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»Höre Mann,« sagte die Maheu zu ihrem Gatten, »wenn du nach Montsou gehst, um deinen Lohn in Empfang zu nehmen, bringe mir ein Pfund Kaffee und ein Kilo Zucker mit.«
Maheu war damit beschäftigt, einen seiner Schuhe zu flicken, um so den Schuster zu ersparen.
»Gut«, brummte er, ohne in seiner Arbeit innezuhalten.
»Ich möchte auch, daß du zum Fleischer gehst. Ein Stück Kälbernes wäre nicht schlecht; wir haben schon lange keines gesehen.«
Jetzt blickte er auf.
»Glaubst du denn, ich habe Tausende zu bekommen? ... Der Halbmonatlohn wird mager ausfallen, in Anbetracht daß sie fortwährend die Arbeit unterbrechen lassen.«
Jetzt schwiegen beide. Es war nach dem Frühstück an einem Sonnabend zu Ende des Oktober. Unter dem Vorwande, daß die Lohnauszahlung störe, hatte die Gesellschaft heute wieder die Kohlenförderung in allen Schächten eingestellt. Angesichts der immer drückenderen industriellen Krise und weil sie die ohnehin großen Vorräte nicht noch mehr vergrößern wollte, war ihr jeder Vorwand gut genug, um ihre zehntausend Arbeiter feiern zu lassen.
»Du weißt, daß Etienne dich bei Rasseneur erwartet«, fuhr die Maheu fort. »Er wird pfiffiger sein als du, um sich herauszuhauen, wenn man euch die Arbeitsstunden nicht richtig berechnen sollte.«
Maheu nickte zustimmend.
»Sprich auch mit den Herren wegen deines Vaters. Der Arzt steckt da mit der Direktion sicherlich unter einer Decke ... Nicht wahr, Alter, der Doktor irrt sich; ihr könnt noch arbeiten?«
Seit zehn Tagen saß Vater Bonnemort mit steifen Beinen auf einem Sessel wie angenagelt. Die Maheu mußte die Frage wiederholen; dann brummte er:
»Gewiß werde ich arbeiten. Wenn man schlechte Beine hat, ist man doch noch nicht fertig. Das sind so Geschichten, die sie nur erfinden, um mir nicht meine Pension von hundertachtzig Franken geben zu müssen.«
Die Maheu dachte an die vierzig Sous Taglohn, die ihr der Alte vielleicht nie wieder bringen werde, und dieser Gedanke erpreßte ihr einen Angstschrei.
»Mein Gott, wir werden bald alle tot sein, wenn das so fortdauert.«
»Wenn man tot ist, hat man keinen Hunger«, sagte Maheu.
Er schlug noch einige Nägel in seine Schuhe und machte sich endlich auf den Weg. Das Dorf der Zweihundertvierzig sollte erst um vier Uhr abgelohnt werden. Die Männer beeilten sich denn auch nicht sehr, verweilten auf der Straße, gingen einer nach dem andern, verfolgt von ihren Weibern, die sie baten, sogleich zurückzukehren. Viele gaben ihren Männern Aufträge, um sie zu hindern, sich in den Schenken zu vergessen.
Etienne war bei Rasseneur eingetreten, um Neuigkeiten einzuholen. Allerlei beunruhigende Gerüchte waren in Umlauf; man erzählte, die Gesellschaft sei mit den Verholzungen immer unzufriedener. Es regnete Geldstrafen auf die Arbeiter nieder; ein Zerwürfnis schien unausweichlich. Das war übrigens nur der eingestandene Zwist, unter dem sich geheime und ernste Ursachen bargen.
Eben als Etienne ankam, erzählte ein Kamerad, der von Montsou zurückgekehrt seinen Schoppen trank, daß bei dem Kassierer eine Kundmachung angeschlagen sei; aber er wisse nicht, was darin enthalten sei. Es kam ein zweiter und ein dritter, und jeder brachte eine andere Geschichte. Es schien indes sicher, daß die Gesellschaft einen Entschluß gefaßt habe.
»Was sagst du dazu?« fragte Etienne, indem er sich zu Suwarin setzte, der nichts als ein Bündel Tabak auf dem Tische vor sich liegen hatte.
