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In der Schenke »Zur Gemütlichkeit« bei der Witwe Désir fand am Donnerstag nachmittag die vertrauliche Versammlung statt. Entrüstet über den Jammer, den man ihren Kindern, den Bergleuten, verursachte, kam die Witwe aus dem Zorn nicht mehr heraus, besonders seitdem ihre Schenke sich leerte. Nie hatte sie einen weniger durstigen Streik gesehen; die Trunkenbolde sperrten sich zu Hause ein aus Furcht, das Verbot der Nüchternheit zu brechen. Die breite Straße von Montsou, wo es sonst an Feiertagen von Leuten wimmelte, lag jetzt still in trostloser Düsterkeit da. Nicht mehr floß das Bier in Strömen von den Schenktischen und aus den Bäuchen: das Rinnsal war trocken. Vor der Weinstube des Casimir und vor dem Wirtshause »Zum Fortschritt« sah man nur die bleichen Gesichter der Wirtinnen, die nach der Straße auslugten; in Montsou selbst zog die lange Straßenzeile sich menschenleer dahin von der Schenke des Lenfant bis zur Schenke des Tison vorbei an der Schenke des Piquette und dem Schnapsladen »Zum Kopfabschneider«; bloß im Gasthause Saint-Eloi, das von Aufsehern besucht wurde, gingen noch einige Schoppen ab. Die Verödung hatte selbst den »Vulkan« ergriffen, dessen »Damen« Arbeitsfeier hatten, weil es an »Kunstliebhabern« fehlte, obgleich sie ihren Preis von zehn Sous auf fünf Sous herabgesetzt hatten – wegen der schlechten Zeiten. Es war eine wahre Trauer, die alle Herzen in der Gegend zu brechen drohte.
»Herrgott«, rief die Witwe Désir, indem sie mit beiden Händen auf ihre Schenkel schlug. »Die Gendarmen sind an allem schuld. lch muß ihnen einen Schabernack spielen, und wenn ich hinterhin ins Loch gesteckt werde.«
Alle Behörden, alle Dienstgeber waren für sie Gendarmen; es war dies in ihrem Munde ein Ausdruck allgemeiner Verachtung, mit dem sie die Feinde des Volkes umfing. Das Verlangen Etiennes hatte sie mit Begeisterung aufgenommen; ihr ganzes Haus gehörte den Bergleuten; sie werde den Ballsaal unentgeltlich herleihen, sie selbst die Einladungen versenden, da das Gesetz es fordere. Übrigens, wenn das Gesetz nicht zufrieden sei, umso besser. Es solle den Rachen aufreißen.
Am nächsten Tage brachte ihr der junge Mann fünfzig Briefe zur Unterschrift; er hatte diese Briefe von schreibkundigen Nachbarn im Arbeiterdorfe vervielfältigen lassen, und man versandte die Briefe nach den Schächten, an die Delegierten des Vereines und an Männer, deren man sicher war. Die eingestandene Tagesordnung war die Beratung über die Fortsetzung des Streikes; aber in Wirklichkeit erwartete man Pluchart; man rechnete auf eine Rede von ihm, um einen Massenbeitritt zur »Internationale« herbeizuführen.
Am Donnerstag Morgen ward Etienne von Unruhe ergriffen, als er seinen ehemaligen Werkmeister nicht ankommen sah, der telegraphisch versprochen hatte, am Mittwoch Abend da zu sein. Was ging denn vor? Etienne war trostlos, sich nicht vor der Sitzung mit ihm besprochen zu können. Um neun Uhr begab er sich nach Montsou, in der Hoffnung, daß der Mechaniker geradewegs dahin gegangen war, ohne im Voreux anzuhalten.
»Nein, ich habe Ihren Freund nicht gesehen«, antwortete ihm die Witwe Désir. »Aber alles ist bereit; kommen Sie nachschauen.«
Sie führte ihn in den Ballsaal. Seine Ausschmückung war die frühere geblieben; ein Laubgewinde, das an der Decke eine Krone von Buntpapier trug; an den Wänden Wappenschilder von vergoldetem Karton mit den Namen von männlichen und weiblichen Heiligen. Die Erhöhung für die Musiker in einem Winkel des Saales war durch einen Tisch und drei Sessel ersetzt; davor waren mehrere Bänke querüber aufgestellt.
»Sehr gut«, erklärte Etienne.
»Um es euch nur zu sagen, ihr seid zu Hause,« fuhr die Witwe fort; »schreit, soviel ihr wollt ... Die Gendarmen müssen mir über den Leib, wenn sie kommen.«
Trotz seiner Unruhe konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken, als er sie betrachtete, so umfangreich fand er sie, mit einem Paar Brüste, deren eine schon einen ganzen Mann erforderte, um umfangen zu werden; man erzählte denn auch, daß sie von ihren sechs Verehrern jetzt allabendlich zwei nehme – wegen der Arbeit.
Doch jetzt sah Etienne zu seinem Erstaunen Rasseneur und Suwarin eintreten. Als die Witwe die drei Männer in dem großen, leeren Saale allein gelassen hatte, rief er:
»Wie, ihr seid schon da?«
Suwarin, der in der Nacht im Voreuxschachte gearbeitet hatte, weil die Maschinisten sich am Streik nicht beteiligten, war aus bloßer Neugierde gekommen. Rasseneur schien seit zwei Tagen in Verlegenheit zu sein; sein dickes, rundes Gesicht hatte sein gemütliches Lächeln verloren.
