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Es verfloß noch die erste Hälfte des Monats Feber; eine finstere Kälte verlängerte den harten, für die Armen und Elenden so erbarmungslosen Winter. Die Obrigkeiten waren wieder erschienen: der Präfekt von Lille, ein Staatsanwalt, ein General. Die Gendarmen hatten nicht genügt; es war Militär gekommen, ein ganzes Regiment, dessen Leute von Beaugnies bis Marchiennes kampierten. Militärposten bewachten die Gruben; vor jeder Maschine standen Soldaten. Das Haus des Direktors, die Werkhöfe der Gesellschaft, selbst die Häuser einiger Bürger starrten von Bajonetten. Man hörte auf dem Straßenpflaster nur mehr den Tritt der Patrouillen. Auf dem Hügel von Voreux stand unablässig eine Schildwache; es war gleichsam ein Auslug über die platte Ebene, dem eisigen Winde ausgesetzt, der dort oben wehte. Wie in Feindesland ertönte alle zwei Stunden das Feldgeschrei:
»Wer da? Was ist die Losung?«
Die Arbeit war nirgends wieder aufgenommen worden; im Gegenteil, der Streik hatte sich noch verschärft: Crèvecoeur, Mirou, Magdalene stellten die Förderung ein wie die Voreuxgrube es getan hatte; in Feutry-Cantel und auf der Siegesgrube fuhren mit jedem Morgen weniger Leute an; in Sankt-Thomas, das bisher vom Streik unberührt geblieben, begannen die Leute auszubleiben. Es bestand eine stumme Hartnäckigkeit angesichts dieser Machtentfaltung, über welche die Grubenarbeiter erbittert waren. Die Arbeiterdörfer lagen verödet inmitten der Rübenfelder. Kein Arbeiter regte sich: man begegnete nur selten einem vereinzelten; der ging dann mißtrauischen Blickes und gesenkten Hauptes an den Rothosen vorüber. Unter dieser tiefen, dumpfen Stille, in dieser passiven Hartnäckigkeit, die an die Gewehre stieß, lag die erheuchelte Sanftmut, der erzwungene und geduldige Gehorsam der in den Zwinger eingeschlossenen wilden Tiere, die kein Auge von dem Tierbändiger lassen und bereit sind, ihm in den Nacken zu springen, wenn er den Rücken kehre. Die Gesellschaft, die dieser Arbeitsausstand zugrunde richtete, sprach davon, Arbeiter aus der Borinagegegend an der belgischen Grenze anzuwerben. Allein sie wagte es nicht, und so dauerte der Kampf fort zwischen den Bergleuten, die sich in ihren Häusern einschlossen, und den toten Gruben, die von den Soldaten bewacht wurden.
Nach jenem furchtbaren Tage war mit einem Male diese tiefe Ruhe eingetreten, unter der sich eine solche Panik barg, daß man über die verübten Schäden und Grausamkeiten das größte Stillschweigen beobachtete. Die eingeleitete Untersuchung stellte fest, daß Maigrat durch den Sturz vom Hausdache seinen Tod gefunden hatte; über die abscheuliche Verstümmelung des Leichnams konnte nichts Bestimmtes ermittelt werden. Die Gesellschaft ihrerseits verschwieg die erlittenen Schäden, und auch die Grégoire dachten nicht daran, ihre Tochter in den Skandal eines Prozesses zu verwickeln, in dem sie Zeugnis hätte ablegen müssen. Indes wurden einige Leute verhaftet, wie gewöhnlich die albernsten und harmlosesten, die nichts zu sagen wußten. Irrtümlicherweise hatte man Pierron festgenommen und gefesselt nach Marchiennes gebracht, worüber die Kameraden sehr lachten. Auch Rasseneur wäre bald von zwei Gendarmen weggeführt worden. Die Direktion begnügte sich, Entlassungslisten anzulegen; die Arbeitsbücher wurden in großer Menge zurückgestellt, auch Maheu hatte das seine erhalten und Levaque und noch vierunddreißig andere Kameraden im Dorfe der Zweihundertundvierzig allein. Die volle Strenge war gegen Etienne gerichtet, der seit dem Abend des Tumultes verschwunden war, und den man suchte, ohne eine Spur von ihm zu finden. Chaval hatte in seinem Hasse ihn angezeigt, ohne die anderen zu nennen; er gab den Bitten Katharinas Gehör, die ihre Eltern retten wollte. Die Tage gingen dahin; man fühlte, daß noch nicht alles vorüber sei, und erwartete beklommenen Gemütes das Ende.
