Füßen stand eine mit Asche gefüllte Schüssel, ganz so wie man sie den Katzen hinstellt, damit sie ihren Unrat darin ablegen.

»Achten Sie nicht darauf, wenn er nicht höflich ist«, bemerkte die Levaque in verbindlichem Tone. »Es scheint in seinem Oberstübchen nicht alles richtig zu sein. Seit vierzehn Tagen redet er nicht mehr.«

Doch jetzt ward Bonnemort von einer Erschütterung ergriffen; es war ein tiefes Röcheln, das aus dem Leibe zu kommen schien; und er spie in die Schüssel einen dicken, schwarzen Speichel. Die Asche war davon durchtränkt; das gab einen Kohlenschmutz von all der Kohle, die er aus der Kehle heraufholte. Dann versank er wieder in seine Unbeweglichkeit; er rührte sich nur von Zeit zu Zeit, um zu speien.

Verwirrt und angeekelt rangen die Grégoire dennoch nach einigen freundlichen und ermutigenden Worten.

»Seid ihr verschnupft, mein Lieber?« sagte der Vater.

Der Alte blickte starr auf die Mauer und wandte nicht den Kopf. Es trat wieder tiefe Stille ein.

»Man sollte euch einen Brusttee kochen«, fügte die Mutter hinzu.

Er bewahrte seine lautlose Starre.

»Papa,« flüsterte Cäcilie, »man hat uns ja erzählt, daß er krank sei; aber wir haben nicht mehr daran gedacht...«

Sie unterbrach sich sehr verlegen. Nachdem sie einen Topf mit Rindfleisch und zwei Flaschen Wein auf den Tisch gestellt hatte, öffnete sie das zweite Paket und zog aus demselben ein Paar riesiger Schuhe hervor. Es war das für den Großvater bestimmte Geschenk und sie hielt ganz betroffen einen Schuh in jeder Hand, während sie die geschwollenen Füße des armen Mannes betrachtete, der wohl nie wieder gehen sollte.

»Die Schuhe kommen etwas spät, nicht wahr, Alter?« bemerkte Herr Grégoire, um die Unterhaltung ein wenig zu beleben; »aber das schadet nichts; besser spät als nie.«

Bonnemort hörte nicht und antwortete nicht; sein furchtbares Gesicht behielt die Kälte und Härte eines Steines.

Da stellte Cäcilie verstohlen die Schuhe neben die Wand hin. Doch sie hatte vergebens Vorsicht geübt, die Nägel klangen hell auf den Fliesen. Das plumpe Schuhwerk in der kahlen Stube war ein Gegenstand der Verlegenheit.

»Ach, der dankt nicht!« rief die Levaque mit einem Blicke voll Begehrlichkeit nach den Schuhen. Es ist gerade so gut, wie wenn Sie einer Ente Brillen schenkten, – mit Ihrem Respekt.«

In diesem Tone fortfahrend, bearbeitete sie die Grégoire, um sie in ihre Behausung zu locken, wo sie sie milder zu stimmen hoffte. Endlich ersann sie einen Vorwand; sie rühmte Leonore und Heinrich als artige, niedliche, kluge Kinder, die auf alle Fragen gescheit wie die Engel zu antworten wüßten. Sie werden alles sagen, was der gnädige Herr und die gnädige Frau zu wissen wünschen.

»Kommst du einen Augenblick hinüber, Mädel?« fragte der Vater, der ordentlich froh war hinauszukommen.

»Ja, ich folge euch sogleich«, antwortete Cäcilie.

Sie blieb mit Bonnemort allein. Was die Zitternde hier festbannte, war der Umstand, daß sie diesen Alten wiederzuerkennen glaubte. Wo hatte sie dieses viereckige, fahle, von der Kohle besprenkelte Gesicht schon gesehen? Plötzlich erinnerte sie sich; sie sah eine heulende Volksmenge wieder, die sie umgab; sie fühlte kalte Hände, die ihr den Hals preßten. Er war es; sie fand den Mann wieder, sie betrachtete die auf den Knien ruhenden Hände, diese Hände eines hockenden Arbeiters, dessen ganze Kraft in den – trotz des Alters noch festen – Handknöcheln lag. Bonnemort schien allmählich zu erwachen; er bemerkte sie und betrachtete sie mit seiner blöden Miene. Eine Flamme stieg in seine Wangen empor; ein nervöser Ruck verzerrte seinen Mund, aus dem ein dünner Faden schwarzen Speichels herausfloß. Zueinander hingezogen blieben sie einander gegenüber, sie blühend, frisch und wohlgenährt von der langen Trägheit und dem gesättigten Wohlergehen ihres Geschlechts; er vom Wasser aufgedunsen, in der jämmerlichen Scheußlichkeit eines verschlagenen Tieres, verdorben vom Vater auf den Sohn durch ein Jahrhundert voller Arbeit und Hunger.