»Pluchart ist nicht angekommen, ich bin sehr unruhig«, fügte Etienne hinzu.
Der Schankwirt wandte die Augen ab und brummte zwischen den Zähnen:
»Das nimmt mich nicht wunder; ich erwarte ihn nicht mehr.«
»Wieso?«
Da entschloß er sich, schaute dem andern ins Gesicht und erwiderte freimütig:
»Um es dir nur zu sagen, auch ich habe ihm einen Brief geschrieben und ihn gebeten, nicht zu kommen... ja ich finde, daß wir unsere Angelegenheiten selbst besorgen müssen, ohne uns an die Fremden zu wenden.«
Etienne geriet außer sich vor Zorn; dem andern fest in die Augen schauend, rief er ein um das andere Mal:
»Du hast das getan, du hast das getan!«
»Jawohl, ich habe das getan; und doch weißt du, wie sehr ich zu Pluchart Vertrauen habe. Es ist ein feiner Kopf, dem man sich anvertrauen darf. Allein, siehst du, ich pfeife auf die Gedanken. Die Politik, die Regierung: sie sind mir schnuppe. Ich wünsche, daß der Bergmann besser behandelt werde. Zwanzig Jahre habe ich in der Grube gearbeitet und daselbst soviel Not und Mühsal gelitten, daß ich geschworen habe, Erleichterungen für die armen Teufel zu erringen, die verurteilt sind, noch weiter dort zu leben; und ich habe das Gefühl, daß ihr mit allen euren Geschichten nichts erreichen, vielmehr das Los des Arbeiters noch verschlechtern werdet... Wenn er durch den Hunger genötigt wird, wieder anzufahren, wird man ihn noch mehr schinden, die Gesellschaft wird ihn mit Hieben traktieren wie einen verlaufenen Hund, den man in sein Loch zurückjagt... Das will ich verhindern, verstehst du?«
Er erhob die Stimme und streckte den Bauch heraus, fest auf seinen dicken Beinen stehend. Die Art eines vernünftigen, geduldigen Menschen äußerte sich in klaren Sätzen, die reichlich und ohne Anstrengung hervorsprudelten. Sei es nicht blöd zu glauben, daß man mit einem Schlage die Welt ändern, die Arbeiter an Stelle der Arbeitgeber setzen, das Geld teilen könne, wie man einen Apfel teilt? Es brauche vielleicht tausende und abertausende von Jahren, bis das zur Wirklichkeit werde. Darum solle man ihn mit solchen Wundern zufrieden lassen. Wolle man sich nicht den Kopf anrennen, so sei es das Beste, geradeaus zu gehen, möglichere Formen zu verlangen, kurz das Schicksal der Arbeiter bei allen Gelegenheiten zu verbessern. Wenn er sich mit der Sache beschäftige, bemühe er sich, die Gesellschaft zu besseren Bedingungen zu bewegen; durch den Trotz werde man nur dahin kommen, daß alle Hungers verrecken.
Etienne hatte ihn reden lassen; die Entrüstung schnürte ihm die Kehle zu. Endlich rief er aus:
»Hast du denn kein Blut in den Adern?«
Einen Augenblick war er versucht, ihn zu ohrfeigen. Um der Versuchung zu widerstehen, begann er mit großen Schritten im Saale auf und ab zu gehen; er kühlte seine Wut an den Bänken, durch die er sich gewaltsam einen Weg bahnte.
»Schließt doch wenigstens die Türe«, bemerkte Suwarin. »Es ist nicht notwendig, daß man euch hört.«
Nachdem er selbst die Türe geschlossen hatte, setzte er sich ruhig auf einen der vor dem Präsidententische stehenden Sessel. Er hatte sich eine Zigarette gedreht und betrachtete die beiden anderen mit seinem milden, schlauen Blick, die Lippen von einem feinen Lächeln gekräuselt.
»Wenn du böse wirst, bringt es uns nicht weit«, bemerkte Rasseneur ruhig. »Ich habe zuerst geglaubt, du seiest besonnen und vernünftig. Es war sehr gut, den Kameraden zu empfehlen, daß sie sich ruhig verhalten, sie zu zwingen, daß sie sich nicht aus ihren Häusern rühren, endlich deine Macht zu gebrauchen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Jetzt willst du selbst sie ins Verderben stürzen.«
Bei jedem Lauf zwischen den Bänken kam Etienne zu dem Schankwirt zurück, packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn und schrie ihm seine Antworten ins Gesicht.