Seit jenen Vorfällen fuhren die Bürger von Montsou des Nachts jäh aus ihrem Schlafe empor; ihre Ohren summten von einem eingebildeten Sturmläuten, und ihre Nasen glaubten den Gestank von Schießpulver zu riechen. Vollends verstörte sie eine Predigt ihres neuen Pfarrers, des Abbé Ranvier, dieses mageren Priesters mit den Glutaugen, der dem Abbé Joire im Seelsorgeramte gefolgt war. Wo war die lächelnde Verschwiegenheit seines Vorgängers, der als wohlgenährter und sanfter Mann keine andere Sorge kannte, als mit aller Welt in Frieden zu leben! Hatte der Abbé Ranvier nicht die Kühnheit, diese abscheulichen Räuber, welche die ganze Gegend schändeten, in Schutz zu nehmen? Er fand Entschuldigungen für die Missetaten der Streikenden; er griff heftig das Bürgertum an und schob diesem die ganze Verantwortlichkeit zu. Das Bürgertum, das der Kirche ihre alten Freiheiten nahm, um sie sich selbst anzueignen, hatte aus dieser Welt einen verdammten Ort der Ungerechtigkeit und der Leiden gemacht. Das Bürgertum verlängerte die Mißverständnisse und drängte zu einer furchtbaren Katastrophe durch seine Gottlosigkeit, durch seine Weigerung, zu der Frömmigkeit und zu den brüderlichen Überlieferungen der ersten Christen zurückzukehren. Er hatte gewagt, den Reichen zu drohen; er hatte sie gewarnt, daß, wenn sie noch länger taub bleiben sollten für die Stimme Gottes, Gott sich gewiß auf die Seite der Armen stellen werde; er werde den ungläubigen Besitzenden ihre Güter nehmen und sie – um seines Ruhmes willen – unter die Demütigen der Erde verteilen. Die Gläubigen erbebten; der Notar erklärte, dies sei Sozialismus der schlimmsten Sorte; alle glaubten den Pfarrer schon an der Spitze einer Bande zu sehen, sein Kreuz, schwingend und mit wuchtigen Schlägen die bürgerliche Gesellschaft vom Jahre 89 niederwerfend.
Als man Herrn Hennebeau diese Dinge erzählte, begnügte er sich achselzuckend zu bemerken:
»Wenn er uns zu sehr belästigt, entledigt uns der Bischof seiner schon.«
Während die Panik die Ebene von einem Ende bis zum andern durchwehte, hauste Etienne im aufgelassenen Schachte von Réquillart im Schlupfwinkel Johannes'. Hier verbarg er sich; niemand vermutete ihn so nahe; die ruhige Kühnheit dieses Zufluchtsortes in der Grube selbst, in diesem verlassenen Gange des alten Schachtes hatte alle Nachforschungen vereitelt. Die Hagedorn- und Schlehdornsträucher, die oben zwischen dem eingestürzten Gebälk des Aufzugturmes hervorgebrochen waren, verlegten den Zugang. Niemand wagte sich dahin; man mußte die Kniffe wissen, sich an den Wurzeln des Spierlingsbaumes festzuhalten und kühn abspringen, um die noch festen Leitersprossen zu erreichen; und noch andere Hindernisse schützten den Zugang, die erstickende Hitze des Pumpschachtes, ein hundertzwanzig Meter langer Abstieg, der sehr gefährlich war; dann folgte eine Viertelstunde lang ein mühseliges Kriechen auf dem Bauche zwischen den engen Wänden der Galerie, bis man die mit geraubten Sachen angefüllte Diebeshöhle entdeckte. Da lebte er im Überflusse; er hatte Wachholderbranntwein, den Rest des geräucherten Fisches, Vorräte aller Art da gefunden. Das große Heulager war vortrefflich; man verspürte keinen Luftzug in dieser mäßigen Temperatur, welche die Wärme eines Bades hatte. Nur das Licht drohte zu mangeln. Johannes, der sein Versorger war und daheim die Vorsicht und Verschwiegenheit eines Wilden entfaltete, der glücklich ist, den Gendarmen eine Nase zu drehen, brachte ihm alles, selbst Pomade, nur ein Bündel Kerzen konnte er nicht verschaffen.