Der Maschinist beeilte sich nicht mit der Antwort. Er drehte sich langsam eine Zigarette und entgegnete schließlich:
»Es war leicht vorauszusehen; man wird euch zum äußersten drängen.«
Er allein war scharfsinnig genug, die Lage zu deuten.
Er erklärte sie ihnen in seiner ruhigen Art. Von einer Krise heimgesucht, sei die Gesellschaft genötigt, die Kosten zu vermindern, wenn sie nicht zusammenbrechen wolle; natürlich müßten zunächst die Arbeiter Opfer bringen; ihnen werde man unter irgendwelchem Vorwande die Löhne beschneiden. Seit zwei Monaten liege die Kohle aufgehäuft, fast alle Fabriken feierten. Da sie nicht auch ihrerseits den Betrieb einstellen wolle, weil die Untätigkeit des kostbaren Materials ihr verderblich werden könne, müsse sie an einen Ausweg denken, vielleicht an einen Streik, aus dem ihr Volk von Bergleuten bezwungen und mit verkürzten Löhnen hervorgehen werde. Endlich war sie auch durch die neue Unterstützungskasse beunruhigt; diese drohte eine Gefahr für die Zukunft zu werden, während ein Streik sie von ihr befreien werde, indem sie noch wenig kapitalskräftig durch den Arbeitsausstand bald geleert werde.
Rasseneur hatte sich zu Etienne gesetzt, und beide hörten mit verstörten Mienen zu. Man konnte laut sprechen; es war niemand da außer Frau Rasseneur, die am Schanktische saß.
»Welch Gedanke!« murmelte der Schankwirt. »Wozu all das? Die Gesellschaft hat kein Interesse an dem Streik, und die Arbeiter noch weniger. Es ist das beste, sich zu verständigen.«
Das war sehr klug gesprochen. Er war stets für einen vernünftigen Ausgleich. Seit der schnellen Volkstümlichkeit seines ehemaligen Mieters übertrieb er noch dieses System des mäßigen Fortschritts, indem er sagte, man erlange gar nichts, wenn man alles auf einmal haben wolle. In die Gemütlichkeit eines wohlgenährten Bierwanstes mengte sich ein geheimer Neid, noch verschärft durch den Rückgang seiner Gastwirtschaft, welche jetzt die Bergleute vom Voreuxschachte seltener besuchten, um da zu trinken und ihm zuzuhören. So kam es, daß er manchmal sogar die Gesellschaft verteidigte, indem er den Groll eines ehemaligen entlassenen Grubenarbeiters vergaß.
»Du bist also gegen den Streik?« rief Frau Rasseneur hinter ihrem Schankpulte.
Als er ein energisches Ja zur Antwort gab, hieß sie ihn schweigen.
»Du hast keinen Mut; laß die Herren reden!«
Etienne saß nachdenklich hinter dem Schoppen, den sie ihm gebracht hatte. Endlich schaute er auf.
»Was der Kamerad da sagt, ist sehr wohl möglich, und wir werden uns zum Streik entschließen müssen, wenn man uns dazu zwingt. Pluchart hat mir darüber in seinem letzten Briefe sehr vernünftige Ratschläge gegeben. Auch er ist gegen den Streik; denn der Arbeiter leidet darunter geradeso wie der Arbeitgeber, ohne zu etwas Entscheidendem zu gelangen. Allein er erblickt darin eine vortreffliche Gelegenheit, um unsere Leute zum Eintritt in seinen Bund zu stimmen ... Doch hier sein Brief.«
Trostlos wegen des Mißtrauens, dem die Internationale bei den Bergleuten von Montsou begegnete, hoffte Pluchart in der Tat auf einen massenhaften Anschluß von ihrer Seite in dem Falle, daß ein Konflikt sie nötige, den Kampf mit der Gesellschaft aufzunehmen. Trotz seiner Bemühungen hatte Etienne nicht eine einzige Mitgliedskarte an den Mann bringen können; er ließ übrigens den Hauptteil seines Einflusses der von ihm gegründeten Unterstützungskasse zugutekommen, die eine weit bessere Aufnahme fand. Allein diese Kasse war noch so arm, daß sie bald erschöpft sein mußte, wie Suwarin sagte, und die Ausständigen würden sich dann unabwendbar dem Arbeiterbunde in die Arme werfen, damit ihre Brüder aus allen Ländern ihnen zu Hilfe kämen.