»Donner Gottes, ich will ja ruhig bleiben. Ja, ich habe ihnen eine Disziplin auferlegt; ja, ich rate ihnen noch immer, sich nicht zu rühren. Aber man soll uns nicht zum besten halten wollen. Du hast das Glück, kaltes Blut zu bewahren. Ich glaube manchmal, daß mir der Schädel platzen will.«
Es war dies seinerseits eine Beichte. Er verhöhnte sich selbst wegen seiner Wahnvorstellungen eines Neulings, wegen seines frommen Traumes von einer Stadt, wo unter den Brüder gewordenen Menschen alsbald die Gerechtigkeit herrschen solle. Fürwahr, ein gutes Mittel, die Arme kreuzen und warten, um zuzusehen, wie die Menschen bis zum Ende aller Tage einander auffressen gleich den Wölfen. Nein, man müsse sich einmengen, sonst werde das Unrecht ewig dauern, und stets würden die Reichen das Blut der Armen trinken. Er könne sich denn auch die Dummheit nicht verzeihen, einst gesagt zu haben, daß man die Politik aus der sozialen Frage verbannen müsse. Damals habe er nichts verstanden, seither aber gelesen und studiert. Jetzt seien seine Gedanken gereift, und er rühme sich, ein System zu haben. Allein er erklärte es schlecht, in verworrenen Redensarten, die ein Gemisch aller Systeme darstellten. Obenauf blieb der Gedanke von Karl Marx: das Kapital ist das Resultat der Beraubung; die Arbeit hat die Pflicht und das Recht, diesen gestohlenen Reichtum zurückzuerobern. In der Praxis hatte er sich anfänglich gleich Proudhon durch den Traum vom wechselseitigen Kredit fangen lassen, von einer riesigen Austauschbank; dann wieder begeisterte er sich für die staatlich unterstützten Arbeitsgenossenschaften, die allmählich die ganze Erde in eine einzige Industriestadt umwandeln sollten. Dies währte bis zu dem Tage, an dem die Schwierigkeit der Kontrolle ihn diesen Plan fallen ließ. Seit kurzer Zeit war er bei dem Kollektivismus angelangt; er forderte, daß alle Arbeitswerkzeuge der Kollektivität abgeliefert würden. Allein dieser Plan war noch ganz verschwommen, und er wußte nicht, wie man ihn verwirklichen solle; ihn behinderten die Bedenken seiner Empfindlichkeit und seiner Vernunft; er wagte nicht, sich bis zu den bestimmten Behauptungen der Sektierer zu versteigen. Er sagte bloß, es handle sich vor allem darum, sich der Regierung zu bemächtigen; das weitere werde sich finden.
»Aber was ficht dich an? Warum willst du dich mit den Spießbürgern einlassen?« fuhr er heftig fort, indem er sich vor den Schankwirt hinstellte. »Sagtest du nicht selber, es müsse alles in die Luft fliegen?«
Rasseneur errötete leicht.
»Ja, das habe ich gesagt; und wenn alles in die Luft fliegt, sollst du sehen, daß ich nicht feiger bin als ein anderer. Allein ich bin nicht gesonnen, mit denen zu gehen, die den Trubel vermehren, um für sich eine Stellung herauszufischen.«
Jetzt war an Etienne die Reihe zu erröten. Die beiden Männer schrien nicht mehr; von kühler Nebenbuhlerschaft ergriffen, wurden sie in ihren Reden bitter und boshaft. Diese Nebenbuhlerschaft war es im Grunde, welche die Systeme auf die Spitze trieb, den einen zu revolutionären Übertreibungen, den andern zu einer geheuchelten Vorsicht drängte, sie wider ihren Willen über ihre wahren Ideen hinaus fortriß, wie es das Verhängnis der Rollen ist, die man nicht selbst gewählt hat. Suwarin, der ihnen zuhörte, zeigte in seinem Antlitz, das dem eines blonden Mädchens glich, eine stille Verachtung, die vernichtende Verachtung eines Mannes, der bereit ist, sein Leben zu opfern im Dunkel und in der Vergessenheit, ohne dafür auch nur den Ruhm des Märtyrertums zu haben.
»Also meinetwegen sagst du das?« fragte Etienne. »Du bist neidisch?«
»Neidisch? Weshalb?« entgegnete Rasseneur. »Ich spiele mich nicht auf den großen Mann auf; ich trachte nicht, einen Zweigverein in Montsou zu gründen, um sein Sekretär zu werden.«
Der andere wollte ihn unterbrechen, doch er setzte hinzu:
»Sei doch aufrichtig: du kümmerst dich ganz und gar nicht um die Internationale; du willst nur an unserer Spitze sein, den Herrn spielen, indem du mit dem famosen Bundesrat des Nordens einen Briefwechsel unterhältst.«
Nach kurzem Stillschweigen nahm Etienne –- vor Wut bebend –- wieder das Wort.
»Es ist gut...« sagte er. »Ich glaube, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Stets habe ich dich zu Rate gezogen, denn ich wußte, daß du hier –- lange vor mir –- gekämpft hast. Doch da du niemanden an deiner Seite dulden kannst, werde ich künftig ganz allein handeln... Ich gebe dir vor allem zu wissen, daß die Sitzung dennoch stattfinden wird, selbst wenn Pluchart nicht kommt, und daß die Kameraden auch gegen, deinen Willen beitreten werden.«
»Ei, mit dem Beitritt allein ist's nicht getan,« murmelte der Schankwirt; »man muß sie auch bestimmen, die Mitgliedergebühr zu bezahlen.«
»Keineswegs. Die Internationale bewilligt den im Streik befindlichen Arbeitern einen Aufschub. Wir werden später bezahlen, und sie wird uns sogleich zu Hilfe kommen.«
Da geriet Rasseneur plötzlich in Zorn.
