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Um die Mitte August zog Etienne zu den Maheu, nachdem Zacharias, der inzwischen geheiratet, für Philomene und seine zwei Kinder ein leergewordenes Haus von der Gesellschaft bekommen hatte. In der ersten Zeit fühlte sich der junge Mann einigermaßen verlegen Katharina gegenüber. Es war ein fortwährendes Beisammenleben; der junge Mann ersetzte in allen Stücken den älteren Bruder, teilte das Bett Johannes', dem Bette der erwachsenen Schwester gegenüber. Er mußte sich vor ihr entkleiden und ankleiden, gleichwie er auch sie ihre Kleider an- und ablegen sah. Wenn der letzte Rock fiel, erschien sie in ihrer fahlen Weiße, in dem durchsichtigen Schneeweiß der blutleeren Blonden; und er fühlte eine fortwährende Erregtheit, wenn er sie so weiß fand, Hände und Gesicht schon verdorben, wie in Milch getaucht von den Fersen bis zum Halse, um den der Hauch der Luft einen braunen Streif gelegt hatte. Obgleich er zum Schein sich abwandte, kannte er sie doch alsbald vollständig; zuerst die Füße, welche seine zu Boden gesenkten Augen sahen; dann ein Knie, das er erblickte, wenn sie unter die Bettdecke schlüpfte; hernach den Busen mit den kleinen, harten Brüstchen, wenn sie sich des Morgens über das Waschbecken bückte. Sie schaute ihn nicht an, beeilte sich indessen, war in zehn Sekunden entkleidet und hatte sich neben Alzire ausgestreckt. Dies geschah mit der Geschmeidigkeit einer Blindschleiche, so daß er kaum seine Schuhe ausgezogen hatte, wenn sie im Bette verschwand, ihm den Rücken kehrte und nichts als ihren dicken Haarknoten zeigte.
Sie hatte übrigens niemals Ursache, böse zu werden. Obgleich er fast unwillkürlich gewissermaßen in der Gewalt eines Bannes auf den Augenblick zu warten schien, wenn sie zu Bette ging, vermied er doch alle Scherze und gefährlichen Handgreiflichkeiten. Die Eltern waren da, und überdies bewahrte er für sie ein Gefühl aus Freundschaft und Groll gemengt, das ihn hinderte, sie wie eine Dirne zu behandeln, nach der man Verlangen trägt in der Ungezwungenheit ihres gemeinsamen Lebens, bei der Toilette, bei den Mahlzeiten, während der Arbeit, ohne daß selbst ihre intimsten Bedürfnisse ihnen geheimgeblieben wären. Die ganze Schamhaftigkeit der Familie beschränkte sich auf die tägliche Waschung, welche das Mädchen jetzt allein in der oberen Stube vornahm, während die Männer unten badeten, einer nach dem andern.
Nach Verlauf eines Monates schienen Etienne und Katharina einander nicht zu sehen, wenn sie, bevor die Kerze ausgelöscht ward, entkleidet im Zimmer hin und her gingen. Sie beeilte sich jetzt nicht mehr, nahm vielmehr ihre frühere Gewohnheit wieder auf, am Bettrande sitzend ihre Haare aufzustecken, die nackten Arme in der Luft, das Hemd bis zu den Schenkeln zurückgestreift; während er, ohne Beinkleider, ihr zuweilen behilflich war und die Stecknadeln suchte, die sie verloren hatte. Die Gewohnheit tötete das Schamgefühl über ihre Nacktheit; sie fanden es natürlich, so zu sein, da sie doch nichts Übles taten und es nicht ihre Schuld war, wenn für so viele Leute nur eine Stube da war. Indes gerieten sie zuweilen plötzlich in Verlegenheit in Augenblicken, wo sie an nichts Sträfliches dachten. Wenn er viele Abende nicht mehr die Blässe ihres Körpers gesehen hatte, sah er sie plötzlich wieder so weiß, daß er erschauerte und genötigt war, sich abzuwenden, weil er fürchtete, daß er der Versuchung erliegen könne, die Hände auszustrecken und sie zu ergreifen. Sie wieder ward an manchen Abenden ohne sichtliche Ursache von einer Regung der Züchtigkeit ergriffen, flüchtete unter die Bettdecke, als fühle sie die Hände des Burschen sie erfassen. Wenn dann die Kerze ausgelöscht war, merkten sie, daß sie nicht einschliefen, daß sie trotz ihrer Ermüdung aneinander dachten. Darüber waren sie am folgenden Tage unruhig und schweigsam; sie zogen die Abende vor, an denen es keine Aufregung gab und sie sich es voreinander ganz ruhig bequem machten.
