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Der Schnee fiel seit zwei Tagen; am Morgen hatte er aufgehört, und jetzt erstarrte ein eisiger Frost das ungeheure Winterfeld; dieses schwarze Land mit den schwarzen Straßen und den mit Kohlenstaub bestreuten Mauern und Bäumen waren ganz weiß, von einer einzigen, endlosen Weiße. Das Dorf der Zweihundertundvierzig war unter dem Schnee vergraben, gleichsam verschwunden. Kein Rauch stieg von den Dächern auf. In den Häusern brannte kein Feuer mehr; sie waren so kalt wie die Steine auf der Straße, und so schmolz denn auch nicht die dicke Schneeschicht, die auf den Dächern lag. Das Dorf glich einem Viereck von weißen Fliesen in der weißen Ebene; es war gleichsam das Gespenst eines toten Dorfes, das in sein Laken eingehüllt ist. Die Militärpatrouillen allein ließen in den Straßen die schmutzigen Spuren ihrer Tritte zurück.
Im Hause der Maheu war gestern die letzte Schaufel Kohlenstaub verbrannt; an eine Nachlese auf dem Hügel war nicht zu denken in diesem furchtbaren Wetter, wo selbst die Spatzen keinen Strohhalm mehr fanden. Alzire in ihrem Eigensinn hatte mit ihren armen Händchen in dem Schnee herumgewühlt und sich dabei krank gemacht. Ihre Mutter hüllte sie in eine alte Decke, bis der Doktor Vanderhaghen komme, den sie schon zweimal gesucht hatte, ohne ihn zu finden. Die Magd hatte versprochen, der Arzt werde noch vor Abend nach dem Dorfe kommen. Jetzt stand die Mutter am Fenster und spähte auf die Straße hinaus, während die Kleine, die nicht oben hatte bleiben wollen, auf einem Sessel neben dem kalten Ofen fror und sich einbildete, es sei hier besser. Der alte Bonnemort, den es wieder in den Beinen gepackt hatte, saß ihr gegenüber und schien zu schlafen. Weder Leonore noch Heinrich waren heimgekehrt; sie trieben sich mit Johannes bettelnd auf den Straßen herum. Maheu allein ging mit schweren Tritten in der Stube auf und ab; jedesmal stieß er an die Mauer mit der Blödigkeit eines Tieres, das seinen Käfig nicht mehr sieht. Auch das Petroleum war zu Ende gegangen; aber der Widerschein des Schnees erhellte trotz der Nacht die Stube mit einem fahlen Lichte.
Jetzt wurde draußen ein Geklapper von Holzschuhen hörbar; die Levaque stieß ungestüm die Türe auf und schrie von der Schwelle der Maheu zu:
»Also du hast gesagt, daß ich meinen Einwohner zwinge, mir zwanzig Sous zu geben, sooft er bei mir schläft?«
Die Andere zuckte die Achseln.
»Laß mich in Frieden; ich habe nichts gesagt ... Und vor allem: wer hat es dir gesagt?«
»Man hat mir erzählt, daß du es sagtest. Du brauchst nicht zu wissen, wer ... Du sollst außerdem noch gesagt haben, daß du es sehr gut hörst, wenn wir hinter der Wand unsere Schweinereien treiben, und daß sich bei uns der Dreck anhäuft, weil ich immer auf dem Rücken liege ... Wagst du noch zu leugnen, daß du alldas gesagt hast? ...«
Der unaufhörliche Klatsch der Weiber führte jeden Tag solches Gezänk herbei. Besonders zwischen den Familien, die Tür an Tür wohnten, waren die Entzweiungen und Wiederversöhnungen alltäglich. Aber noch niemals hatte eine so arge Bosheit sie gegeneinander losgehen lassen. Seit dem Streik trieb der Hunger den Groll zum äußersten, man hatte das Bedürfnis, sich zu prügeln; eine Auseinandersetzung zwischen zwei Klatschbasen endigte mit einer blutigen Rauferei zwischen ihren Männern.
Eben kam auch Levaque an, den Bouteloup mit Gewalt herbeischleppend.