»Wir werden sehen! ...« rief er. »Ich werde an deiner Sitzung teilnehmen und sprechen. Ja; ich werde es nicht zugeben, daß du den Freunden die Köpfe verdrehst; ich werde sie über ihre wahren Interessen aufklären. Wir werden ja sehen, wem sie folgen; mir, den sie seit dreißig Jahren kennen, oder dir, der du in weniger als einem Jahre alles auf den Kopf gestellt hast. Nein, nein, laß mich zufrieden ... Es gilt jetzt, wer von uns beiden den andern unterkriegt.«
Er ging hinaus und schlug heftig die Türe zu, daß die Blumengewinde unter der Saaldecke erzitterten und die Wappenschilder an den Wänden tanzten. Dann versank der große Saal wieder in tiefe Stille.
Suwarin, der am Tische saß, rauchte still für sich hin, und seine Miene bewahrte ihre gewohnte Sanftmut. Etienne ging eine Weile wortlos hin und her, dann erleichterte er sein Herz. War es seine Schuld, daß man diesen dicken Taugenichts gegen ihn losließ? Er wehrte sich gegen den Vorwurf, die Volkstümlichkeit gesucht zu haben; er wußte nicht einmal, wie alldas gekommen war, die Freundschaft der Bevölkerung des Arbeiterdorfes, das Zutrauen der Bergleute, die Macht, die er zur Stunde über sie hatte. Er war entrüstet über die Anschuldigung, aus Ehrgeiz zum Aufruhr gedrängt zu haben; er schlug sich an die Brust und beteuerte seine brüderlichen Gefühle.
Plötzlich blieb er vor Suwarin stehen und rief:
»Hör' einmal: wenn ich wüßte, daß die Sache einem unserer Freunde auch nur einen Tropfen Blut kosten könnte, würde ich lieber sogleich nach Amerika gehen!«
Der Maschinist zuckte mit den Achseln, und ein Lächeln kräuselte wieder seine Lippen.
»Blut,« murmelte er, »was hat das zu bedeuten? Die Erde braucht Blut...«
Etienne beruhigte sich allmählich, nahm einen Sessel und ließ sich am andern Ende des Tisches nieder, den Ellbogen aufstemmend. Dieses blonde Gesicht, dessen träumerische Augen zuweilen eine helle Röte annahmen, die ihnen einen Ausdruck der Wildheit gab, beunruhigte ihn und übte eine seltsame Wirkung auf seinen Willen. Ohne daß der Kamerad sprach, durch das Stillschweigen selbst gewonnen, fühlte er sich allmählich in Gedanken verloren.
»Was würdest du an meiner Stelle tun?« fragte er endlich. »Habe ich nicht recht, daß ich zur Tat dränge? . . . Es ist doch das Beste, daß wir uns an diesen Bund anlehnen, nicht?«
Suwarin blies ein Rauchwölkchen in die Luft, dann antwortete er mit seinem Lieblingsworte:
»Das sind Dummheiten; aber vorläufig ist es gut so... Übrigens wird deine Internationale sich bald rühren. Er beschäftigt sich damit.«
»Wer?«
»Er!«
Er hatte dieses Wort halblaut ausgesprochen, mit der Miene inbrünstigen Eifers, und dabei seinen Blick nach dem Osten gerichtet. Er sprach vom Meister, von Bakunin, dem Vertilger.
»Er allein vermag den Keulenschlag zu führen,« setzte er hinzu, »während deine Gelehrten mit ihrer Evolution nichts als Feiglinge sind... Ehe drei Jahre vergehen, wird die Internationale unter seinen Befehlen die alte Welt zertrümmern.«
Etienne spitzte aufmerksam die Ohren. Er brannte vor Wißbegierde, diesen Kultus des Umsturzes zu verstehen, über den der Maschinist nur wenige, unklare Worte fallen ließ, als wolle er seine Geheimnisse für sich behalten.
»Aber erkläre mir doch endlich, was ist euer Ziel?«
»Alles zerstören... Keine Nationen, keine Regierungen, kein Eigentum, keinen Gott und keinen Kultus.«
»Ich verstehe. Aber wohin führt euch das?«
»Zur anfänglichen formlosen Gemeinschaft, zu einer neuen Welt, zu einem neuen Beginn von allem.«
»Und die Mittel der Durchführung? Wie wollt ihr die Sache anfassen?«
»Mit dem Feuer, mit dem Gift, mit dem Dolch. Der Räuber ist der wahre Held, der Volksrächer, der Revolutionär der Tat, ohne aus den Büchern geholte Redensarten. Eine Reihe von furchtbaren Attentaten muß die Mächtigen erschrecken und die Völker erwecken.«
Suwarin wurde furchtbar, wenn er so sprach. Die Begeisterung erhob ihn auf seinem Sessel, eine geheime Flamme sprühte aus seinen fahlen Augen, und seine feinen Hände preßten den Tischrand, daß er ihn fast zerbrach. Von Furcht ergriffen, betrachtete ihn der andere und dachte an die Geschichten, die ihm halb und halb anvertraut worden, an die Minen unter dem Palaste des Zaren, an die Polizeichefs, die niedergestochen wurden gleich Wildschweinen; an die Geliebte Suwarins, das einzige Weib, dem er zugetan gewesen, und das an einem regnerischen Morgen in Moskau gehängt wurde, während er, unter die Menge verloren, sie ein letztes Mal mit den Augen küßte.