»Wieviel haben Sie in der Kasse?« fragte Rasseneur.
»Kaum dreitausend Franken«, erwiderte Etienne. »Vorgestern hat die Direktion mich rufen lassen. Sie sind sehr höflich; sie erklärten mir wiederholt, daß sie ihre Arbeiter nicht hindern würden, sich einen Reservefonds zu gründen. Aber ich merkte wohl, daß sie die Kontrolle darüber haben möchten ... In allen Fällen haben wir von dieser Seite einen Kampf zu gewärtigen.«
Der Schankwirt ging jetzt auf und ab und pfiff mit geringschätziger Miene vor sich hin. Dreitausend Franken! Was will man damit anfangen? Das gibt nicht für sechs Tage Brot, und wenn man auf Fremde rechne, auf Leute, die in England wohnten, sei es gleich besser, sich hinzulegen und zu verrecken. Nein, der Streik sei eine zu große Dummheit, meinte er.
Zum erstenmal wurden scharfe Worte zwischen diesen beiden Männern gewechselt, die in ihrem gemeinsamen Haß gegen das Kapital sich sonst immer verstanden.
»Was sagst du dazu?« wiederholte Etienne, zu Suwarin gewendet.
Dieser erwiderte in seiner gewohnten verächtlichen Weise:
»Die Streiks sind blöd!«
Inmitten der verdrossenen Stille, die eingetreten war, fügte er sanft hinzu:
»Ich sage nicht nein, wenn es euch Vergnügen macht. Es ruiniert die einen, es tötet die anderen, und es wird immerhin einige hinwegfegen ... Allein in diesem Tempo kann es tausend Jahre dauern, bis die Welt erneuert wird. Ihr müßt damit beginnen, den Kerker in die Luft zu sprengen, wo ihr alle die Haut lasset!«
Er zeigte mit seiner feinen Hand nach dem Voreux, dessen Gebäude man durch die offene Tür sehen konnte. Doch ein unvorhergesehener Zwischenfall unterbrach ihn. Polen, das dicke Hauskaninchen, das sich hinausgewagt hatte, stürzte mit einem Satze herein, vor den Steinwürfen einer Schar Jungen flüchtend; mit eingezogenem Schwanze und hängenden Ohren floh das Tier entsetzt zwischen seine Beine und kratzte flehend daran, damit er es auf seinen Schoß nehme. Als er das Tier auf seine Knie gelegt hatte und beide Hände schützend darüber breitete, versank er wieder in jene Träumerei, in die das Streicheln dieses seidenweichen, warmen Felles ihn jedesmal versetzte.
In diesem Augenblicke kam Maheu; er wollte nichts trinken, trotzdem Frau Rasseneur ihm so freundlich zuredete, als wolle sie ihr Bier verschenken und nicht verkaufen. Etienne hatte sich erhoben, und beide brachen auf nach Montsou.
An Zahltagen ging es in Montsou lustig her, ganz so wie an Kirmessonntagen. Aus allen Dörfern kamen die Arbeiter in hellen Scharen herbei. Da das Büro des Kassier sehr klein war, zogen sie es vor, vor der Tür zu warten; sie standen in Gruppen auf der Straße, und es kamen immer neue Leute hinzu, so daß sie schließlich den Weg verrammelten. Fliegende Handelsleute benützten die Gelegenheit, schlugen ihre fahrenden Basare auf und verkauften alles, selbst Kochgeschirr und Wurstsachen. Vor allem aber hatten die Weinschenken und Branntweinhäuser ihre guten Einnahmen, denn die Arbeiter tranken vor und nach der Zahlung; die Leichtfertigeren unter ihnen machten dann auch noch beim »Vulkan« einen Besuch.