Nach dem fünften Tage machte Etienne nur mehr Licht, um zu essen. Die Bissen wollten nicht hinunter, wenn er sie im Finstern verschlang. Diese unendliche, vollständige, immer gleich schwarze Nacht war sein großes Leid. Es nützte nichts, daß er in Sicherheit schlief, mit Brot versorgt war, gut warm hatte: niemals hatte die Nacht so schwer auf seinem Schädel gelastet; ihm war, als erdrücke sie seine Gedanken selbst. Er lebte jetzt von Diebstählen. Trotz seiner kommunistischen Anschauungen erwachte in ihm die anerzogenen Bedenken; er begnügte sich mit trockenem Brote und beschnitt seine Portion. Aber was sollte er anfangen? Er mußte doch leben; seine Aufgabe war noch nicht erfüllt. Noch eine andere Scham bedrückte ihn: die Gewissensbisse über seine wilde Trunkenheit, über den Wacholderbranntwein, den er wegen der großen Kälte in seinen Magen gegossen hatte und der ihn dann – mit dem Messer in der Hand – gegen Chaval trieb. Dies rüttelte in ihm das Entsetzen vor etwas Unbekannten auf, das Erbübel, die von Generationen überkommene Belastung des Säuferwahnsinns, dem ein Tropfen Alkohol genügte, um in tolle Mordlust zu verfallen. Sollte er als Mörder enden? Als er sich hier in dieser tiefen Stille der Erde in Sicherheit sah, hatte er – gleichsam von Gewalttätigkeit gesättigt – zwei Tage lang in dumpfem Schlafe dagelegen wie ein Tier, das, nachdem es sich vollgefressen, regungslos daliegt. Sein Mißbehagen dauerte fort; er lebte wie zerschlagen mit bitterem Munde und wüstem Kopfe wie nach einer furchtbaren Schwelgerei. So verfloß eine Woche; die Maheu, die von seinem Schlupfwinkel wußten, konnten ihm keine Kerze senden; er mußte auf das Licht verzichten selbst bei seinen kärglichen Mahlzeiten.
Etienne blieb jetzt oft stundenlang auf seinem Heulager ausgestreckt. Ihn suchten unklare Gedanken heim, von denen er sich frei geglaubt hatte. Es war ein Gefühl der Überlegenheit, das ihn von seinen Kameraden trennte; eine Begeisterung für seine Person, die in dem Maße wuchs, als seine Kenntnisse zunahmen. Niemals hatte er so viel nachgedacht; er fragte sich, weshalb sein großer Abscheu nach dem wilden Zuge durch die Gruben gewesen, und er wagte nicht, sich die Frage zu beantworten, die Erinnerungen widerstrebten ihm: die Niedrigkeit der Begierden, die Roheit der Instinkte, der Geruch all dieses Elends, das ins Freie getragen worden. Trotz der Qual der Finsternis fürchtete er die Stunde, da er in das Arbeiterdorf zurückkehren sollte. Welch' ein widriger Anblick, diese Armen und Elenden, die in dem gemeinsamen Bottich lebten! Kein einziger, mit dem man ernstlich von Politik reden konnte; ein wahres Tierleben; immer dieselbe erstickende, von Zwiebelgestank erfüllte Luft! Er wollte ihren Gesichtskreis erweitern, sie zum Wohlstand und zu den guten Manieren der Bürgerklasse erziehen, indem er Herren aus ihnen machte. Aber wie lange werde es dauern! Er fühlte nicht mehr den Mut in sich, den Sieg in diesem Hungerbagno abzuwarten. Die Eitelkeit, ihr Oberhaupt zu sein, seine beständige Sorge, an ihrer Statt zu denken, sie verließen ihn allmählich, und es erfüllte ihn die Seele eines jener Spießbürger, die er so sehr verachtete.