»Nein, nein,« murmelte Etienne mit einer Handbewegung, welche diese abscheulichen Bilder verscheuchte; »wir hierzulande sind noch nicht so weit. Mord und Brand, niemals! Das ist ungeheuerlich, das ist ungerecht; alle Kameraden würden sich erheben, um den Verbrecher zu erwürgen.«
Übrigens begriff er noch immer nicht; seine Rache lehnte sich auf gegen diesen düsteren Traum von der Ausrottung der Welt, die hingemäht werden sollte wie ein Roggenfeld. Was werde man nachher anfangen, wie würden die Völker dann neu erstehen? Er forderte eine Antwort.
»Sage mir dein Programm. Wir wollen wissen, wohin wir gehen.«
Da schloß Suwarin ruhig, mit seinem traumverlorenen Blick:
»Alle Betrachtungen über die Zukunft sind sträflich, denn sie behindern die vollständige Zerstörung und den Lauf der Revolution.«
Darüber lachte Etienne trotz der Kälte, die ihm bei dieser Antwort über den Rücken lief. Er gestand übrigens gern, daß sie ihr Gutes hatten, diese Gedanken, deren erschreckende Einfachheit ihn lockte. Allein er begriff, daß er sein Spiel vollständig dem Rasseneur ausliefere, wenn er seinen Kameraden solche Geschichten erzählen wollte. Es galt, praktisch zu sein.
Die Witwe Désir schlug ihnen vor zu frühstücken. Sie nahmen die Einladung an und gingen in die Gaststube, die an Wochentagen durch eine dünne Bretterwand von dem Tanzsaale geschieden war. Als sie ihren Eierkuchen und ihren Käse gegessen hatten, wollte der Maschinist gehen; als der andere ihn zurückhielt, sagte er:
»Wozu denn? Um eure unnützen Dummheiten anzuhören? Ich habe genug davon. Gute Nacht.«
Er ging mit seiner sanften, entschlossenen Miene, eine Zigarette im Munde.
Etienne fühlte seine Unruhe wachsen. Es war ein Uhr, und es schien gewiß, daß Pluchart sein Wort nicht hielt. Gegen halb zwei Uhr begannen die Abgesandten zu erscheinen; er mußte sie empfangen, weil er bei der Türe achthaben wollte aus Furcht, daß die Gesellschaft ihre gewöhnlichen Kundschafter senden könne. Er besichtigte jede Einladung und musterte die Leute; viele durften übrigens ohne Einladungskarte eintreten, es genügte, daß er sie kannte, damit man ihnen die Türe öffnete. Als es zwei Uhr schlug, sah er Rasseneur ankommen, der vor dem Schanktische seine Pfeife zu Ende rauchte und mit den Leuten plauderte. Diese spöttische Ruhe des Gastwirtes versetzte Etienne vollends in eine gereizte Stimmung, um so mehr als Spaßvögel gekommen waren, bloß um ihren Ulk zu treiben, Zacharias, Mouquet und andere. Diese belustigten sich über den Streik; sie fanden es drollig, nicht zu arbeiten. Sie ließen sich an einem Tische nieder, gaben ihre letzten zwei Sous für einen Schoppen hin, trieben ihren Spaß und verhöhnten ihre Kameraden, diese Überzeugten, die sich in allerlei Ungemach stürzten.
Wieder verfloß eine Viertelstunde. Die Leute im Saale wurden ungeduldig. Etienne gab jetzt alle Hoffnung auf und machte eine entschlossene Gebärde. Eben wollte er in den Saal eintreten, als die Witwe Désir, die den Kopf hinausgesteckt hatte, ausrief:
»Aber da ist ja der Herr, den Sie erwarten!«
Es war in der Tat Pluchart. Er kam in einem Wagen, den ein schwindsüchtiger Klepper zog, und sprang sogleich auf das Pflaster; es war ein schmächtiges, geschniegeltes Männchen, das unter dem schwarzen Überrock den Sonntagsstaat eines wohlgestellten Arbeiters trug. Seit fünf Jahren hatte er nicht mehr gearbeitet und pflegte seine Persönlichkeit, kämmte sich mit besonderer Sorgfalt, war sehr eitel wegen seiner rednerischen Erfolge; doch war ihm von seinem Handwerk her eine Steifheit der Glieder geblieben, und die Nägel seiner breiten Hände wuchsen nicht mehr, nachdem das Eisen sie weggefressen. Von sehr tätiger Natur fröhnte er seinem Ehrgeiz, indem er unaufhörlich die Provinz bereiste, um seine Gedanken zu verbreiten.
»Zürnt mir nicht!« rief er aus, um allen Fragen und Vorwürfen zuvorzukommen. Gestern Morgen Konferenz in Preuilly, abends Sitzung in Valençay. Heute Frühstück in Marchiennes mit Sauvagnat... Indes ist es mir gelungen, einen Wagen zu bekommen. Ich bin ausgepumpt, Ihr könnt es an meiner Stimme hören. Aber das tut nichts, ich werde dennoch sprechen.«
Er war schon auf der Schwelle des Hauses, als ihm noch etwas einfiel.
»Sapristi! Schier hätte ich die Karten vergessen. Was sollten wir da anfangen?«
Er kehrte zum Wagen zurück, den der Kutscher eben unter den Schuppen führen wollte, und holte unter dem Sitze ein Kästchen von schwarzem Holze hervor, das er unter dem Arme hineintrug.