In dem Maße, als Maheu und Etienne durch die Gruppen schritten, merkten sie, daß an diesem Tage eine dumpfe Erbitterung um sich griff. Es herrschte nicht die gewöhnliche Sorglosigkeit, mit der das Geld in Empfang genommen und ein Teil davon gleich in den Schenken ausgegeben wurde. Man ballte die Fäuste, und heftige Reden gingen von Mund zu Mund.
»Ist's denn wirklich wahr?« fragte Maheu Chaval, den er vor Piquettes Herberge traf. »Haben sie wirklich die Schmutzigkeit begangen?«
Chaval antwortete mit einem wütenden Gebrumme, wobei er einen hämischen Blick auf Etienne warf. Seitdem sie einen neuen Schlag erstanden, hatte er sich bei einer anderen Gruppe eingedungen; ihn verzehrte allmählich der Neid gegen den Kameraden, diesen Neuangekommenen, der den Herrn spielte und dem – wie er sich ausdrückte – das ganze Dorf die Stiefel leckte. Die Sache verwickelte sich durch einen Zwist der Verliebten; Chaval konnte Katharina nicht mehr nach Réquillart oder hinter den Hügel führen, ohne sie in abscheulichen Worten zu beschuldigen, daß sie bei dem Mieter ihrer Mutter schlafe; dann wieder brachte er, von einer wilden Begierde nach ihr ergriffen, sie schier um mit seinen Liebkosungen.
Maheu richtete jetzt eine zweite Frage an ihn.
»Ist der Voreuxschacht an der Reihe?«
Als der andere sich umdrehte, nachdem er mit dem Kopfe genickt, entschlossen die beiden Männer sich endlich, den Werkhof zu betreten.
Die Kasse war ein kleiner, rechtwinkeliger Raum, durch ein Gitter quer abgeteilt; mehrere Arbeiter warteten auf einer Bank, während der Kassier, von einem Beamten unterstützt, einem Arbeiter, der mit seiner Mütze in der Hand vor dem Schalter stand, seinen Lohn auszahlte. Oberhalb der Bank war ein gelber Anschlagzettel an der Wand befestigt, der von dem angerauchten Grau der Wand grell abstach. Vor dem Kassenschalter und dem Anschlagzettel zogen die Arbeiter seit dem Morgen in ununterbrochener Folge vorbei. Sie kamen zu zweien oder dreien, standen eine Weile und gingen dann wortlos weiter, die Achseln zuckend, als habe man ihnen das Rückgrat gebrochen.
Vor dem Anschlagzettel standen eben zwei Bergleute, ein junger mit einem viereckigen Tierschädel und ein alter, ganz magerer, schon dumm im Gesichte. Weder der eine noch der andere konnte lesen; der junge buchstabierte, die Lippen bewegend, der alte begnügte sich blöd dreinzuschauen. Viele kamen so herein, nur um zu schauen, ohne die Sache zu verstehen.
»Lies uns das vor«, sagte Maheu seinem Gefährten, weil er im Lesen nicht besonders fest war.
Etienne begann den Zettel zu lesen. Es war eine Kundmachung der Gesellschaft an die Arbeiter sämtlicher Gruben. Sie teilte ihnen mit, daß angesichts der geringen Sorgfalt, mit der die Verzimmerung geschehen, und nachdem sie es müde geworden, fruchtlose Geldstrafen zu verhängen, sie den Entschluß gefaßt habe, für den Kohlenschlag eine neue Zahlungsweise einzuführen. Künftig werde sie die Verholzung gesondert bezahlen, nach dem Kubikmeter Holz, das hinabgeschafft und verwendet werde, wobei die zu einer guten Arbeit erforderliche Mindestmenge zugrunde gelegt werden solle. Natürlich werde der Preis eines Karrens Kohle herabgesetzt werden, und zwar im Verhältnisse von fünfzig Centimes auf vierzig, wobei übrigens die Beschaffenheit und Entfernung der Schläge in Betracht kommen solle. Zugleich wurde der Versuch gemacht, vermittels einer ziemlich unklaren Berechnung festzustellen, daß diese Herabsetzung von zehn Centimes durch den Lohn für die Verholzung wettgemacht werde. Die Gesellschaft fügte übrigens hinzu, daß sie jedem Zeit lassen wolle, sich von den Vorteilen der neuen Zahlungsweise zu überzeugen und sie daher erst am Montag, den 1. Dezember einführen wolle.