Johannes brachte eines Abends ein Stück Kerze, das er aus der Laterne eines Kärrners gestohlen hatte. Das war für Etienne eine große Erleichterung. Wenn die Finsternis ihm schließlich die Gedanken verwirrte, so schwer auf seinem Schädel lastete, daß er schier verrückt ward, zündete er einen Augenblick sein Stückchen Kerze an; wenn der Alpdruck verscheucht war, löschte er das Licht aus, mit dem er geizte, weil es zu seinem Leben so notwendig war wie das Brot. In seinen Ohren summte die Stille; er hörte nur den Lauf einer Rattenschar, das Krachen der alten Verzimmerungen, das leise Geräusch einer Spinne, die an ihrem Netze wob. Mit offenen Augen in die warme Leere starrend, kam er wieder auf seinen fixen Gedanken zurück: was die Kameraden da oben trieben. Ein Abfall seinerseits würde ihm die größte Feigheit geschienen haben. Wenn er sich so verborgen hielt, geschah es nur, um frei zu bleiben, um zu raten und zu handeln. Sein langes Brüten hatte seinem Ehrgeiz eine bestimmte Richtung gegeben: bis Besseres komme, hätte er Pluchart sein, die Arbeit im Stiche lassen, bloß für die Politik arbeiten mögen, aber allein in einem sauberen Zimmer, unter dem Vorwande, daß die Kopfarbeiten das ganze Leben in Anspruch nehmen und viel Ruhe erfordern.
Als zu Beginn der zweiten Woche der Knabe ihm erzählte, daß die Gendarmen meinten, er sei nach Belgien geflohen, wagte Etienne bei Einbruch der Nacht aus seinem Loch hervorzukommen. Er wollte sich von der Lage der Dinge überzeugen; er wollte sehen, ob man noch länger im Widerstande beharren solle. Er hielt das Spiel für verloren; schon vor dem Streik zweifelte er an dem Erfolge; er hatte einfach der Macht der Tatsachen nachgegeben; und jetzt, nachdem er am Aufruhr sich berauscht hatte, kam er auf seinen ursprünglichen Zweifel zurück und gab die Hoffnung auf, die Gesellschaft zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Aber er gestand es sich noch nicht; ihn quälte eine Angst, wenn er an den Jammer der Niederlage dachte, an die schwere Verantwortlichkeit für all das heraufbeschworene Leid, die auf ihm lasten werde. Das Ende des Streiks – bedeutete es nicht das Ende seiner Rolle, die Vernichtung seines Ehrgeizes, des Zurücksinken seiner Existenz zu dem tierischen Dasein in der Grube und zu den Widerlichkeiten des Arbeiterdorfes? Aufrichtig, ohne niedrige, heuchlerische Berechnungen bemühte er sich, seinen Glauben wiederzufinden, sich selbst zu überreden, daß der Widerstand noch weiter möglich sei, daß das Kapital angesichts des heldenmütigen Selbstmordes der Arbeit sich selbst zerstören werde.
In der Tat widerhallte die ganze Gegend vom Verderben. Wenn er des Nachts in der finstern Landschaft herumirrte wie ein Wolf außerhalb seines Waldes, glaubte er von einem Ende der Ebene bis zum andern das Krachen der Einstürze zu hören. Längs der Straßen fand er nur geschlossene, tote Fabriken, deren Gebäude unter dem bleichen Himmel in Trümmer sanken. Besonders die Zuckerfabriken hatten zu leiden; die Zuckerfabrik Hoton und die Zuckerfabrik Fauvelle hatten zuerst die Zahl ihrer Arbeiter vermindert und schließlich den Betrieb ganz eingestellt. In der Kunstmühle Dutilleul hatte der letzte Mühlgang am zweiten Samstag des Monats still gestanden; die Seilerei Bleuze, wo Grubenseile erzeugt wurden, war durch den Streik vollends zugrunde gerichtet. In Marchiennes und Umgebung ward die Lage täglich schwieriger: in der Glasfabrik Gabelois waren die Kesselfeuer ausgelöscht; in den Bauwerkstätten von Sonneville fanden weitgehende Arbeiterentlassungen statt, von den drei Hochöfen des Hüttenwerkes war nur einer angeblasen; die Koksöfen hingegen standen kalt. Der Streik der Bergleute von Montsou, hervorgegangen aus der industriellen Krise, die seit zwei Jahren immer schlimmer wurde, hatte diese Krise noch verschärft, den Zusammenbruch beschleunigt. Zu den Ursachen des Notstandes: dem Ausbleiben der Bestellungen aus Amerika und dem Festlegen der Kapitalien in einer Überproduktion, gesellte sich jetzt noch der unvorhergesehene Kohlenmangel in den wenigen Fabriken, die noch arbeiteten; diese Nahrung der Dampfmaschinen, welche die Schachte nicht mehr lieferten: sie bedeutete das letzte Todesröcheln. Erschreckt durch die allgemeine Not, hatte die Gesellschaft, nachdem sie die Förderung vermindert und ihre Bergleute ausgehungert, zu Ende des Monats Dezember den letzten Rest ihrer Vorräte schwinden sehen. Die Geißel fuhr durch das Land, ein Sturz zog den andern nach sich, die Industrien brachen tot zusammen in einer so schnellen Folge von Katastrophen, daß man die Rückschläge selbst in den Nachbarstädten verspürte, in Lille, Douai, Valenciennes, wo flüchtige Bankiers zahlreiche Familien zugrunde richteten.