»Da ist der Kamerad; er soll einmal sagen, ob er meinem Weibe zwanzig Sous gegeben hat, damit sie bei ihm schlafe.«
Der Mieter verbarg seine Verlegenheit hinter seinem großen Barte und stammelte:
»Oh nein ... Nichts ... Niemals! ...«
Da erhob Levaque drohend die Faust gegen Maheu.
»Hör' einmal, mir paßt das nicht! Wenn man ein solches Weib hat, zerschlägt man ihr die Lenden ... Glaubst du etwa, was sie gesagt hat?«
»Himmelherrgott!« schrie Maheu wütend, in seinen trübseligen Gedanken gestört worden zu sein, – »was soll wieder all die Klatscherei? Hat man noch nicht genug an seinem Elend? Laß mich in Frieden, oder ich schlage zu. Und vor allem: wer hat dir gesagt, daß mein Weib dies gesagt hat?«
»Wer es gesagt hat? ... Die Pierron hat es gesagt ...«
Frau Maheu brach in ein schrilles Lachen aus; sie trat an die Levaque heran und sagte:
»Die Pierron ist's? ... Gut, da kann ich dir sagen, was sie mir gesagt hat. Jawohl; sie hat mir gesagt, du schliefest mit deinen beiden Männern zugleich, der eine oben, der andere unten.«
Jetzt war eine Verständigung nicht mehr möglich. Alle waren in Zorn geraten; die Levaque schleuderten den Maheu die Antwort hin, daß die Pierron von ihnen noch ganz andere Dinge gesagt habe; daß sie Katharina verkauft und sich untereinander angesteckt hätten – selbst die kleinen Kinder – mit einer Krankheit, die Etienne sich im »Vulkan« geholt.
»Das hat sie gesagt! Das hat sie gesagt!« heulte Maheu. »Ich selbst gehe hin, und wenn sie zugibt, dies gesagt zu haben, soll ihr Schnabel meine Hand kennenlernen.«
Er stürzte hinaus; die Levaque folgte ihm, um Zeugnis abzulegen, während Bouteloup, ein Feind der Streitigkeiten, sich heimwärts drückte. Durch die Auseinandersetzung in Aufregung versetzt, wollte auch die Maheu hinausgehen, als eine Klage Alzires sie zurückhielt. Sie kreuzte die Zipfel der Decke auf dem fröstelnden Körper der Kleinen und trat wieder ans Fenster, um mit trüben Augen in die Ferne zu schauen. Der Arzt wollte noch immer nicht kommen!
Vor der Tür der Eheleute Pierron fanden Maheu und die Eheleute Levaque Lydia im Schnee herumstampfen. Das Haus war geschlossen; ein dünner Lichtschein fiel durch die Ritze eines Fensterladens. Auf die an sie gerichteten Fragen antwortete die Kleine anfänglich verlegen; nein, ihr Vater sei nicht zu Hause; er sei ins Waschhaus gegangen um der Mutter Brulé zu helfen, die Wäsche nach Hause bringen. Dann wurde sie vollends verlegen und weigerte sich zu sagen, was ihre Mutter machte. Endlich platzte mit einem tückisch-grollenden Lachen mit allem heraus, was sie wußte: Mama habe sie hinausgeworfen, weil Herr Dansaert da sei und sie im Gespräch ungestört sein wollten. Herr Dansaert streife schon seit dem Morgen mit zwei Gendarmen im Dorfe herum, suche Arbeiter zu sammeln, rede im besonderen den Schwachen zu, verkünde überall, daß, wenn man am Montag nicht anfahre, die Gesellschaft entschlossen sei, Arbeiter aus dem Borinage anzuwerben. Bei Anbruch der Nacht habe er die Gendarmen weggeschickt, weil er die Pierron allein zu Hause gefunden; und er sei bei ihr geblieben, um vor dem guten Kaminfeuer ein Gläschen Wachholderbranntwein zu trinken.