»Lest nicht so laut!« rief der Kassier. »Man hört sein eigenes Wort nicht.«
Etienne las den Zettel zu Ende, ohne sich um diese Bemerkung zu kümmern. Seine Stimme bebte, und als er geendigt hatte, fuhren alle fort, starr auf den Zettel zu schauen. Der alte und der junge Bergmann schienen noch auf etwas zu warten, dann gingen auch sie mit eingezogenen Schultern.
»Herrgott!« brummte Maheu.
Er und sein Gefährte saßen jetzt auf der Bank und verloren sich gesenkten Hauptes in Berechnungen, während der Zug vor dem gelben Zettel fortdauerte. Wollte man sich über sie lustig machen? Niemals würden sie bei der Verholzung die zehn Centimes hereinbringen, die sie bei dem Karren Kohle einbüßten. Höchstens würden sie acht Centimes verdienen, und so betrüge die Gesellschaft sie um zwei Centimes, die Zeit ungerechnet, die eine sorgfältigere Arbeit ihnen rauben werde. Darauf also zielte sie ab: auf eine versteckte Lohnverminderung! Aus der Tasche ihrer Arbeiter holte sie sich Ersparnisse.
»Herrgott noch einmal!« wiederholte Maheu aufblickend. »Wir sind Hundsfötter, wenn wir uns das gefallen lassen.«
Doch jetzt war der Schalter frei, und er trat näher, um seinen Lohn in Empfang zu nehmen. Bloß die Vorsteher der Schläge erschienen an der Kasse und teilten dann das Geld unter ihre Leute, wodurch Zeit erspart wurde.
»Maheu und Genossen,« sagte der Beamte; »Filonnièreader, Schlag Nummer sieben.«
Er suchte in den Listen, die man mit Hilfe der Arbeitsbücher zusammenstellte, in denen die Aufseher Tag für Tag die gelieferten Karren verzeichneten. Dann wiederholte er:
»Maheu und Genossen, Filonnièreader, Schlag Nummer sieben... Hundertfünfunddreißig Franken.«
Der Kassier zahlte.
»Um Vergebung, Herr,« stammelte der Häuer betroffen; »sind Sie sicher, daß Sie sich nicht täuschen?«
Er betrachtete das wenige Geld, ohne es vom Tische zu nehmen. Ein Frösteln überlief ihn und schlich ihm bis ans Herz. Wohl war er auf einen schlechten Halbmonatlohn gefaßt; aber so wenig konnte es nicht sein, oder er müßte schlecht gerechnet haben. Wenn er Zacharias, Etienne und den andern Kameraden, der an Chavals Stelle gekommmen war, befriedigt hätte, würden ihm höchstens fünfzig Franken bleiben für seinen Teil, für seinen Vater, für Katharina und Johannes.
»Nein, nein, ich täusche mich nicht«, sagte der Beamte. »Zwei Sonntage und vier Arbeitsruhetage müssen in Abzug gebracht werden; das macht für euch neun Arbeitstage – nicht?«
Maheu verfolgte diese Berechnung und rechnete im stillen nach; neun Tage zahlten ihm ungefähr dreißig Franken, Katharina achtzehn, Johannes neun. Vater Bonnemort hatte nur drei Tage. Gleichviel, wenn er die zweiundachtzig Franken für Zacharias und die zwei anderen Kameraden hinzunahm, mußte es mehr ausmachen.
»Und vergeßt die Strafen nicht!« schloß der Beamte. »Zwanzig Franken für schlechte Verholzungen.«
Der Häuer machte eine verzweifelte Gebärde. Zwanzig Franken Strafe, vier Tage Arbeitsruhe! So stimmte die Rechnung. Wenn er bedachte, daß er Halbmonatslöhne bis zu hundertfünfzig Franken heimbrachte, als Vater Bonnemort noch arbeitete und Zacharias noch nicht verheiratet war!
»Nehmt ihr das Geld endlich?« rief der Kassier ungeduldig. »Ihr seht doch wohl, daß ein anderer wartet... Wenn Ihr es nicht wollt, sagt es!«
Als Maheu sich endlich entschloß, mit seiner plumpen, zitternden Hand das Geld aufzulesen, hielt der Beamte ihn zurück.
