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Die Piolaine, die Besitzung der Familie Grégoire, lag zwei Kilometer von Montsou nach Osten an der nach Joiselle führenden Straße. Es war ein stilloses, großes, viereckiges Haus, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erbaut. Von dem weiten Bodensitz, der ehemals dazu gehört hatte, waren im ganzen dreißig Hektar verblieben, die mit einer Mauer umfriedet und daher leicht zu bewirtschaften waren. Der Obstgarten und der Gemüsegarten waren besonders berühmt, weil sie die schönsten Früchte und Gemüse der ganzen Gegend lieferten. Es fehlte der Park; ein Wäldchen sollte ihn ersetzen. Die Allee von alten Linden, ein Laubdach von dreihundert Meter Länge, zog sich vom Torgitter bis zur Auffahrt des Hauses und war eine Sehenswürdigkeit in dieser kahlen Ebene, wo man von Marchiennes bis Beaugnies nur wenige große Bäume sehen konnte.
Die Familie Grégoire war heute um acht Uhr aufgestanden. Sie waren Langschläfer und erhoben sich gewöhnlich erst eine Stunde später aus den Betten; allein der Sturm, der in der Nacht gewütet, hatte sie herausgebracht. Während Herr Grégoire sogleich in den Garten ging, um zu sehen, ob der Sturmwind daselbst keinen Schaden angerichtet, begab sich die Frau des Hauses im Morgenkleide von weißem Flanell und in Pantoffeln nach der Küche. Sie war kurz und dick, und obgleich schon achtundfünfzig Jahre alt, hatte ihr dickes Gesicht unter dem schimmernden Weiß ihrer Haare einen kindlichtreuherzigen Ausdruck bewahrt.
»Melanie,« sagte sie der Köchin, »der Teig ist fertig; Sie können den Kuchen jetzt backen. Das Fräulein steht nicht vor einer halben Stunde auf und ißt zu ihrer Schokolade davon... Das wäre eine Überraschung, wie?«
Die Köchin, ein altes, mageres Weib, das seit dreißig Jahren im Hause diente, erwiderte lachend:
»Das ist wahr, es wäre eine schöne Überraschung... Mein Herdfeuer brennt, die Bratröhre ist schon warm. Honorine wird mir übrigens behilflich sein.«
Honorine, ein Mädchen von zwanzig Jahren, von der Familie als verlassenes Kind aufgenommen und erzogen, diente jetzt als Stubenmädchen. Außer diesen beiden Mägden hatte man im Hause noch einen Kutscher Namens Franz, der die groben Arbeiten zu besorgen hatte. Ein Gärtner und eine Gärtnerin hatten sich mit dem Obstgarten, dem Gemüsegarten und dem Hühnerhof zu beschäftigen. Der Dienst im Hause war ein patriarchalischer, vertraulicher; alle lebten in guter Freundschaft miteinander.
Frau Gregoire, die noch in ihrem Bette die Überraschung mit dem Kuchen ausgesonnen hatte, blieb in der Küche, um zu sehen, wie der Kuchen in den Ofen kam. Die Küche war riesig groß, und man merkte, daß sie eine bedeutsame Rolle im Hause spiele, an der außerordentlichen Reinlichkeit, die da herrschte, an der Menge Schüsseln, Geräte und Töpfe, die sie füllten. Es roch nach gesunder, guter Kost. Die Gesimse und Schränke waren voll Vorräte jeder Art.
»Lassen Sie ihn schön goldgelb werden«, empfahl Frau Grégoire ihrer Köchin und begab sich dann in den Speisesaal.
Trotz der Warmluftheizung, die das ganze Haus erwärmte, brannte in diesem Saale ein lustiges Kohlenfeuer. Übrigens fehlte jeglicher Luxus: ein großer Tisch, die nötigen Sessel und ein Eßschrank von Mahagoni; bloß zwei, tiefe Lehnsessel verrieten die Lust an Behaglichkeit, die langen Stunden zufriedener Verdauung. Man ging niemals in den Salon; man blieb im Familienkreise.