»Still, wir wollen sie sehen!« murmelte Levaque mit einem lüsternen Kichern. »Später kommt die Auseinandersetzung ... Weg da, Nichtsnutz!«
Lydia wich einige Schritte zurück, während er ein Auge an die Ritze des Fensterladens legte. Er stieß leise Schreie aus; sein Rückgrat wölbte sich und schauerte. Jetzt schaute auch die Levaque hinein; doch erklärte sie, wie von einem Kolikanfall ergriffen, es ekle sie. Maheu hatte sie weggeschoben, um auch seinerseits zu sehen; das Schauspiel mache sich bezahlt, meinte er. Sie begannen von neuem, einer nach dem andern, wie in der Komödie. Die Wohnstube schimmerte von Reinlichkeit und wurde durch ein tüchtiges Kaminfeuer hell und traulich gemacht; auf dem Tische standen Kuchen, eine Flasche und Gläser. Mit einem Worte: die Unterhaltung war eine vollständige, so daß das, was sie sahen, schließlich die beiden Männer erbitterte, die unter anderen Umständen sich sechs Monate lang darüber belustigt hätten. Es war zu drollig, wie die sich stopfen ließ bis an den Hals mit den Röcken hoch. Aber war es nicht eine Schweinerei, sich dieses Vergnügen bei einem so großen Feuer zu gönnen und sich mit Biskuits zu stärken, während die Kameraden kein Krümchen Brot und kein Stückchen Kohle hatten?
»Da ist der Vater!« rief Lydia davonlaufend.
Pierron kam ruhig aus dem Waschhause zurück, mit einem Bündel Wäsche auf der Schulter. Maheu stellte ihn sogleich zur Rede.
»Hör' einmal: man hat mir erzählt, deine Frau hätte gesagt, daß ich Katharina verkauft habe und daß wir uns in meinem Hause alle durcheinander angesteckt haben ... Wie geht es bei dir selbst im Hause zu? Was zahlt dir der Herr, der soeben wieder deiner Frau die Haut abnutzt?«
Von diesem plötzlichen Angriffe wie betäubt, begriff Pierron nicht sogleich, als seine Frau, erschreckt durch den Tumult auf der Straße und darüber den Kopf verlierend, die Tür halb öffnete, um zu schauen, was es gebe. Man sah sie ganz rot, mit offenem Leibchen, den Rock hoch, am Gürtel befestigt, während im Hintergrunde Herr Dansaert in toller Hast sein Beinkleid anzog. Der Oberaufseher flüchtete, zitternd vor Angst, daß das Abenteuer dem Direktor zu Ohren kommen könne. Da setzte ein greulicher Skandal ein, Gelächter, Gejohle, Verwünschungen.
»Du schimpfst immer über die anderen, daß sie schmutzig seien,« sagte die Levaque zur Pierron; »es ist kein Wunder, daß du selbst sauber bist; du läßt dich ja von den Vorgesetzten blank scheuern.«
»Ach ja, der steht es gut an, über andere zu reden«, fügte Levaque hinzu. »Eine Dirne, die gesagt hat, meine Frau schlafe mit mir und meinem Mieter zugleich, der eine oben, der andere unten! ... Ja, ja, man hat mir erzählt, du hättest das gesagt!«
Doch die Pierron bewahrte ihre Ruhe und hielt diesen Schimpfreden stand. In dem Bewußtsein, die Schönste und Reichste unter allen zu sein, verachtete sie die Leute.
»Was ich gesagt, habe ich gesagt; laßt mich in Frieden! ... Was kümmern euch meine Angelegenheiten? Ihr seid Neidharte, die uns grollen, weil wir Geld in der Sparkasse haben. Ihr könnt sagen, was ihr wollt: mein Mann weiß ganz gut, weshalb Herr Dansaert bei uns war.«
In der Tat ereiferte sich Herr Pierron und verteidigte seine Frau. Der Streit kehrte sich jetzt gegen ihn; man nannte ihn einen Verräter, einen Spion, einen Spürhund der Gesellschaft; man beschuldigte ihn, daß er sich einsperre, um sich mit den guten Bissen zu mästen, mit denen die Gesellschaft ihm seine Verrätereien vergelte. Er blieb ihnen die Antwort nicht schuldig und behauptete, Maheu habe ihm Drohungen unter der Türe ins Haus geschmuggelt: zwei gekreuzte Knochen mit einem Dolch darüber. Die Geschichte endigte notwendigerweise mit einer Prügelei der Männer untereinander wie alle Weiberzänkereien, seitdem der Hunger die Sanftesten wütend machte. Maheu und Levaque hatten sich mit Faustschlägen auf Pierron geworfen, und man mußte sie trennen.