»Halt, ich habe Euch noch was zu sagen. Ihr seid wohl Toussaint Maheu?... Der Herr Generalsekretär wünscht mit Euch zu reden. Geht hinein, er ist allein.«
Der Arbeiter begab sich ganz betäubt in das mit altem Mahagoni möblierte, mit grünem, verschossenen Rips überzogene Arbeitskabinett des Generalsekretärs. Dieser, ein großer, blasser Herr, sprach über die Papiere seines Schreibpultes hinweg, und ohne sich zu erheben, fast fünf Minuten lang zu ihm. Maheu hörte ihm zu, aber seine Ohren summten dermaßen, daß er ihn nicht verstand. Er begriff nur unvollkommen, daß von seinem Vater die Rede sei, der mit hundertundfünfzig Franken pensioniert werden sollte, nach dem Verhältnis eines Lebensalters von fünfzig Jahren und einer Dienstzeit von vierzig Jahren. Dann schien es ihm, als schlage der Generalsekretär einen rauheren Ton an. Es war eine Strafpredigt; man beschuldigte ihn, daß er sich mit Politik befasse; es folgte eine Anspielung auf seinen Mieter und auf die Unterstützungskasse; endlich riet man ihm, daß er als einer der besten Arbeiter der Grube sich nicht in solche Torheiten mengen solle. Er wollte protestieren, konnte aber nur einige zusammenhanglose Worte hervorbringen; er drehte seine Mütze zwischen den fieberhaft erregten Fingern und zog sich zurück, wobei er stammelte:
»Gewiß, Herr Sekretär... Ich versichere, Herr Sekretär ...«
Als er draußen Etienne traf, der seiner harrte, brach er los.
»Ich bin ein Tölpel! Ich hätte ihm antworten sollen!... Kein Brot zu essen und noch Schmähungen dazu... Ja, auf dich hat man es abgesehen. Er sagte mir, du habest das ganze Dorf verpestet. Was soll man tun? Den Nacken beugen und sich schön bedanken. Er hat recht; das ist das Vernünftigste.«
Maheu schwieg, von Zorn und Furcht ergriffen, Etienne stand nachdenklich mit finsterer Miene da. Abermals durchschritten sie die Gruppen, die den Weg verrammelten. Die Erbitterung wuchs; es war die Erbitterung eines ruhigen Volkes; ein unheilkündendes Murren ohne heftige Gebärden, das furchtbar über dieser schwerfälligen Masse lagerte. Die Wut kehrte sich vornehmlich gegen diese verhängnisvolle Lohnzahlung; es war der Aufruhr des Hungers gegen die Arbeitsruhetage und gegen die Strafen. Man erwarb nicht mehr genug, um zu essen; wie sollte es erst werden, wenn die Löhne noch weiter beschnitten würden? In den Schenken machte sich der Groll in lauten Reden Luft und trocknete dermaßen die Kehlen aus, daß das wenige Geld, das man bekommen hatte, auf den Schanktischen zurückblieb.
Auf dem Heimwege wechselten Maheu und Etienne kein Wort. Als ersterer in die Stube trat, bemerkte die mit den Kindern allein anwesende Hausmutter sogleich, daß er die Hände leer hatte.
»Du bist aber gut!« rief sie. »Wo bleibt mein Kaffee, mein Zucker, mein Fleisch? Ein Stück Kälbernes hätte dich auch nicht zugrunde gerichtet.«
Er antwortete nicht; eine Aufregung, die er nur mit Mühe niederhielt, schnürte ihm die Kehle zu. Dann schwellte die Verzweiflung das rauhe Gesicht dieses durch die Bergarbeit abgehärteten Mannes, und schwere Tränen stürzten aus seinen Augen. Er war auf einen Stuhl hingesunken, weinte wie ein Kind und warf die fünfzig Franken auf den Tisch.