Eben kam Herr Grégoire. mit einer dicken Barchentjacke bekleidet, ins Haus zurück. Auch er sah rosig aus für seine sechzig Jahre, mit seinem schneeweißen Haar und seinen gütigen, rechtschaffenen[*t typo?] Zügen. Er hatte den Gärtner und den Kutscher gesprochen; es war keinerlei namhafter Schaden geschehen, bloß ein Schornstein war vom Dache gestürzt. Es war ihm eine liebe Gewohnheit, jeden Morgen sich ein wenig in seiner Wirtschaft Piolaine umzutun, die nicht groß genug war, um ihn Sorgen zu verursachen, und an deren Besitz er seine volle Freude hatte.
»Steht denn Cäcilie heute nicht auf?« fragte er.
»Ich begreife es nicht«, antwortete seine Frau. »Mich dünkt, ich hörte sie schon sich bewegen.«
Der Frühstückstisch war gedeckt; drei Tassen standen auf der weißen Tischdecke. Man schickte Honorine hinauf, daß sie nach dem Fräulein schaue. Doch sie kam sogleich wieder herunter, unterdrückte ihr Lachen und dämpfte ihre Stimme, als habe sie oben in dem Zimmer des Fräuleins gesprochen.
»Ach, gnädiger Herr und gnädige Fraul... Wenn Sie das Fräulein sehen würden!... Sie schläft!... Sie schläft wie ein Jesuskind!... Man hat keine Vorstellung davon... Es ist ein Vergnügen, sie zu sehen...«
Der Vater und die Mutter tauschten gerührte Blicke aus.
»Wollen wir schauen?« fragte er.
»Das liebe Kind!« murmelte sie. »Ich gehe schon.«
Sie gingen zusammen hinauf. Dieses Zimmer war das einzige im Hause, das mit einigem Luxus eingerichtet war, mit blauer Seide überzogen, mit weißen Lackmöbeln ausgestattet. Die Eltern hatten dieser Laune ihres verhätschelten Kindes nachgegeben. In der verschwimmenden Weiße des Bettes, in dem Zwielichte, das durch den Spalt des Vorhanges auf das Lager fiel, schlief das Mädchen, eine Wange auf den nackten Arm gelehnt. Sie war nicht schön, zu frisch, zu gesund, reif mit achtzehn Jahren; aber sie hatte ein herrliches Fleisch, weiß wie Milch, kastanienbraunes Haar, ein rundes Gesicht mit keckem Näschen, das sich schier zwischen den Wangen verlor. Die Bettdecke war herabgeglitten, und sie atmete so sanft, daß ihr Atem selbst ihren – schon kräftig entwickelten – Busen nicht bewegte.
»Der verdammte Wind hat sie gewiß gehindert, die Augen zu schließen«, bemerkte die Mutter leise.
Der Vater winkte ihr, daß sie schweige. Beide neigten sich vor und betrachteten mit zärtlicher Liebe diese in jungfräulicher Entblößung daliegende Tochter, die sie so lange ersehnt hatten und die sie spät bekommen hatten, als sie kaum mehr auf ein Kind zu hoffen wagten. Sie fanden sie vollkommen, nicht zu dick, nie genug genährt. Sie schlief noch immer und ahnte nicht, daß sie da seien und mit ihren Wangen sie fast berührten. Doch jetzt zog ein leichter Schatten über ihr unbewegliches Gesicht. Sie zitterten, daß sie erwachen könne, und gingen auf den Fußspitzen hinaus.
»Still!« sagte Herr Gregoire bei der Tür. »Wenn sie nicht geschlafen hat, muß man sie schlafen lassen.«
»Soviel sie will, das liebe Kind,« erwiderte die Mutter. »Wir werden warten.«
Sie gingen in den Speisesaal hinunter und ließen sich in ihre Lehnsessel nieder, während die Mägde, über den tiefen Schlaf des Fräuleins lachend, ohne Murren die Schokolade warm hielten. Er hatte eine Zeitung zur Hand genommen; sie strickte eine wollene Fußdecke. Es war sehr warm in dem Gemach; kein Laut kam aus dem stillen Hause.
Das Vermögen der Grégoire, ungefähr vierzigtausend Franken Rente, bestand ganz und gar in einer Aktie der Bergwerke von Montsou. Sie erzählten gern von seinem Ursprung, der in die Zeit der Gründung der Gesellschaft fiel.
Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war in der ganzen Gegend von Lille bis Valenciennes eine wahre Wut nach Kohlenschürfungen ausgebrochen. Die Erfolge der Unternehmer, die später die Gesellschaft von Auzin bilden sollten, hatten alle Köpfe erhitzt. In der Gemeinde wurde das Erdreich durchwühlt; Gesellschaften wurden gegründet, die Unternehmungen wuchsen über Nacht hervor. Doch unter allen hartnäckigen Kämpfern jener Zeit hatte der Baron Desrumeaux sicherlich das Andenken des scharfsinnigsten und unermüdlichsten hinterlassen. Vierzig Jahre lang hatte er gekämpft, ohne zu ermüden, trotz unaufhörlicher Hindernisse; die ersten Schürfungen waren vergeblich; neue Gruben wurden angelegt und nach monatelanger Arbeit wieder aufgelassen; Einstürze verschütteten die Gruben, Zechen wurden ersäuft, Arbeiter gingen dabei zugrunde, hunderttausende von Franken wurden in die Erde vergraben. Dann kamen die Verdrießlichkeiten der Verwaltung, die Angst der Aktionäre, der Kampf mit den Grundeigentümern, die entschlossen waren, die königlichen Unternehmungen nicht anzuerkennen, wenn man sich weigere, vorher mit ihnen zu unterhandeln. Endlich gründete er die Gesellschaft Desrumeaux, Franquenoix & Cie., um das Unternehmen von Montsou auszubeuten. Die Gruben begannen einen mäßigen Ertrag zu liefern, als zwei benachbarte Unternehmen von Cougny, Eigentum des Grafen von Cougny, und von Joiselle, Eigentum der Gesellschaft Cornille & Jenard, die Gruben der Gesellschaft Desrumeau mit ihrer furchtbaren Konkurrenz zu erdrücken drohten. Glücklicherweise kam am 25. August 1760 ein Vertrag zwischen den drei Unternehmungen zustande und vereinigte sie zu einer einzigen. Die Gesellschaft der Gruben von Montsou war gegründet, wie sie bis auf den heutigen Tag besteht. Man hatte den ganzen Besitz nach dem damaligen Münzfuße in vierundzwanzig Sous zerlegt; jeder Sou zerfiel in zwölf Denare; das machte zweihundertachtundachtzig Denare. Da jeder gleich zehntausend Franken war, repräsentierte das Kapital eine Summe von nahezu drei Millionen. Desrumeaux, am Ende seiner Kräfte, aber dennoch Sieger, bekam bei der Teilung sechs Sous und drei Denare.
Zu jener Zeit besaß der Baron das Gut Piolaine, zu dem dreihundert Hektar Boden gehörten. Als Verwalter stand Honorius Grégoire in seinen Diensten, ein aus der Picardie stammender junger Mann. Dieser Grégoire war der Urgroßvater des Leon Grégoire, Vaters der Cäcilie. Als der Vertrag von Montsou zustande kam, hatte Honorius fünfzigtausend Franken Ersparnisse, die er in einem Strumpfe verborgen hielt. Der unerschütterlichen Zuversicht seines Gebieters nachgebend, holte er zehntausend Franken aus dem Strumpfe und erwarb einen Denar. Er zitterte dabei vor Angst, daß er seine Kinder berauben könne. Sein Sohn Eugen bezog in der Tat sehr magere Dividenden; da er sich auf den Fuß einer spießbürgerlichen Existenz eingerichtet und überdies die Torheit begangen hatte, die anderen vierzigtausend Franken des väterlichen Erbes in einer unglücklichen Geschäftsunternehmung zu verschleudern, führte er ein ziemlich bedürftiges Leben. Doch der Zinsenertrag des Denars stieg allmählich; die Wohlhabenheit begann mit Felix; ihm gelang es, einen Traum zu verwirklichen, den sein Großvater, der ehemalige Verwalter, seit seiner Kindheit gehegt hatte; er konnte die zum Nationalgut erklärte und zerstückelte Besitzung Piolaine um einen Pappenstiel an sich bringen. Die folgenden Jahre waren jedoch ungünstig; es galt die Abwickelung des revolutionären Umsturzes und das blutige Ende Napoleons zu überdauern. So zog erst Leon Grégoire in erstaunlicher Steigerung die Vorteile aus der zaghaften Kapitalsanlage seines Vorfahren. Mit dem Gedeihen der Gesellschaft wuchsen und gediehen auch diese armseligen zehntausend Franken. Seit dem Jahre 1820 trugen sie hundert Prozent, das sind zehntausend Franken, im Jahre i85o vierzigtausend Franken; vor zwei Jahren endlich war die Dividende auf fünfzigtausend Franken gestiegen; der Wert eines Denars, auf der Börse zu Lille mit einer Million angesetzt, war in einem Jahrhundert auf das Hundertfache gestiegen.