Als die Grégoire überrascht, Cäcilie nicht kommen zu sehen, nach zehn Minuten zu den Maheu zurückkehrten, brachen sie in ein furchtbares Geschrei aus. Cäcilie lag auf der Erde mit blauem Gesichte erwürgt; an ihrem Halse waren die roten Spuren einer Riesenfaust zu sehen. Bonnemort war, auf seinen lahmen Beinen wackelnd, neben ihr zu Boden gesunken und konnte sich nicht erheben. Noch waren seine Hände gekrümmt; er betrachtete die Menschen mit seiner blöden Miene und weit offenen Augen. In seinem Sturze hatte er seine Schüssel zerschlagen; die Asche war verschüttet worden und der Schmutz des schwarzen Speichels hatte die ganze Stube vollgespritzt. Das mitgebrachte Paar plumper Schuhe stand heil und unberührt an der Wand.

Es ist niemals gelungen, den Sachverhalt dieses schrecklichen Ereignisses genau festzustellen. Warum hatte Cäcilie sich ihm genähert? Wie hatte der an seinen Stuhl gefesselte Bonnemort sie am Halse fassen können? Augenscheinlich mußte er, als er sie einmal festhielt, in blinder Wut sie immer stärker gewürgt, ihr Schreien erstickt haben und mit ihr zu Boden gestürzt sein, bis sie mit dem letzten Röcheln den Geist aufgab. Kein Geräusch, keine Klage war durch die dünne Scheidewand des Nachbarhauses gedrungen. Man mußte an einen plötzlichen Tollheitsausbruch glauben, an eine unerklärliche Mordgier bei dem Anblick des weißen Halses dieses Mädchens. Eine solche Wildheit mußte verblüffen bei diesem siechen Greise, der bisher als rechtschaffener Mensch gelebt, als fügsames Tier, allen neuen Gedanken fremd. Welches Rachegelüst –- ihm selbst unbekannt –- war aus seinem Innern in seinen Schädel emporgestiegen? In dem Entsetzen über diese Schauertat gelangte man zu dem Schlusse, daß ein unbewußtes Verbrechen geschehen, das Verbrechen eines Blödsinnigen.

Die Grégoire lagen schluchzend, vom Schmerze erstickt, am Boden vor ihrer angebeteten Tochter, dieser so lang ersehnten Tochter, die sie mit allem Guten überhäuft hatten, zu deren Bett sie auf den Fußspitzen geschlichen waren, um sie schlafen zu sehen, die sie nie genährt genug, nie fett genug gefunden hatten. Mit ihr sank auch ihr eigenes Dasein in Trümmer; wozu fortan noch leben, da sie ohne Gäcilie leben sollten?

Die Levaque schrie außer sich:

»Der alte Lumpenkerl! Was hat er da angerichtet? Wer hätte solches vermuten können?... Und die Maheu wollte heute abend gar nicht heimkehren. Soll ich sie holen?«

Die Eltern der Ermordeten antworteten nicht; sie waren vernichtet.

»Ja, es wird besser sein... Ich gehe sie holen.«

Doch bevor sie hinausging, warf die Levaque ihre Blicke auf die Schuhe. Das Dorf war in Aufregung geraten, die Menge drängte sich schon vor dem Hause; wie leicht könnten die Schuhe gestohlen werden. Auch war bei den Maheu kein Mann mehr da, um sie zu tragen. Sachte trug sie die Schuhe weg; sie mußten dem Bouteloup genau passen.

Das Ehepaar Hennebeau wartete in Réquillart mit Negrel lange auf die Grégoire. Der Ingenieur war aus der Grube heraufgekommen und erzählte Einzelheiten: man hoffe noch am Abend des nämlichen Tages die Verbindung mit den Eingeschlossenen herzustellen, aber man werde sicherlich nur Leichen finden, denn die Totenstille dauere fort. Hinter dem Ingenieur saß die Maheu auf einem Balken und hörte mit bleichem Gesichte seine Mitteilungen an, als die Levaque ankam und ihr die Missetat des Alten erzählte. Sie machte nur eine gereizte und ungeduldige Bewegung, doch folgte sie der Levaque.

Frau Hennebeau glaubte in Ohnmacht fallen zu müssen. Welche Scheußlichkeit! Diese arme Cäcilie, eine Stunde vorher noch lebend und so fröhlich! Herr Hennebeau mußte seine Frau einen Augenblick in die Hütte des alten Mouque eintreten lassen. Mit seinen ungeschickten Händen öffnete er ihr Leibchen, betäubt von dem Moschusdufte, der ihm entströmte. Während sie, in Tränen gebadet, Negrel umfangen hielt, der völlig bestürzt war über diesen Todesfall, welcher dem Heiratsplan ein plötzliches Ende machte, betrachtete der Gatte – von einer Unruhe befreit – die beiden in ihrem Gejammer. Dieser Unglücksfall brachte alles wieder in Ordnung; es war ihm lieber, seinen Neffen zu behalten, damit seine Frau nicht zum Kutscher herabsinke.


 << zurück weiter >>