Etienne ging strahlenden Gesichtes hinter ihm her, während der betroffene Rasseneur nicht wagte, ihm die Hand zu reichen. Doch Pluchart schüttelte die seine und sagte ihm rasch ein Wort über seinen Brief. Welch' ein seltsamer Gedanke! Warum sollte man die Versammlung nicht abhalten? Man soll immer eine Versammlung abhalten, wenn man es kann. Die Witwe Désir bot ihm eine Erfrischung an; allein er lehnte ab; er spreche, ohne zu trinken, sagte er. Aber er hatte es eilig, weil er am Abend bis nach Joiselle kommen wollte, um sich dort mit Legoujeux zu verständigen. Jetzt drängten alle in einem Haufen nach dem Saale. Maheu und Levaque, die spät gekommen waren, folgten den übrigen. Die Tür wurde mit dem Schlüssel versperrt, damit man unter sich sei; darüber lachten die Spaßvögel ganz laut; Zacharias rief Mouquet zu, daß sie vielleicht alle miteinander da drinnen ein Kind machen wollten.
Etwa hundert Bergleute saßen harrend auf den Bänken in der dumpfen Luft des Saales, wo die warmen Gerüche des letzten Balles von den Dielen aufstiegen. Ein Flüstern lief durch die Menge; die Köpfe wandten sich um, während die Neuangekommenen sich auf die leeren Plätze setzten. Man betrachtete den Herrn aus Lille; sein schwarzer Rock verursachte Überraschung und Unbehagen.
Auf Vorschlag Etiennes wurde sogleich der Vorstand gebildet; er rief die Namen aus, die anderen gaben ihre Zustimmung durch Erheben der Hände. Pluchart wurde zum Präsidenten, Maheu und Etienne wurden zu Beisitzern gewählt. Es fand ein geräuschvolles Sesselrücken statt, der Vorstand nahm seine Plätze ein. Man suchte einen Augenblick den Präsidenten, der hinter dem Tische verschwunden war, unter den er sein Kästchen geschoben hatte, das er nicht aus der Hand lassen wollte. Als er wieder erschien, schlug er leicht mit der Faust auf den Tisch, um Stille zu verlangen. Dann begann er mit heiserer Stimme:
»Mitbürger!...«
Eine kleine Tür ging auf, er mußte sich unterbrechen. Es war die Witwe Désir, die auf einem Umweg durch die Küche sechs Schoppen Bier auf einer Platte brachte.
»Lassen Sie sich nicht stören,« flüsterte sie, »wenn man spricht, hat man Durst.«
Maheu nahm ihr die Platte ab, und Pluchart konnte fortfahren. Er sei gerührt von der guten Aufnahme seitens der Arbeiter von Montsou, sagte er. Er entschuldigte seine Verspätung mit der vielen Plage, die er hatte, und mit seinem Halsweh. Dann erteilte er das Wort dem Bürger Rasseneur, der es verlangt hatte.
Rasseneur hatte schon neben dem Tische in der Nähe der Bierschoppen Aufstellung genommen. Ein umgelegter Sessel diente ihm als Rednertribüne. Er schien sehr erregt und hustete, bevor er mit lauter Stimme ausrief:
»Kameraden!«
Sein Einfluß auf die Grubenarbeiter kam von der Leichtigkeit seiner Rede, von der Gemütlichkeit, mit der er stundenlang sprach, ohne jemals zu ermüden. Er verzichtete auf Gebärden, blieb schwerfällig und lächelnd, hüllte sie in seine Reden ein und betäubte sie, bis alle riefen: »Ja, ja, es ist wahr, du hast recht.« Heute fühlte er jedoch gleich nach den ersten Worten einen dumpfen Widerstand. Er ging denn auch mit Vorsicht vor. Er sprach zuerst gegen die Fortsetzung des Streiks und erwartete die Zustimmung, bevor er auf den Angriff gegen die Internationale übergehen werde. Gewiß, die Ehre gestatte es nicht, auf die Forderungen der Gesellschaft einzugehen; allein, welches Elend! Welche furchtbare Zukunft, wenn man noch lange im Widerstand verharren müsse! Ohne sich für die Unterwerfung auszusprechen, erweichte er den Mut der Leute; er sprach von den hungerssterbenden Arbeiterdörfern und fragte, woher die Anhänger des Widerstandes Hilfe erwarteten. Drei oder vier seiner Freunde versuchtem ihm beizustimmen, was die eisige Stille der überwiegenden Mehrheit nur um so mehr hervortreten ließ und nur dazu beitrug, das Mißfallen zu verschärfen, das diese Worte hervorriefen. Als Rasseneur verzweifelte, sie wieder für sich zu gewinnen, geriet er in Zorn und prophezeite ihnen alles Unglück, wenn sie sich die Köpfe verdrehen lassen würden durch Herausforderungen, die aus der Fremde kommen. Zwei Drittel der Anwesenden erhoben sich verdrossen und wollten ihn am Weitersprechen hindern, weil er sie beschimpfe und wie Kinder behandele, die ihr Benehmen nicht zu regeln wüßten; er aber fuhr fort, in dem Tumulte zu reden, wobei er von Zeit zu Zeit einen Schluck Bier nahm; der Kerl sei noch nicht geboren, schrie er, der ihn hindern werde, seine Pflicht zu tun.
Pluchart stand aufrecht hinter dem Tische; da er keine Glocke hatte, schlug er mit der Faust auf den Tisch und wiederholte immerfort mit seiner heiseren Stimme:
»Mitbürger! Mitbürger!...«
Endlich trat ein wenig Stille ein, und die von dem Vorsitzenden befragte Versammlung entzog Rasseneur das Wort. Die Abgesandten, die bei dem Direktor erschienen waren, führten alle übrigen; alle waren durch den Hunger erbittert und von neuen Gedanken beseelt. Der Beschluß war sozusagen im voraus vereinbart worden.