Zuweilen blieb Etienne bei einer Straßenkrümmung in der eiskalten Nacht stehen, um zu horchen, wie die Trümmer niederstürzten. Er sog mit kräftigen Zügen die Finsternis ein; eine Freude an dem Nichts erfaßte ihn, eine Hoffnung, daß der anbrechende Tag die Ausrottung der Welt beleuchten werde, in der kein Vermögen mehr übrig geblieben, weil das alles gleichmachende Richtscheit wie eine Sense über den Erdboden dahingefahren war. Doch in diesem Gemetzel interessierten ihn hauptsächlich die gesellschaftlichen Gruben. Er ging weiter; schier geblendet von der Finsternis besichtigte er eine nach der anderen, glücklich, wenn er von einem neuen Schaden Kenntnis erhielt. Es ereigneten sich neue, immer ernstere Einstürze in dem Maße, wie die Verödung der Minengänge sich in die Länge zog. Oberhalb der Nordgalerie von Mirou senkte sich das Erdreich in einem solchen Umfange, daß die Straße nach Joiselle in einer Länge von hundert Metern verschwand, als habe ein Erdbeben sie verschlungen, und die Gesellschaft bezahlte, ohne zu feilschen, den Eigentümern ihren verschwundenen Bodenbesitz aus Angst wegen des Lärms, den diese Unfälle verursachen konnten. Crèvecoeur und Magdalene, von sehr losem Gestein, wurden immer mehr verschüttet; man sprach von zwei Aufsehern, die im Siegesschachte unter einem Einsturze begraben lagen; Feutry-Cantel war durch einen Wassereinbruch ersäuft; in der Grube Sankt-Thomas mußte eine Galerie in der Länge von einem Kilometer untermauert werden, weil die schlecht unterhaltenen Verzimmerungen auf allen Seiten brachen. So ergaben sich von Stunde zu Stunde riesige Kosten, immer größere Breschen in den Dividenden der Aktionäre, ein reißender Verfall der Gruben, der, wenn er noch länger andauerte, die in einem Jahrhundert in ihrem Werte verhundertfachten Anteile von Montsou schließlich verschlingen mußte.
Angesichts dieser wiederholten Schläge erwachte in Etienne wieder die Hoffnung; er glaubte schließlich, daß ein dritter Monat des Widerstandes das Ungeheuer totmachen werde, das müde, vollgefressene Tier, das wie ein Götzenbild in seinem unsichtbaren Heiligtum hockte. Er wußte, daß infolge der Unruhen zu Montsou eine lebhafte Aufregung sich der Pariser Blätter bemächtigt hatte; es entwickelte sich eine heftige Polemik zwischen den regierungsfreundlichen und gegnerischen Blättern, furchtbare Schilderungen, die man besonders gegen die Internationale ausbeutete, vor welcher das Kaiserreich allmählich Furcht bekam, nachdem es sie anfänglich ermutigt hatte. Da die Verwaltung sich nicht länger taub zu stellen wagte, hatten zwei Verwaltungsräte geruht, nach dem Schauplatze des Streiks zu reisen, um dort eine Untersuchung anzustellen; aber sie taten es mißmutig, ohne sich um die Abwicklung zu kümmern, dermaßen teilnahmslos, daß sie nach drei Tagen wieder abreisten mit der Erklärung, daß die Dinge ganz gut stünden. Indes versicherte man ihm andererseits, daß die Herren während ihrer Anwesenheit dauernde Sitzungen gehalten, eine fieberhafte Tätigkeit entwickelt und sich in Geschäfte versenkt hätten, von denen niemand in ihrer Umgebung ein Wörtchen verraten wollte. Er beschuldigte sie, daß sie ihre Vertrauensseligkeit nur heuchelten; er nannte ihre Abreise eine tolle Flucht und war nunmehr des Sieges sicher, weil diese furchtbaren Menschen alles im Stiche ließen.