Herr Grégoire, dem man bei dem Kurse von einer Million geraten hatte, seinen Anteil zu verkaufen, hatte mit seiner lächelnden und väterlichen Miene diesen Rat abgelehnt. Sechs Monate später brach eine Industriekrise aus, und der Denar sank auf sechsmalhunderttausend Franken. Doch er lächelte noch immer und bedauerte nichts, denn die Grégoires hatten ein beharrliches Vertrauen zu ihrem Bergwerk. Die Aktien würden sicher wieder steigen. In diese Zuversicht mengte sich, übrigens auch eine tiefe Dankbarkeit für einen Wert, der seit einem Jahrhundert die Familie so schön ernährte, daß sie die Hände in den Schoß legen konnte. Dieser Wert war gleichsam ihre Gottheit, die ihr Egoismus mit einem Kultus umgab; der Wohltäter der Familie, der sich in einem breiten Bette der Trägheit wiegte, an einer leckeren Tafel mästete. Das ging vom Vater auf den Sohn über: warum das Schicksal durch einen Zweifel erzürnen? Auf dem Grunde ihrer Treue lauerte ein abergläubischer Schrecken, die Furcht, daß die Million plötzlich zerfließen könne, wenn sie ihren Anteil zu Geld machten und es in das Spind legten. Sie hielten ihren Schatz für besser gehütet in der Erde, von wo ein Heer von Arbeitern, Geschlechter von Hungerigen ihn für sie heraufholten, jeden Tag etwas, je nach ihren Bedürfnissen.
Übrigens flossen Glück und Segen reichlich auf dieses Haus hernieder. Herr Grégoire hatte in jugendlichem Alter die Tochter eines Apothekers von Marchiennes geheiratet, ein häßliches Fräulein ohne einen Sou, das er anbetete und das ihm an Glückseligkeit alles ersetzte. Sie hatte sich in ihrer Häuslichkeit eingeschlossen, lebte in ewigem Entzücken an der Seite ihres Gatten, hatte keinen andern Willen als den seinigen; niemals hatte eine Verschiedenheit des Geschmacks sie getrennt; dasselbe Ideal der Wohlfahrt vereinigte ihre Wünsche; so lebten sie seit vierzig Jahren in Zärtlichkeit und Sorge füreinander. Es war ein geregeltes Dasein; die vierzigtausend Franken wurden in Ruhe verzehrt, die Ersparnisse für Cäcilie ausgegeben, deren spätes Kommen einen Augenblick ihre Berechnungen ins Schwanken brachte. Auch heute noch befriedigten sie jede ihrer Launen: ein zweites Pferd, noch zwei Wagen, Toiletten aus Paris. Doch dies war ihnen eine Freude; sie fanden nichts zu schön für ihre Tochter, während sie selbst einen solchen persönlichen Widerwillen gegen jeden Prunk hatten, daß sie an den Moden ihrer Jugend festhielten.
Jede Ausgabe, die keinen Nutzen brachte, schien ihnen unsinnig.
Plötzlich ging die Tür auf, und eine kräftige Stimme rief:
»Was heißt das? Man frühstückt ohne mich?«
Es war Cäcilie, die eben aus dem Bette kam, die Augen noch voll Schlaf. Sie hatte in aller Eile ihre Haare aufgesteckt und war in einen Frisiermantel von weißem Wollstoff geschlüpft.