»Du hast leicht lachen, denn du ißt«, brüllte Levaque, indem er Rasseneur drohend die Faust zeigte.
Etienne hatte sich hinter dem Rücken des Vorsitzenden zurückgelehnt, um Maheu zu beschwichtigen, der ganz rot und durch die heuchlerischen Reden des Schankwirtes außer sich gebracht war.
»Mitbürger!« sagte Pluchart, »gestattet mir das Wort.«
Tiefe Stille trat ein, und er sprach. Schwer und rauh kamen die Worte aus seiner Kehle hervor, aber er hatte sich auf seinen Kreuz- und Querfahrten daran gewöhnt. Er führte seine Kehlkopfentzündung wie sein Programm im Lande umher. Allmählich ward die Stimme stärker, und er wußte tiefgehende Wirkungen zu erzielen. Seine Arme ausbreitend, seine Sätze mit einem Wiegen der Schultern begleitend, entwickelte er eine Beredsamkeit, die etwas von einer Predigt hatte, eine fromme Art, das Ende der Sätze fallen zu lassen, ein eintöniges Schnarren, das schließlich die Zuhörer überzeugte.
Er sprach über die Größe und die Wohltaten der Internationale; es war die Rede, die er überall anbrachte, wo er zuerst erschien. Er erklärte den Zweck dieses Bundes, die Befreiung der Arbeiter; er erläuterte den großartigen Bau: unten die Gemeinde, darüber die Provinz, noch höher die Nation, ganz auf dem Gipfel die Menschheit. Langsam bewegten sich seine Arme, schienen die Stockwerke aufeinander zu stellen, richteten die ungeheure Kathedrale der künftigen Welt auf. Dann folgte die Schilderung der inneren Verwaltung; er las die Statuten vor, sprach von den Kongressen, zeigte die wachsende Bedeutung des Werkes, die Ausbreitung des Programms, das, von der Besprechung der Löhne ausgehend, jetzt die gesellschaftliche Abrechnung in Angriff nahm, um mit dem Lohnsystem aufzuräumen. Es werde keine Nationalitäten mehr geben, die Arbeiter der ganzen Welt seien in einem gemeinsamen Bedürfnis nach Gerechtigkeit vereinigt, würden die spießbürgerliche Fäulnis hinwegfegen, endlich die freie Gesellschaft begründen, wo jeder, der nicht arbeite, auch nicht ernten werde. Er heulte jetzt, sein Atem ließ das Buntpapier unter der angerauchten Decke erzittern, von welcher der Schall seiner Stimme zurückschlug.
Die Köpfe der Anwesenden waren in ein unruhiges Wogen geraten. Einige riefen:
»Ganz recht; wir sind dabei.«
Er fuhr fort zu reden. Ehe drei Jahre vergingen, werde die ganze Welt erobert sein. Er zählte die eroberten Völker auf; von allen Seiten kamen Beitrittserklärungen. Niemals habe eine neu erstehende Religion so viele Gläubige gefunden. Wenn sie erst einmal die Herren seien, würden sie den Arbeitgebern Gesetze diktieren und allen die Faust an die Gurgel legen.
»Ja, ja, die Herren werden dann zur Grube anfahren«, hieß es unter den Anwesenden.
Mit einer Handbewegung forderte er Stille. Er ging jetzt an die Besprechung der Streikfrage. Im Prinzip war er gegen die Streiks, sie waren ein zu langsam wirkendes Mittel, das die Leiden des Arbeiters nur noch vermehrte. Allein in Erwartung eines besseren müsse man sich dazu entschließen, wenn sie unvermeidlich würden, weil sie den Vorteil für sich hätten, das Kapital zu entkräften. In diesem Falle verwies er auf die Internationale wie auf eine Vorsehung der streikenden Arbeiter; er führte Beispiele an: Bei dem Streik der Bronzearbeiter in Paris hätten die Arbeitgeber sofort alles bewilligt, als sie zu ihrem Schrecken hörten, daß die Internationale Hilfsgelder sandte; in London hatte sie die Belegschaft einer ganzen Kohlengrube gerettet, indem sie auf ihre Kosten einen Zug Belgier, welche der Eigentümer der Kohlengrube hatte kommen lassen, nach ihrer Heimat zurücksandte. Bei dem bloßen Beitritt der Arbeiter erzittern die Gesellschaften; die Arbeiter treten in die große Armee der Arbeit ein, entschlossen, einer für den andern eher zu sterben, als Sklaven der kapitalistischen Gesellschaft zu bleiben.
Stürmisches Beifallsklatschen unterbrach ihn. Er trocknete sich die Stirn mit dem Taschentuche und lehnte das Glas Bier ab, das Maheu ihm zuschob. Als er fortfahren wollte, ward er von neuem Beifall unterbrochen.
»Es sitzt,« flüsterte er Etienne zu; »sie haben genug. Jetzt rasch die Karten her!«
Er schlüpfte unter den Tisch und erschien alsbald mit seinem kleinen Kästchen aus schwarzem Holze.