Doch in der folgenden Nacht verzweifelte Etienne von neuem. Die Gesellschaft hatte zu starke Lenden, als daß man ihr sie so leicht hätte zerschlagen können; sie konnte Millionen verlieren und sie später von den Arbeitern wieder hereinbringen, indem sie ihnen den Lohn verkürzte. Als er diese Nacht bis nach Jean-Bart gegangen war, hatte er die Wahrheit erkannt, nachdem ein Aufseher ihm erzählt hatte, daß man davon spreche, Vandame solle an Montsou abgetreten werden. Im Hause Deneulins war – so erzählte man – eine mitleiderregende Not eingezogen, die Not der Reichen; der Vater war krank infolge seiner Ohnmacht und gealtert durch die Geldsorgen; die Töchter schlugen sich mit den Leuten herum, welche den Bedarf des Hauses lieferten, und suchten ihre Hemden aus den Krallen der Gläubiger zu retten. Man litt weniger in den ausgehungerten Arbeiterdörfern als in diesem Bürgerhause, wo man hinter verschlossenen Türen speiste, weil man bei Tische Wasser trank. In Jean-Bart war die Arbeit nicht wiederaufgenommen worden, in Gaston-Marie hatte die Maschine ersetzt werden müssen; überdies war trotz aller Eile, mit der letzteres geschehen, Wasser in den Schacht eingedrungen, dessen Auspumpen große Kosten verursachen mußte. Deneulin hatte endlich sein Anliegen um ein Darlehen von hunderttausend Franken bei den Grégoire vorgebracht; ihre Weigerung, auf die er übrigens gefaßt war, hatte ihm den Rest gegeben. Sie wiesen sein Verlangen – wie sie versicherten – nur aus Freundschaft zurück, um ihm einen aussichtslosen Kampf zu ersparen. Sie erteilten ihm den Rat, seine Grube zu verkaufen. Aber er weigerte sich noch immer sehr heftig. Es machte ihn wütend, daß er die Kosten des Streiks bezahlen solle. Er fühlte, daß ihm alles Blut zu Kopfe gestiegen war, daß es ihm schier den Atem verlegte, und er hoffte, den Tod davon zu haben. Aber was konnte er schließlich anfangen? Er mußte den Kaufsangeboten Gehör schenken. Man ärgerte ihn, man setzte den Wert dieser herrlichen Beute herab, dieses instandgesetzten, neu eingerichteten Schachtes, dessen Ausbeutung nur durch den Mangel an Kapital verhindert wurde. Er konnte froh sein, wenn er soviel daraus herausschlug, um seine Gläubiger befriedigen zu können. Zwei Tage lang hatte er sich gegen die in Montsou weilenden Verwaltungsräte gewehrt, wütend über die Ruhe, mit der sie seine Verlegenheit mißbrauchten, so wütend, daß er ihnen ein donnerndes »Niemals!« zuschrie. Dabei blieb er; sie waren nach Paris zurückgekehrt, um dort geduldig sein letztes Röcheln abzuwarten. Etienne witterte die Art und Weise, wie die Gesellschaft für das Mißgeschick, das sie getroffen, sich Ersatz holen wolle; und er ward wieder von Zagen ergriffen angesichts der unbezwinglichen Gewalt des Großkapitals, das im Kampfe so mächtig war, daß es von der Niederlage sich mästete, indem es die Leichen der an seiner Seite gefallenen kleinen Unternehmer fraß.