»Nein,« sagte die Mutter, »du siehst ja, daß man dich erwartet hat... Der Wind hat dich wohl an der Nachtruhe gehindert, mein armes Kind?«
Das Mädchen schaute sie sehr erstaunt an.
»Wie? Hat der Wind heute nacht geweht?... Ich weiß nichts davon; ich habe mich nicht gerührt.«
Dies schien ihnen nun dermaßen komisch, daß alle drei zu lachen begannen; die Mägde, die das Frühstück brachten, lachten mit, belustigt von dem Gedanken, daß das Fräulein zwölf Stunden in einem Zuge geschlafen habe. Der Anblick des Kuchens tat das seinige, alle Gesichter vollends zu erheitern.
»Wie? Der Kuchen ist schon fertig?« rief Cäcilie wiederholt. »Da hat man mir eine Falle gelegt... Ach, er ist noch ganz warm... Wie gut wird sich das zur Schokolade essen lassen!...«
Endlich setzten sie sich zu Tische; die Schokolade dampfte in den Tassen; man sprach lange nur von dem Kuchen. Melanie und Honorine blieben da und erzählten, wie er sich so schön gebacken habe; sie betrachteten ihre Gebieter, wie sie mit fetten Lippen sich damit stopften, und meinten, es sei ein Vergnügen, einen Kuchen zu backen, wenn man sehe, wie die Herrschaft ihn gar so gern esse.
Doch jetzt begannen die Hunde laut zu bellen; man glaubte, sie kündeten die Ankunft der Klavierlehrerin, die jeden Montag und Freitag von Marchiennes kam. Es kam auch ein Professor für Literatur. Die ganze Ausbildung des Mädchens ging so in der Piolaine selbst vor sich in einer glücklichen Unwissenheit unter tausend Launen eines Kindes, welches das Buch zum Fenster hinauswarf, sobald eine Frage es langweilte.
»Es ist Herr Deneulin«, meldete Honorine.
Deneulin, ein Vetter des Herrn Grégoire, folgte ihr auf dem Fuße ohne Umstände und sehr geräuschvoll mit dem lebhaften Auftreten eines Kavallerieoffiziers. Obgleich er die Fünfzig schon hinter sich hatte, waren seine kurz geschorenen Haare und sein Schnurrbart schwarz wie Tinte.
»Ja, ich bin's. Guten Morgen!... Laßt euch nicht weiter stören!«
Er nahm Platz, während die Familie sich dagegen verwehrte, als könne er sie stören. Endlich fuhren sie fort, ihre Schokolade zu trinken.
»Hast du mir vielleicht etwas zu sagen?« fragte Herr Grégoire.
»Nein, nichts«, beeilte sich Herr Deneulin zu antworten. »Ich bin ausgeritten, um mir ein wenig Bewegung zu machen, und wollte nicht an eurer Tür vorbei, ohne euch guten Tag zu sagen.«
Cäcilie fragte nach seinen Töchtern: Johanna und Luzie. Sie befanden sich vollkommen wohl; die erstere saß unablässig bei ihrer Malerei, während die andere, die ältere, vom Morgen bis zum Abend am Klavier saß und ihre Stimme übte. Während er dies sagte, zitterte seine Stimme leicht und klang ein Unbehagen durch, das seine geräuschvolle Heiterkeit nur unvollkommen verdeckte.
»Und wie geht's in der Grube?« fragte Herr Grégoire weiter.