Als die Brulé aus dem Waschhause ankam, floß das Blut in Strömen aus der Nase ihres Schwiegersohnes. Wie man sie von den Vorgängen unterrichtete, sagte sie bloß:
»Dieses Schwein entehrt mich.«
Die Straße ward wieder menschenleer; kein Schatten befleckte die kahle Weiße des Schnees; das Dorf versank wieder in eine Kirchhofstille und hungerte bei einer bis ans innerste Mark gehenden Kälte.
»Ist der Arzt gekommen?« fragte Maheu die Türe schließend.
»Er ist nicht gekommen«, erwiderte sein Weib, noch immer am Fenster stehend.
»Und sind die Kinder heimgekehrt?«
»Sie sind nicht heimgekehrt.«
Maheu nahm seinen schweren Gang von einer Mauer zur andern wieder auf, wütend wie ein zu Tode getroffener Ochse. Vater Bonnemort saß steif und starr auf seinem Stuhl, ohne auch nur den Kopf zu heben. Auch Alzire sagte nichts und beherrschte sich, um nicht zu zittern und ihre Eltern dadurch zu betrüben. Aber trotz ihres Mutes zitterte sie von Zeit zu Zeit so stark, daß man das Beben ihres mageren, gebrechlichen Körpers unter der Decke wahrnehmen konnte, während sie mit ihren großen, offenen Augen an der Zimmerdecke den fahlen Widerschein der weißen Gärten betrachtete, der die Stube wie ein Mondschein beleuchtete.
Es war der letzte Todeskampf; das Haus war vollständig kahl, der äußersten Not anheimgefallen. Nachdem sie die Wolle der Matratzen zur Trödlerin getragen, ließen sie die Leintücher denselben Weg gehen; dann folgte die Wäsche und alles, was nur verkäuflich war. Eines Abends hatte man ein Schnupftuch des Großvaters um zwei Sous verkauft. Tränen wurden vergossen, sooft man sich von einem Stück Hausrat trennen mußte; die Mutter jammerte noch immer, weil sie eines Tages genötigt war, in ihrer Schürze die Schachtel von rosa Kartonpapier – das einstige Geschenk ihres Mannes – wegzutragen, wie man ein Kind wegtragen würde, um sich seiner unter einem Haustor zu entledigen. Sie waren nackt; sie hatten nichts mehr zu verkaufen als ihre Haut, und auch diese war schon so erbärmlich elend, daß kein Mensch einen Heller dafür gegeben hätte. Sie gaben sich denn auch keine Mühe mehr, etwas zu suchen; sie wußten, daß es nichts mehr gebe, daß alles zu Ende sei, daß sie weder auf eine Kerze hoffen konnten, noch ein Stück Kohle, noch eine Kartoffel; und sie erwarteten den Tod; es bekümmerte sie nur wegen der Kinder; sie waren empört wegen der unnützen Grausamkeit, eine Krankheit über die Kleine gebracht zu haben, ehe sie sie erdrosselten.
»Endlich ist er da!« sagte Frau Maheu.
Ein schwarzer Schatten huschte am Fenster vorüber. Die Tür ward geöffnet. Aber es war nicht der Doktor Vanderhaghen; sie erkannten den neuen Pfarrer Abbé Ranvier, der nicht überrascht schien, das Haus so tot zu finden, ohne Licht, ohne Feuer, ohne Brot. Er kam schon aus drei Nachbarhäusern, ging von Familie zu Familie, um bereitwillige Arbeiter anzuwerben, wie Dansaert mit seinen Gendarmen es tat; er erklärte sich denn auch sogleich mit seiner fieberhaft erregten Sektiererstimme.
»Warum seid ihr am Sonntag nicht zur Messe gekommen, meine Lieben? Ihr tut unrecht; die Kirche allein kann euch retten ... Versprecht mir, am nächsten Sonntag zu kommen.«
Maheu schaute ihn an und setzte dann schwerfällig seinen Gang wieder fort, ohne ein Wort zu sagen. Sein Weib antwortete dem Priester.