Glücklicherweise brachte Johannes am nächsten Tage ihm eine gute Nachricht. In Voreux drohte die Verzimmerung des Aufzugsschachtes zu bersten, das Wasser sickerte durch alle Ritzen; man hatte in aller Eile eine Schar von Zimmerleuten aufbieten müssen, um den Schaden auszubessern.
Bisher war Etienne der Voreuxgrube ausgewichen aus Angst vor dem Schattenriß der Schildwache, die auf dem Hügel stand und von da die Ebene beherrschte; man konnte dieser Schildwache nicht ausweichen, sie war in der Luft gleichsam die Fahne des Regiments. Gegen drei Uhr morgens verdunkelte sich der Himmel; er begab sich in die Grube, wo Kameraden ihm den schlechten Zustand der Verzimmerung erklärten; sie meinten sogar, es sei dringend notwendig, die ganze Verholzung zu erneuern, was die Kohlenförderung mindestens für drei Monate aufhalten mußte. Lange strich er herum und lauschte den Hammerschlägen der Zimmerleute im Schachte. Diese Wunde, die verbunden werden mußte: sie erfreute sein Herz.
Als er bei Tagesanbruch heimkehrte, fand er wieder die Schildwache auf dem Hügel. Jetzt mußte sie ihn sicher sehen. Seinen Weg fortsetzend, dachte er an diese Soldaten, die man aus der Mitte des Volkes nahm, um sie gegen das Volk zu bewaffnen. Wie leicht wäre der Sieg der Revolution gewesen, wenn die Armee sich plötzlich für sie erklärt hätte! Es genügte, daß der Arbeiter und der Bauer in der Kaserne sich Ihres Ursprungs erinnerten. Es war die äußerste Gefahr, das höchste Entsetzen, das den Spießbürgern ein Zähneklappern verursachte, wenn sie an die Möglichkeit eines Abfalls der Truppen dachten. In zwei Stunden wären sie hinweggefegt, ausgerottet mit allen Genüssen und Abscheulichkeiten ihres ungerechten Lebens. Schon wurde behauptet, daß ganze Regimenter vom Sozialismus angesteckt seien. War es so? Sollte die Gerechtigkeit kommen dank den durch das Bürgertum verteilten Kartuschen? Zu einer andern Hoffnung überspringend, träumte der junge Mann, daß das Regiment, dessen Posten die Gruben bewachten, zum Streik überging, die Gesellschaft samt und sonders niederschoß und endlich das Bergwerk den Bergleuten gab.
Jetzt bemerkte er erst, daß er den Hügel hinanstieg, während ihm der Kopf von diesen Betrachtungen summte. Warum sollte er mit diesem Soldaten nicht ein Gespräch beginnen? fragte er sich. Es wäre ein Mittel, seine Ansichten kennen zu lernen. Mit gleichgültiger Miene näherte er sich und tat, als suche er Holzspäne unter dem alten Geröll. Die Schildwache blieb unbeweglich.
»He, Kamerad, ist das ein Hundewetter!« sagte Etienne endlich. »Ich denke, wir bekommen Schnee.«
Es war ein kleiner, sehr blonder Soldat mit einem sanften, blassen Gesichte, das mit Sommersprossen bedeckt war. Unter seiner Kapuze zeigte er die Verlegenheit eines Rekruten.
»Ja, ich glaube«, brummte er.
Er schaute mit seinen blauen Augen lange nach dem fahlen Himmel, nach dieser rauchigen, nebeligen Morgendämmerung, die in der Ferne schwarz und bleischwer auf der Ebene lastete.
»Wie dumm ist es, euch hierher zu stellen, wo euch das Mark in den Knochen gefriert!« fuhr Etienne fort.
»Möchte man nicht glauben, daß die Kosaken kommen! ... Überdies weht hier oben immer ein scharfer Wind.«
Der kleine Soldat zitterte vor Kälte, ohne sich zu beklagen. Es war wohl eine Hütte aus Backsteinen da, in welcher der alte Bonnemort in stürmischen Nächten Zuflucht suchte; allein, der Soldat hatte Befehl, den Gipfel des Hügels nicht zu verlassen, und rührte sich also nicht, obgleich seine Hände so steif vom Froste waren, daß er seine Waffe nicht mehr fühlte. Er gehörte zu dem Posten von sechzig Mann, der die Voreuxgrube bewachte; da diese schreckliche Wache häufiger wiederkehrte, waren ihm fast die Füße abgefroren. Das Soldatenhandwerk erforderte es so; ein passiver Gehorsam schläferte ihn schließlich ein; er antwortete auf die Fragen mit gestammelten Worten wie ein schlummerndes Kind.