»Mein Gott! Die dumme Krise trifft mich geradeso wie die andern... Wir büßen jetzt für die guten Jahre! Man hat in der Hoffnung auf eine ungeheure Produktion zuviel Fabriken, zuviel Eisenbahnen gebaut, zu große Kapitalien festgelegt. Heute verkriecht sich das Geld; man findet nicht mehr genug, um den ungeheuren Betrieb aufrechtzuerhalten. Glücklicherweise ist nicht alles verloren, und ich werde mich schon durchkämpfen.«
Gleich seinem Vetter hatte auch er einen Anteil der Kohlengruben von Montsou geerbt. Doch er, der unternehmende Ingenieur, hatte sich von der Gier nach einem königlichen Reichtum geplagt, beeilt zu verkaufen, als der Anteil auf den Wert einer Million gestiegen war. Seit Monaten erwog er einen Plan. Seine Frau hatte von einem Oheim das kleine Grubenunternehmen von Vandame geerbt, wo nur zwei Schächte offen waren, Jean-Bart und Gaston-Marie, und diese in einem so verwahrlosten Zustande, so kläglich ausgerüstet, daß ihr Betrieb kaum die Kosten deckte. Sein Plan war, Jean-Bart instandzusetzen, den Zufahrtsschacht zu erweitern, damit mehr Leute anfahren könnten, während der Schacht Gaston-Marie bloß der Kohlenförderung dienen sollte. Das Geld müsse in Scheffeln zu holen sein, meinte er. Der Plan war richtig; allein, er hatte die Million aufgezehrt, und diese unglückselige Industriekrise brach in dem Augenblicke aus, wo die reichen Erträgnisse der Grube ihm rechtgeben sollten. Er war überdies ein schlechter Verwalter, hatte plötzliche Anwandlungen von Güte seinen Arbeitern gegenüber und ließ sich ausplündern, seitdem seine Frau tot war. Auch ließ er seinen Töchtern volle Freiheit; die ältere sprach davon, zum Theater zu gehen, die jüngere hatte sich im Salon schon drei Bilder zurückweisen lassen; übrigens bewahrten beide ihre gute Laune. Inmitten des Zusammenbruches ihres Hauses und angesichts der drohenden Armut entpuppten sich beide als sehr gute Haushälterinnen.
»Siehst du, Leon,« fuhr er mit zögernder Stimme fort, »du hattest unrecht, nicht zu verkaufen, als ich es tat. Jetzt sinken alle Aktien im Werte, du kannst hinterdreinlaufen... Hättest du mir dein Geld anvertraut, dann hättest du gesehen, was wir aus Vandame gemacht hätten.«
Herr Grégoire trank bedächtig seine Schokolade. Als er damit fertig war, antwortete er ruhig:
»Niemals!... Du weißt ja, ich mag nicht spekulieren. Ich lebe ruhig und wäre dumm, wollte ich mir den Kopf mit Geschäftssorgen zerbrechen. Was Montsou betrifft, so mögen die Aktien noch weiter im Werte sinken, wir werden unsere Bedürfnisse doch immer gedeckt sehen. Man muß es nicht gar zu fein haben wollen, zum Teufel! Übrigens sage ich dir, du beißt dir eines Tages in die Finger, denn Montsou wird sich wieder heben und noch Cäciliens Kindeskinder werden ihr gutes Auskommen haben.«
Deneulin hörte ihm mit einem verlegenen Lächeln zu.
»Wenn ich dir also vorschlagen würde,« murmelte er, »hunderttausend Franken in meinem Unternehmen anzulegen, würdest du ablehnen?«
Angesichts der bestürzten Gesichter der Familie Grégoire bedauerte er, seine Sache überhastet zu haben; er verschob diesen Anleiheplan auf ein anderes Mal, wenn die Lage sich noch mehr verschlimmern sollte.
»Ich bin noch nicht so weit, es war nur ein Scherz«, sagte er. »Mein Gott! Du hast vielleicht recht: von dem Gelde, das uns andere erworben, wird man am sichersten fett.«
Man sprach jetzt von etwas anderem. Cäcilie fragte wieder nach ihren Basen, deren künstlerische Neigungen sie interessierten, wenngleich sie ihr mißfielen. Frau Grégoire versprach, an dem nächsten sonnigen Tage mit ihrer Tochter die lieben Kinder zu besuchen. Indes war Herr Gregoire zerstreut und nicht bei der Sache. Er bemerkte laut:
»Ich an deiner Stelle würde den eigensinnigen Widerstand aufgeben und in Unterhandlungen mit der Gesellschaft von Montsou eintreten. Diese verlangt nichts Besseres, und du würdest wieder zu deinem Gelde kommen.« Er spielte damit auf die alte Freundschaft an, die zwischen dem Unternehmen von Montsou und von Vandame bestand. Obgleich das letztere wenig Bedeutung hatte, ärgerte sich die mächtige Nachbarin, weil sie zwischen ihre siebenundsechzig Gemeinden diese Geviertmeile eingekeilt sah, die nicht ihr gehörte; nachdem sie vergeblich den Versuch, gemacht hatte, das Unternehmen Vandame umzubringen, rechnete sie jetzt darauf, es zu einem niedrigen Preis an sich zu bringen, wenn es sich in Nöten befand. Es war ein Krieg ohne Waffenruhe; die beiderseitigen Betriebe näherten ihre Galerien nicht weiter als bis auf zweihundert Meter; es war ein Zweikampf bis zur Erschöpfung, wenngleich die beiderseitigen Direktoren und Ingenieure freundschaftlichen Verkehr miteinander pflogen.