»Da hast du,« stammelte er; »das ist alles, was ich dir bringe... Das ist unser aller Arbeitslohn.«
Frau Maheu blickte auf Etienne, der in stummer Niedergeschlagenheit verharrte. Da weinte auch sie. Wie sollen neun Personen zwei Wochen lang von fünfzig Franken leben? Ihr Ältester hatte sie verlassen, der Großvater konnte nicht mehr die Beine bewegen: da sei man nicht mehr weit vom Hungertode. Alzire warf sich der Mutter um den Hals, ganz trostlos, weil sie sie weinen hörte. Estelle heulte, Leonore und Heinrich schluchzten.
Im ganzen Dorfe erhob sich alsbald der nämliche Notschrei. Die Männer waren heimgekehrt; jede Familie jammerte angesichts des kärglichen Lohnes. Türen wurden geöffnet, Weiber erschienen auf den Türschwellen und schrien hinaus, als ob ihre Klagen unter den Zimmerdecken der geschlossenen Häuser nicht Platz gehabt hätten. Es fiel ein feiner Regen, aber sie fühlten ihn nicht; sie riefen sich gegenseitig an von Fußsteig zu Fußsteig, und zeigten einander das behobene Geld auf der flachen Hand.
»Schaut! Das haben sie ihm gegeben. Heißt das nicht die Leute zum besten halten?«
»Und erst ich! Das gibt nicht einmal trockenes Brot für zwei Wochen.«
»Und nun gar ich! Zählet das einmal! Ich werde wieder einmal meine Hemden verpfänden müssen.«
Auch die Maheu war hinausgegangen. Eine Gruppe hatte sich um die Levaque gebildet, die am ärgsten schrie. Ihr Trunkenbold von einem Manne war gar nicht heimgekehrt; sie vermutete, daß der ganze Lohn – ob viel oder wenig – im »Vulkan« zerfließen werde. Philomene lauerte Maheu auf, damit Zacharias nichts von dem Gelde ausgebe. Nur Frau Pierron schien ruhig; ihr schlauer Mann wußte es immer so einzurichten – niemand wußte wie? – daß er mehr Arbeitsstunden verzeichnet bekam als die anderen. Allein die Brulé fand es feig von ihrem Schwiegersohne; sie gehörte zu den schreienden Weibern, mager und aufrecht inmitten der Gruppe, die Faust drohend gegen Montson ausgestreckt.
»Wenn man bedenkt,« schrie sie – ohne die Familie Hennebeau zu nennen – »daß ich ihre Magd heute morgen in der Kalesche fahren sah! ... Jawohl, die Köchin fuhr in der zweispännigen Kalesche nach Marchiennes, sicherlich um Fische zu kaufen!«
Das verursachte neues Schreien und Toben. Die Köchin in weißer Schürze, die in der Kalesche ihrer Herrenleute zu Markte fuhr, erregte allgemeine Entrüstung. Während die Arbeiter Hunger litten, mußten die Herren Fische haben! Sie werden vielleicht nicht immer Fische haben: auch die armen Leute kommen einmal an die Reihe. Die von Etienne gesäten Gedanken wuchsen empor und breiteten sich in diesem Schrei der Empörung aus. Es war die Ungeduld angesichts des verheißenenen goldenen Zeitalters, die Eile, seinen Anteil am Glück zu haben, jenseits dieses Horizonts von Elend, der geschlossen war wie ein Grab. Die Ungerechtigkeit ward zu groß; sie würden schließlich ihr Recht fordern, wenn man ihnen das Brot vom Munde nahm. Besonders die Frauen hätten am liebsten sogleich jene ideale Stadt des Fortschrittes gestürmt, wo es keine Armen und Elenden mehr geben würde. Es war fast ganz dunkel, und der Regen fiel mit verdoppelter Heftigkeit, als sie noch immer das Dorf mit ihrem Jammer erfüllten inmitten der kreischenden Kinder, die sich in regellosen Scharen herumtrieben.
Am Abend desselben Tages wurde in der Schenke »zum wohlfeilen Trunk« der Streik beschlossen. Rasseneur sprach nicht mehr dagegen, und auch Suwarin war einverstanden; es sei damit wenigstens der erste Schritt getan, meinte er. Etienne faßte die Lage in einem Satze zusammen: Wenn die Gesellschaft den Streik wolle, solle sie ihn haben.