»Mitbürger!« rief er, das Getümmel überschreiend, »hier sind die Mitgliederkarten. Eure Abgesandten mögen näher treten, ich will ihnen die Karten übergeben, und sie werden sie dann unter euch verteilen. Die Zahlung wird später geregelt.«
Rasseneur stürzte herbei und legte nochmals Verwahrung ein. Auch Etienne hatte sich erhoben, wie um eine Rede zu halten. Die höchste Verwirrung trat ein. Levaque fuchtelte mit den Händen wie einer, der bereit ist zu raufen. Maheu hatte sich gleichfalls erhoben und sprach, ohne daß man ein Wort seiner Rede hätte verstehen können. In diesem wachsenden Lärm stieg ein Staub von den Dielen auf, der fliegende Staub der ehemaligen Bälle, welcher die Luft mit dem scharfen Geruch der Handlanger und der Schlepperinnen erfüllte.
Plötzlich ging die kleine Tür auf. Die Witwe Désir füllte sie mit ihrem Bauche und ihrem Busen aus und schrie aus voller Kehle:
»Schweigt, die Gendarmen sind da!«
Der Polizeikommissar des Bezirkes kam ein wenig verspätet an, um Protokoll aufzunehmen und die Versammlung aufzulösen. Vier Gendarmen begleiteten ihn. Die Witwe hatte sie fünf Minuten vor der Tür aufgehalten, indem sie auf ihre Fragen ihnen sagte, sie sei hier zu Hause und habe wohl das Recht, Freunde bei sich zu versammeln. Doch man hatte sie beiseite geschoben, und sie war herbeigeeilt, um ihre Kinder zu benachrichtigen.
»Ihr müßt durch diese Tür fort,« sagte sie; »im Hofe steht ein schmutziger Gendarm. Das tut aber nichts; meine kleine Holzkammer öffnet sich auf das Seitengäßchen. Sputet euch!«
Schon pochte der Kommissar mit den Fäusten an die Tür, und weil man nicht öffnete, drohte er die Tür einzustoßen. Ein Spion mußte geplaudert haben, denn er schrie, daß die Versammlung ungesetzlich sei, daß zahlreiche Arbeiter da seien, die keine Einladung hätten.
Der Lärm im Saale wurde immer größer. Man könne nicht so davonlaufen, man habe noch nicht gestimmt, weder für den Beitritt, noch für die Fortsetzung des Streiks. Alle redeten auf einmal. Endlich hatte der Vorsitzende den Einfall, daß man durch Zuruf stimmen soll. Einzelne streckten die Arme in die Luft, die Abgesandten erklärten in aller Eile, daß sie im Namen der abwesenden Kameraden beiträten. In dieser Weise wurden die zehntausend Bergleute von Montsou Mitglieder der Internationale.
Mittlerweile hatte die Flucht begonnen. Den Rückzug deckend, hatte die Witwe Désir sich gegen die Tür gestemmt, welche die Flintenkolben der Gendarmen erschütterten. Die Bergleute sprangen über die Bänke und entflohen einer nach dem andern durch die Küche und die Holzkammer. Rasseneur war als einer der ersten verschwunden, Levaque folgte ihm; er vergaß seine Verwünschungen und dachte nur daran, sich ein Glas Bier anbieten zu lassen, um sich zu erfrischen. Etienne hatte sich des kleinen Holzkästchens bemächtigt und wartete mit Pluchart und Maheu, die es als eine Ehrensache betrachteten, als die letzten fortzugehen. Eben hatten sie den Saal verlassen, da sprang das Schloß ab, und der Kommissar befand sich der dicken Wirtin gegenüber, deren Bauch und Busen ihm noch immer den Weg verrammelten.
»Was nützt es Euch, daß Ihr bei mir alles zerschlagt?« rief sie. »Ihr seht wohl, daß niemand da ist.«
Der Polizeikommissar, ein bedächtiger Mann, der alle Aufregungen scheute, drohte ihr, sie ins Gefängnis abführen zu lassen. Dann ging er fort, um sein Protokoll aufzusetzen, und nahm seine vier Gendarmen mit, gefolgt von höhnischen Bemerkungen Zacharias' und Mouquets, die, den feinen Streich ihrer Kameraden bewundernd, sich über die bewaffnete Macht lustig machten.
Im Seitengäßchen begann Etienne mit dem Kästchen unter dem Arme zu laufen, gefolgt von den übrigen. Plötzlich erinnerte er sich Pierrons und fragte, weshalb man diesen nicht gesehen. Maheu, der neben ihm herlief, erwiderte, daß er krank sei. Er leide an der Furcht, sich bloßzustellen. Man wollte Pluchart noch zurückhalten, doch dieser erklärte, daß er augenblicks nach Joiselle weiter reise, wo Legoujeux seine Befehle erwarte. Man rief ihm glückliche Reise zu, ohne im Lauf innezuhalten. Etienne und Maheu lachten vertraulich, sie waren jetzt des Triumphes sicher; wenn erst die Internationale Hilfsgelder schicke, werde die Gesellschaft sich aufs Bitten verlegen müssen, damit die Arbeiter wieder zur Grube anfahren. In dieser Aufwallung der Hoffnung, in diesem Galopp der plumpen Schuhe auf dem Pflaster von Montsou lag noch etwas anderes; ein düsterer, wilder Zug, eine Heftigkeit, deren Hauch alle Arbeiterdörfer ringsumher in ein Fieber versetzen sollte.