Etienne hatte sich nur über Johannes zu beklagen, der einen unruhigen Schlaf hatte; Alzire atmete leicht und kaum hörbar; Leonore und Heinrich fand man des Morgens einander in den Armen liegend, wie man sie des Abends zu Bett gebracht hatte. In dem in Finsternis gehüllten Hause war kein anderes Geräusch hörbar als das Schnarchen der Eheleute Maheu, das in regelmäßigen Zwischenräumen erscholl wie ein Blasebalg. Alles in allem fühlte sich Etienne da wohler als bei Rasseneur; das Bett war nicht schlecht, und die Bettwäsche ward allmonatlich einmal gewechselt. Er aß da auch eine bessere Suppe und litt nur dadurch, daß selten Fleisch auf den Tisch kam. Allein die anderen lebten auch nicht besser, und für fünfundvierzig Franken Pension konnte er nicht verlangen, daß man ihm zu jeder Mahlzeit einen Kaninchenbraten vorsetzte. Diese fünfundvierzig Franken waren für die Familie eine Aushilfe; man konnte leben und machte nicht allzu viele Schulden. Die Maheu zeigten sich ihrem Mieter gegenüber dankbar; seine Leibwäsche wurde gewaschen und ausgebessert, seine Knöpfe festgenäht, seine Kleidung in Ordnung gehalten; kurz, er merkte, daß die Sauberkeit und Sorgfalt einer Frau ihn umgab.
Das war der Zeitabschnitt, in dem Etienne jene Gedanken erfaßte, die in seinem Gehirn wogten. Bis dahin hatte er – inmitten der dumpfen Gärung unter seinen Kameraden – nur eine unwillkürliche Empörung gefühlt. Allerlei verworrene Fragen tauchten in ihm auf: warum war das Elend der einen und der Reichtum der anderen? Warum wurden die ersteren von den letzteren geknechtet ohne Hoffnung, jemals an ihre Stelle zu gelangen? Das erste war, daß er seine Unwissenheit begriff. Seither quälte ihn eine geheime Scham, ein verborgener Kummer: er wußte nichts; er wagte nicht, von den Dingen zu sprechen, die ihn so leidenschaftlich erregten, von der Gleichheit aller Menschen, von der Gerechtigkeit, die eine Aufteilung der irdischen Güter forderte. Er warf sich also auf das Studium mit der regellosen, maßlosen Wißbegierde der Unwissenden. Jetzt stand er in einem regelmäßigen Briefwechsel mit Pluchart, der besser unterrichtet war und mitten in der sozialistischen Bewegung stand. Er ließ sich Bücher senden, deren unvollständig aufgefaßter Inhalt ihm vollends den Kopf erhitzte; besonders ein Buch: » Die Gesundheitslehre des Bergarbeiters«, in welchem ein belgischer Arzt alle jenen Krankheiten aufzählte, an denen die Bergleute zugrunde gehen; dann volkswirtschaftliche Abhandlungen von einer unfaßbaren technischen Trockenheit; anarchistische Flugschriften, die ihn in Aufruhr brachten; alte Zeitungen, deren Behauptungen er als unanfechtbare Beweise in seinen Gesprächen anführte. Auch Suwarin lieh ihm Bücher. Das Werk über die Kooperativgenossenschaften ließ ihn einen vollen Monat über einen allgemeinen Bund zum Austausch der Werte brüten, bei dem das Geld abgeschafft und die Arbeit zur Grundlage des ganzen gesellschaftlichen Lebens gemacht werden sollte. Es schwand die Scham über seine Unwissenheit, und er ward stolz, seitdem er sich als Denker fühlte.