Jetzt flammten die Augen Deneulins auf.
»Niemals!« rief er. »Solange ich lebe, soll Montsou Vandame nicht haben... Ich habe Donnerstag bei Hennebeau gespeist und wohl bemerkt, daß er wieder an mich heran wollte. Schon im vorigen Herbst, als die Spitzen der Verwaltung da waren, um die Gruben zu besichtigen, legte man allerhand Köder... Ja, ja, ich kenne sie, diese Marquis und diese Herzöge, diese Generäle und diese Minister! Lauter Räuber, die einem das letzte Hemd nehmen möchten!«
Er ward nicht müde, über diese Leute zu schimpfen. Herr Grégoire nahm übrigens nicht die Verwaltung von Montsou in Schutz, die im Sinne des Vertrages vom Jahre 1760 eingesetzten sechs Geschäftsleiter, welche die Gesellschaft mit unumschränkter Gewalt regierten und deren fünf, wenn einer starb, das fehlende Mitglied unter den reichen Großaktionären wählten. Der Besitzer von Piolaine mit seinen vernünftigen Ansichten war der Meinung, daß diese Herren in ihrer übertriebenen Geldgier zuweilen jedes Maß überschritten.
Inzwischen hatte Melanie den Tisch abgeräumt. Draußen begannen die Hunde wieder zu bellen, und Honorine wandte sich zur Tür, um nachzusehen; doch Cäcilie, der es in dem Zimmer von dem genossenen Frühstück zu warm wurde, erhob sich vom Tische und rief der Magd zu:
»Nein, laß nur; es wird die Lehrerin sein.«
Deneulin hatte sich gleichfalls erhoben. Er blickte dem Mädchen nach und fragte lachend, als sie draußen war:
»Wird etwas aus der Heirat mit dem kleinen Negrel?«
»Es ist noch nichts bestimmt«, antwortete Frau Grégoire ... »Ein Gedanke, der noch erwogen werden müßte.«
»Gewiß«, rief er mit einem vielsagenden Lachen. »Ich glaube, daß zwischen dem Neffen und der Tante ... Mich nimmt am meisten wunder, daß Frau Hennebeau selbst Cäcilie gegenüber so liebenswürdig tut.«
Doch Herr Grégoire widersprach der hier angedeuteten Vermutung. Eine so vornehme Dame und vierzehn Jahre älter als der junge Mann! Das sei ungeheuerlich; er liebe nicht, daß man mit solchen Gegenständen Spaß treibe. Deneulin lachte noch immer und drückte ihm die Hand zum Abschiede.
»Es ist wieder nicht die Lehrerin«, sagte Cäcilie zurückkehrend. »Es ist die Frau mit den zwei Kindern... Du weißt wohl, Mama, die Grubenarbeiterfrau, die wir neulich getroffen haben... Soll man sie hereinlassen?«
Man zögerte eine Weile. Waren sie sehr schmutzig? Nein, nicht zu sehr; auch ließen sie ihre Holzschuhe draußen. Vater und Mutter hatten sich schon in ihren großen Lehnsesseln ausgestreckt, um zu verdauen. Die Scheu vor einem Luftwechsel brachte sie zur Entscheidung.
»Honorine, lassen Sie sie eintreten.«
Die Frau Maheu und ihre Kinder traten ein, frierend und hungernd, von einer ängstlichen Scheu ergriffen in diesem Gemach, wo es so warm war und so gut nach Kuchen roch.