»Zur Messe, Herr Pfarrer? Wozu denn? Der liebe Gott kümmert sich wenig um uns. Was hat meine Kleine ihm getan, daß sie von Fieberschauern geschüttelt wird? Wir hatten noch nicht genug des Elends; er mußte mir sie krank machen zu einer Zeit, da ich ihr nicht eine warme Brühe geben kann.«
Der Priester blieb vor ihnen stehen und hielt eine lange Anrede an sie. Er beutete den Streik aus, dieses furchtbare Elend, diese erbitterte Rache des Hungers; er tat es mit dem Eifer eines Missionars, der um des Ruhmes der Religion willen den Wilden predigt. Er sagte, die Kirche sei mit den Armen, sie werde eines Tages die Gerechtigkeit zum Siege führen, den Zorn Gottes über die Ungerechtigkeiten der Reichen bringen. In Bälde werde dieser Tag leuchten; denn die Reichen hätten sich an die Stelle Gottes gesetzt, regierten ohne Gott, nachdem sie in gottloser Weise die Macht an sich gerissen. Allein wenn die Arbeiter eine gerechte Teilung der irdischen Güter wollten, müßten sie sich sogleich den Priestern anheimgeben, gleichwie bei dem Tode Jesu die Kleinen und Demütigen sich um die Apostel scharten. Welche Macht würde der Papst haben, über welches Heer würde die Geistlichkeit verfügen, wenn sie die zahllose Menge der Arbeiter befehligen würde! In einer Woche würde man die Welt von den Bösewichtern säubern, die unwürdigen Herrn verjagen; es sei endlich das wahre Reich Gottes; jeder werde nach seinen Verdiensten belohnt; das Gesetz der Arbeit werde die allgemeine Wohlfahrt regeln.
Frau Maheu, die ihm zuhörte, glaubte Etienne zu hören, wenn er ihnen an den Augustabenden das Ende ihres Elends ankündigte. Allein sie hatte gegen die Kutten der Geistlichen stets ein gewisses Mißtrauen gehabt.
»Was Sie uns da erzählen, ist sehr schön, Herr Pfarrer«, sagte sie. »Aber sind Sie denn nicht mehr in Übereinstimmung mit den Spießbürgern? ... Alle unsere früheren Pfarrer speisten auf der Direktion und drohten uns mit dem Teufel, wenn wir Brot verlangten.«
Er begann von neuem und sprach von dem beklagenswerten Mißverständnisse zwischen der Kirche und dem Volke. Jetzt zog er in verhüllten Sätzen gegen die städtischen Pfarrer, gegen die Bischöfe los, die nur den Genüssen und der Herrschsucht lebten, in ihrer Verblendung und in ihrem Schwachsinn mit dem liberalen Bürgertum paktierten und nicht sahen, daß eben dieses Bürgertum die Geistlichkeit ihrer Herrschaft über die Welt beraubte. Die Erlösung werde von den Landgeistlichen kommen; sie alle würden sich erheben, um mit Hilfe der Armen und Elenden das Reich Christi wieder herzustellen. Er schien schon an ihrer Spitze zu stehen; er richtete seine knochige Gestalt auf als Anführer, als Revolutionär des Evangeliums, die Augen von einem solchen Lichte erfüllt, daß sie die dunkle Stube erhellten; diese feuereifrige Predigt riß ihn fort, daß er sich in mystischen Worten erging. Diese armen Leute verstanden ihn längst nicht mehr.
»Es ist unnötig, soviele Worte zu machen,« brummte Maheu plötzlich; »Sie hätten besser damit angefangen, uns ein Brot zu bringen.«
»Kommt Sonntag zur Messe!« rief der Priester. »Gott wird für alles sorgen.«
Er ging und trat bei den Levaque ein, um diese zu belehren, entrückt in seinem Traum von dem schließlichen Triumph der Kirche, in solcher Mißachtung der Tatsachen, daß er in dieser Weise die Dörfer durcheilte ohne Almosen, mit leeren Händen durch die Reihen dieser Armen und Hungrigen ziehend, selbst ein armer Teufel, der die Leiden als einen Ansporn zum Heil betrachtete.
Maheu ging noch immer in der Stube auf und ab; man hörte nichts als seine schweren Tritte, unter denen die Quadern erzitterten. Jetzt vernahm man ein Geräusch wie von einem rostigen Brunnenschwengel: der alte Bonnemort spie in den kalten Kamin. Dann begannen wieder die gleichmäßigen Tritte. Alzire war infolge des Fiebers eingeschlafen und träumte still; sie lachte in dem Glauben, daß es warm sei und daß sie im Sonnenschein spiele.