In den ersten Monaten kam Etienne über das Entzücken des Neulings nicht hinaus; sein Herz floß von edler Entrüstung gegen die Bedrücker über und schwelgte in der Hoffnung auf den nahen Triumph der Bedrückten. In dem Gedankenwirbel, den alle diese Bücher in seinem Schädel hervorbrachten, war er noch nicht so weit, sich ein System zu bilden. Die praktischen Rückforderungsvorschläge Rasseneurs mengten sich bei ihm mit den Umsturzplänen Suwarins; und wenn er die Schenke »zum wohlfeilen Trunk« verließ, wo er fast jeden Tag mit Rasseneur und Suwarin gegen die Bergwerksgesellschaft wetterte, wandelte er gleichsam in einem Traum und sah die gründliche Wiedergeburt der Völker, die sich vollzog, ohne daß eine Fensterscheibe zerbrochen oder ein Tropfen Blut vergossen wurde. Die Mittel zur Durchführung blieben übrigens in ein Dunkel gehüllt; er glaubte lieber, daß die Dinge sehr gut gehen würden; denn sobald er ein Programm aufstellen wollte, nach dem die Welt neu eingerichtet werden sollte, verloren sich seine Gedanken in eine unlösbare Wirrsal. Er zeigte sich sogar voll Mäßigung und Mangel an Folgerichtigkeit; er wiederholte zuweilen, daß man die Politik aus dem Kreise der sozialen Frage verbannen müsse, eine Redensart, die er oft gelesen hatte und die gut zu klingen schien in der Umgebung phlegmatischer Bergleute, in der er lebte.
In der Familie Maheu war es jetzt Brauch geworden, nach dem Abendessen eine halbe Stunde in der Wohnstube zu verweilen, ehe man hinaufging schlafen. Etienne sprach immer über den nämlichen Gegenstand. Seitdem seine Natur sich verfeinerte, fühlte er sich noch mehr verletzt durch das in dem Arbeiterdorfe allgemein übliche Zusammenleben der Geschlechter. Waren diese Menschen denn Tiere, daß sie mitten in den Feldern zusammengepfercht lebten, dermaßen aneinander gedrängt, daß man nicht sein Hemd wechseln konnte, ohne dem Nachbarn seinen Hintern zu zeigen? Wie wenig das der Gesundheit zuträglich war, und wie Burschen und Mädchen dabei notgedrungen verkümmerten!
»Mein Gott!« pflegte Maheu zu bemerken, »wenn man mehr Geld hätte, würde man es sich auch bequemer einrichten können ... Immerhin ist es schlimm genug für alle, daß man dermaßen dicht beieinander leben muß. Das Ende von all dem sind immer betrunkene Männer und schwangere Mädchen.«
Dies war das Gespräch der Familie; jeder sagte sein Wörtchen, während die Petroleumlampe die von Zwiebelduft geschwängerte Luft noch mehr verdarb. Nein, wahrhaftig, das Leben war nicht mehr schön. Man habe – gleich den Tieren – eine Arbeit zu verrichten, mit der ehemals die Galeerensklaven gestraft wurden; man lasse oft vorzeitig die Knochen dabei und all das, um des Abends nicht einmal Fleisch auf dem Tische zu haben. Man habe zwar zu essen, aber so wenig, gerade genug, um nicht vor Hunger zu verrecken; man sei verschuldet bis über den Kopf und werde verfolgt, als stehle man sein Brot. Wenn der Sonntag komme, schlafe man vor Mattigkeit. Das einzige Vergnügen sei, sich zu betrinken oder seinem Weibe ein Kind zu machen. Was habe man davon? Das Bier mache einen Dickwanst, und von den Kindern habe man später nur Undank. Nein, nein, das Leben sei gar nicht schön.
Da mengte Frau Maheu sich ein:
»Das Traurigste ist, daß man sich sagen muß, es werde nicht besser ... Wenn man jung ist, bildet man sich ein, das Glück werde kommen, und hofft auf allerlei Dinge; dann sieht man, daß das Elend kein Ende nimmt, daß man darin eingeschlossen ist. Ich wünsche niemandem Schlimmes, aber manchmal empört mich diese Ungerechtigkeit.