Vergebens bemühte sich Etienne eine Viertelstunde lang, ein Gespräch über Politik anzuknüpfen. Er sagte Ja, er sagte Nein und schien nicht zu begreifen. Die Kameraden erzählten, der Kapitän sei Republikaner; er selbst habe darüber keine Gedanken, es sei ihm alles gleich. Wenn man ihm zu schießen bestelle, schieße er, um nicht bestraft zu werden. Der Arbeiter hörte ihm zu, von dem Hasse des Volkes gegen die bewaffnete Macht beseelt, gegen diese Brüder, denen man das Herz auswechselt, indem man ihnen eine rote Hose über den Hintern zieht.
»Wie heißen Sie?«
»Julius.«
»Und woher stammen Sie?«
»Aus Plogoff, weither.«
Aufs Geratewohl hatte er dabei den Arm ausgestreckt. Es war in der Bretagne, mehr wußte er nicht zu sagen. Sein kleines, blasses Gesicht belebte sich, und er begann zu lachen.
»Ich habe dort meine Mutter und meine Schwester. Sie erwarten mich sicherlich. Ach! Es wird nicht so bald sein ... Als ich zum Dienst einrückte, gaben sie mir bis Pont-l'Abbé das Geleit. Wir hatten vom Nachbar Lepalmec den Gaul ausgeliehen; bei der Talfahrt von Audierne hat das Tier beinahe die Beine gebrochen. Der Vetter Charles erwartete uns mit Würsten; aber sie blieben uns im Munde stecken, die Weibsleute flennten zuviel. Ach, mein Gott! Mein Gott! Es ist gar weit bis zu uns!«
Seine Augen wurden feucht, und dennoch lächelte er dabei. Der kahle Landstrich von Plogoff, diese wild zerklüftete, von Stürmen umtoste Spitze von Le Raz: sie erschien ihm in Sonnenlicht gebadet, in der rosigen Jahreszeit, wenn die Kleefelder in Blüte stehen.
»Sagen Sie,« fragte er, »wenn ich keine Strafen habe, wird man nach zwei Jahren mir auf einen Monat Urlaub geben?«
Etienne sprach von der Provinz, die er noch als Knabe verlassen hatte. Der Tag wurde immer heller, Schneeflocken begannen unter dem erdfahlen Himmel zu wirbeln. Er ward schließlich von Unruhe ergriffen, als er Johannes bemerkte, der im Gestrüpp herumkroch, ganz erstaunt darüber, ihn dort oben zu sehen. Der Knabe winkte ihm herunterzukommen. Was nützte auch der Traum, mit den Soldaten zu fraternisieren? Jahre und Jahre wären dazu notwendig; sein vergeblicher Versuch machte ihn trostlos, als ob er auf einen Erfolg gerechnet hätte. Doch plötzlich verstand er die Handbewegung Johannes; man kam die Schildwache ablösen. Er ging eilends seiner Wege, um sich wieder in der Réquillartgrube zu vergraben, wieder einmal tief bekümmert über die Sicherheit der Niederlage; während der Knabe neben ihm herlaufend, diesen schmutzigen »Gamaschenknopf« von einem Offizier beschuldigte, dem Wachtposten zugerufen zu haben, daß er auf sie schieße.
Julius stand unbeweglich auf dem Gipfel des Hügels, hinausstarrend in den dicht fallenden Schnee. Der Sergeant näherte sich mit seinen Leuten; die vorschriftsmäßigen Rufe wurden ausgetauscht.
»Wer da? ... Die Losung!«
Man hörte die schweren Tritte sich entfernen, die hallten wie in Feindesland. Obgleich es immer heller wurde, regte sich nichts in den Dörfern; die Bergleute verzehrten sich in stiller Wut angesichts der Soldaten, die ihnen auf dem Nacken saßen.