»Jetzt glüht sie in Fieberhitze«, murmelte die Maheu, indem sie dem Kinde die Wangen befühlte. »Ich erwarte dieses Schwein nicht mehr; die Räuber werden ihm verboten haben zu kommen.«
Sie sprach von dem Arzte und von der Gesellschaft.
Dennoch stieß sie einen Freudenruf aus, als sie wieder die Tür aufgehen sah. Aber ihre Arme sanken herab; sie blieb mit düsterem Antlitze stehen.
»Guten Abend«, sagte Etienne halblaut, nachdem er die Türe sorgfältig geschlossen.
Oft kam er so unter dem Schutze des nächtlichen Dunkels. Die Maheu hatten schon am zweiten Tage Kenntnis von seinem Schlupfwinkel erlangt. Aber sie bewahrten das Geheimnis; niemand im Dorfe wußte, was aus dem jungen Manne geworden. Dieses Geheimnis umgab ihn wie eine Legende. Man fuhr fort, an ihn zu glauben; geheimnisvolle Gerüchte waren in Umlauf. Er werde mit einer Armee und mit goldgefüllten Kassen erscheinen. Es war noch immer die inbrünstige Erwartung eines Wunders, das zur Wirklichkeit gewordene Ideal, der plötzliche Einzug in die Stadt der Gerechtigkeit, die er ihnen verheißen hatte. Die einen behaupteten, sie hätten ihn in einer Kalesche in Gesellschaft von drei Herren auf der Straße nach Marchiennes fahren gesehen; andere versicherten, er habe nur noch zwei Tage in England zu bleiben. Aber mit der Zeit kam das Mißtrauen; einzelne Spaßvögel beschuldigten ihn, daß er sich in einem Keller verborgen halte, wo die Mouquette ihn wärme; denn dieses sein Verhältnis war bekannt geworden und hatte ihm geschadet. In seiner Volkstümlichkeit war langsam eine Erkaltung gegen ihn eingetreten, es war das dumpfe Vorwärtsdrängen der Überzeugten, die von Verzweiflung ergriffen wurden, und deren Zahl allmählich zunehmen mußte.
»Welch ein Hundewetter!« fügte er hinzu. »Und bei euch nichts Neues? Geht's immer schlecht und schlechter? Man hat mir gesagt, daß der kleine Negrel nach Belgien gegangen sei, um Leute aus dem Borinage anzuwerben. Wenn das wahr ist, sind wir verloren.«
Ein Frösteln hatte ihn ergriffen, als er in diese eiskalte, dunkle Stube trat, wo seine Augen sich erst gewöhnen mußten, bis er die Unglücklichen sah, deren Anwesenheit er bisher nur nach den tiefern Schatten vermutet hatte. Er fühlte das Widerstreben, das Mißbehagen des Arbeiters, der über seiner Klasse steht, durch das Studium verfeinert, durch den Ehrgeiz angespornt. Welches Elend! Und dieser Geruch und diese Leiber auf einem Haufen und das furchtbare Mitleid, welches ihm die Kehle zusammenschnürte! Der Anblick dieses Todeskampfes verstörte ihn in dem Maße, daß er nach Worten suchte, um ihnen die Unterwerfung anzuraten.
Doch Maheu hatte sich heftig vor ihn hingestellt und schrie:
»Leute aus dem Borinage! Das werden die Kerle nicht wagen! Wenn sie ihre Gruben verwüstet sehen wollen, müssen sie nur belgische Arbeiter anfahren lassen!«
Etienne erklärte mit verlegener Miene, man könne sich nicht rühren; die Soldaten, welche die Gruben bewachten, würden auch die Anfahrt der belgischen Arbeiter sichern. Maheu ballte die Fäuste, besonders darüber aufgebracht – wie er sagte – daß man diese Bajonette im Rücken habe. Waren denn die Bergleute nicht mehr Herren im eigenen Hause? Behandelte man sie als Galeerensträflinge, indem man sie mit geladenen Gewehren zu arbeiten zwang? Er liebte seine Grube, und es verursachte ihm schweren Kummer, daß er seit zwei Monaten nicht mehr angefahren war. Darum ward ihm rot vor den Augen bei dem Gedanken an diesen Schimpf, an diese Fremden, mit deren Anfahrt man drohte. Wenn er sich erinnerte, daß man ihm sein Arbeitsbuch zurückgestellt, brach ihm das Herz.
»Ich weiß übrigens nicht, weshalb ich zornig werde«, murmelte er. »Ich gehöre doch ihrer Baracke nicht mehr an ... Wenn sie mich von hier vertrieben haben, kann ich auf der Heerstraße verrecken.«
»Laß gut sein«, sagte Etienne. »Wenn du willst, nehmen sie morgen dein Arbeitsbuch wieder. »Man entläßt die guten Arbeiter nicht.«
Er unterbrach sich erstaunt, weil er Alzire in ihrem Fieberdelirium leise kichern hörte. Er hatte bisher nur den steifen Schatten des Vaters Bonnemort bemerkt, und die Heiterkeit dieses kranken Kindes entsetzte ihn. Es war zuviel des Elends, wenn schon die Kleinen zugrunde gingen. Mit zitternder Stimme entschloß er sich endlich zu sagen:
»Hör' einmal, das kann nicht länger dauern ... wir müssen uns ergeben.«
Frau Maheu, bisher unbeweglich und still, brach mit einemmal los, schrie ihm ins Gesicht, duzte ihn und fluchte wie ein Mann.
»Was sagst du? ... Du sagtst das? Himmelherrgott!«
Er wollte ihr Gründe anführen, aber sie ließ ihn nicht zu Worte kommen.
»Sag' es nicht noch einmal, oder ich fahre dir mit den fünf Fingern ins Gesicht, obgleich ich nur ein Weib bin ... Wir sollen zwei Monate gedarbt, ich soll meinen Hausrat verkauft haben, wir sollen krank geworden sein: und all das für nichts? Und die Ungerechtigkeit soll von vorn beginnen? ... Wenn ich daran denke, erstickt mich schier das Blut. Nein, nein, eher würde ich alles verbrennen, alles niedermetzeln als mich ergeben.«
Sie zeigte mit einer drohenden Handbewegung auf den im Dunkel stehenden Maheu und sagte:
»Wenn mein Mann zur Grube zurückkehrt, erwarte ich ihn am Wege, um ihm ins Gesicht zu speien und ihn einen Feigling zu nennen!«
Etienne sah sie nicht, aber er verspürte eine Hitze, etwas wie den heißen Atem eines heulenden Tieres und wich betroffen zurück vor dieser Tollwut, die sein Werk war. Er fand sie dermaßen verändert, daß er sie nicht wiedererkannte; sie war ehemals so bedächtig, warf ihm seine Heftigkeit vor, sagte, daß man niemandem den Tod wünschen solle. Jetzt aber wollte sie der Vernunft kein Gehör schenken und sprach davon, alles niederzumetzeln. Nicht er sprach jetzt von Politik, sondern sie; sie wollte mit einem Schlage die Bürger hinwegfegen, forderte die Republik und die Guillotine, um die Erde von diesen diebischen Reichen zu befreien, die von der Arbeit der Hungerleider fett geworden.
»Ja, mit meinen zehn Fingern würde ich sie schinden ... Es ist genug, denke ich. Unsere Zeit ist gekommen, du selbst hast es gesagt ... Wenn ich bedenke, daß der Vater, der Großvater, der Urgroßvater, alle Vorfahren gelitten haben, was wir leiden, und daß unsere Söhne, die Söhne unserer Söhne gleichfalls leiden werden, so werde ich toll und könnte ein Messer ergreifen ... Wir haben neulich noch nicht genug getan; wir hätten Montsou der Erde gleichmachen sollen bis auf den letzten Ziegel, und ich bedaure nur verhindert zu haben, daß der Alte die Tochter der Leute von der Piolaine erdrossele ... Läßt man nicht den Hunger meine Kleinen erwürgen?«
Ihre Worte klangen wie Axthiebe im Dunkel der Nacht. Der geschlossene Horizont hatte sich nicht öffnen wollen. In diesem vom Schmerz verdrehten Schädel verwandelte sich das unmöglich gewordene Ideal in Gift und Galle.
»Sie haben mich schlecht verstanden«, konnte Etienne endlich sagen, indem er den Rückzug antrat. »Man müßte zu einer Vereinbarung mit der Gesellschaft kommen; ich weiß, daß die Gruben infolge des Streiks großen Schaden leiden; die Gesellschaft würde einem Ausgleich sicherlich zustimmen.«
»Nein, nichts!« brüllte sie.
Eben kamen Leonore und Heinrich mit leeren Händen heim. Ein Herr hatte ihnen zwei Sous geschenkt; aber weil die Schwester dem Brüderchen immer Fußtritte versetzte, waren die zwei Sous in den Schnee gefallen. Johannes hatte ihnen suchen helfen, und sie konnten nicht mehr gefunden werden.
»Wo ist Johannes?«
»Mutter, er ist fortgelaufen; er sagte, er habe zu tun.«
Tiefbekümmerten Herzens hörte Etienne diese Erzählung. Ehemals hatte die Maheu ihren Kindern gedroht, ihnen die Hälse umzudrehen, wenn sie wagen sollten, die Hand auszustrecken. Heute schickte sie selbst die Kleinen auf die Straßen hinaus und sprach davon, daß sie alle, die zehntausend Bergleute von Montsou, mit Quersack und Bettelstab das entsetzte Land durchziehen wollten.
Da ward der Jammer noch größer in dieser finsteren Stube. Die Kleinen waren hungrig heimgekehrt und wollten essen. Warum aß man nicht? fragten sie. Sie murrten, schleppten sich am Boden herum und traten ihrer sterbenden Schwester auf die Füße, daß sie schmerzlich stöhnte. Außer sich schlug die Mutter im Finstern auf sie los. Als sie lauter schrien und Brot verlangten, brach sie in Tränen aus, sank auf die Fliesen hin, umschloß sie alle, auch die Kranke, in einer Umarmung und weinte lange, lange, hundertmal dieselben Worte stammelnd: »Gott, warum nimmst du uns nicht zu dir? Gott, aus Erbarmen, nimm uns zu dir, um ein Ende zu machen!« Der Großvater verharrte in der Unbeweglichkeit eines alten Baumes, den Sturm und Regen gebeugt und gekrümmt haben, während der Vater unablässig zwischen Kamin und Eßschrank hin und her ging, ohne den Kopf zu wenden.
Doch jetzt ward die Tür geöffnet; diesmal war es der Doktor Vanderhaghen.
»Teufel!« schalt er; »euch wird das Kerzenlicht auch nicht die Augen verderben! ... Rasch, rasch, ich habe Eile.«
Erschöpft von seiner Berufsarbeit brummte er wie immer. Er hatte glücklicherweise Zündhölzchen bei sich; der Vater mußte sechs nach einander anzünden und ihm leuchten, damit er die Kranke betrachten könne. Von der Decke befreit, zitterte sie unter dem flackernden Schein des Zündhölzchens, mager wie ein Vöglein, das im Schnee stirbt, und so gebrechlich, daß man nichts als den Höcker sah. Und sie lächelte noch; es war das irre Lächeln einer Sterbenden; die Augen standen weit offen, die dürren Händchen krümmten sich auf der hohlen Brust. Als die Mutter, vom Schluchzen fast erstickt, fragte, ob es einen Sinn habe, daß ihr – vor ihr – das einzige Kind genommen werde, das ihr in der Hauswirtschaft eine Stütze war, ein so sanftes und verständiges Kind, da wurde der Arzt böse.
»Sie geht von hinnen! ...« rief er. »Sie ist Hungers gestorben, deine Unglückstochter! ... Und sie ist nicht die einzige; nebenan habe ich noch eine gesehen. Ihr ruft mich alle, aber ich kann nichts tun. Ihr braucht Fleisch, um gesund zu werden!«
Maheu hatte das Zündhölzchen fallen lassen, weil es ihm die Finger brannte, und die Finsternis senkte sich wieder auf die kleine, noch warme Leiche. Der Arzt war wieder davongelaufen. Etienne hörte in der finstern Stube nichts mehr als das Schluchzen der Maheu, die immerfort den Tod herbeirief und endlos ihre Klage wiederholte:
»Gott, nimm mich zu dir! Jetzt, ist an mir die Reihe! ... Gott, nimm meinen Mann zu dir und die anderen aus Erbarmen, um ein Ende zu machen!!«