Ein Schweigen trat ein; alle verschnauften sich einen Augenblick in dem unbestimmten Unbehagen angesichts des verschlossenen Horizontes. Nur wenn der Vater Bonnemort da war, riß er erstaunt die Augen auf; zu seiner Zeit habe man sich nicht so gequält; man sei in der Kohle geboren und hämmere in den Kohlengängen, ohne nach anderem zu verlangen; heute wehe ein Wind, der in den Bergleuten einen Ehrgeiz wachrufe.
»Man soll nichts verspeien«, brummte er. »Ein guter Schoppen ist ein guter Schoppen ... Die Vorgesetzten sind oft Halunken; aber Vorgesetzte wird es immer geben, nicht wahr? Es ist unnütz, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«
Sogleich fuhr Etienne auf. Wie, der Arbeiter solle nicht nachdenken dürfen? Ei, die Dinge würden ja nur deshalb in Bälde besser werden, weil der Arbeiter heutzutage nachdenke. Früher habe der Bergmann in der Grube wie ein Tier gelebt, wie eine Fördermaschine, immer unter der Erde, taub und blind für die Ereignisse der Außenwelt. Die herrschenden Reichen hätten es denn auch leicht, sich zu verständigen, ihn zu kaufen und zu verkaufen, um sein Fleisch zu essen; er habe es gar nicht geahnt. Jetzt erwache der Bergmann in seiner Grube; er keime in der Erde wie ein wirkliches Korn; man werde ihn eines Tages mitten aus den Feldern emporwachsen sehen; jawohl, Männer würden wachsen, eine Armee von Männern, welche die Gerechtigkeit wiederherstellen. Seien denn seit der Revolution nicht alle Bürger gleich? Man gebe zusammen seine Stimme ab: dürfe der Arbeiter noch länger der Sklave des Arbeitgebers sein, der ihn bezahle? Die großen Gesellschaften mit ihren Maschinen erdrückten alles, und man habe gegen sie nicht einmal mehr den Schutz der alten Zeit, als die Leute vom nämlichen Handwerk sich zu ihrer Verteidigung zusammentaten. Deswegen und anderer Dinge wegen werde – dank der fortgeschrittenen Bildung – eines Tages alles in die Luft fliegen. Man brauche nur einen Blick in das Arbeiterdorf zu tun: die Großväter hätten ihren Namen nicht zu unterschreiben gewußt; die Väter könnten ihn schon unterschreiben, die Söhne aber schrieben und läsen wie Professoren. Es sprieße allmählich eine herrliche Saat von Männern hervor, die in der Sonne reife. Sobald nicht jedermann sein ganzes Leben lang an demselben Fleck klebe und man den Ehrgeiz habe, sich an die Stelle des Nachbars zu setzen: warum solle man nicht seine Fäuste gebrauchen und trachten, der Stärkere zu sein?
Maheu war wankend gemacht, blieb aber von Mißtrauen erfüllt.
»Wer sich rührt, dem gibt man sein Arbeitsbuch zurück«, sagte er. »Der Alte hat recht: der Bergmann wird immer der Geplagte sein ohne Aussicht, von Zeit zu Zeit einen Hammelbraten essen zu können.«
Die Maheu, die seit einer Weile geschwiegen, sagte jetzt, wie aus einem Traum erwachend:
»Wenn wenigstens wahr wäre, was die Pfarrer erzählen: daß die Armen dieser Welt die Reichen sein werden in der andern Welt.«
Lautes Gelächter unterbrach sie; selbst die Kinder zuckten mit den Achseln; das Leben außer dem Hause hatte sie ungläubig gemacht; wohl fürchteten sie die Berggeister, doch machten sie sich über den leeren Himmel lustig.
»Ja, prosit die Pfarrer!« rief Maheu. »Wenn sie es glaubten, würden sie weniger essen und mehr arbeiten, um sich einen guten Platz da oben zu sichern. Nein, nein; wenn man tot ist, ist man tot.«
»O mein Gott! mein Gott!« jammerte die Maheu; »sollen wir denn wirklich für immer verloren sein?«
Sie ließ in unendlicher Trostlosigkeit die Hände auf die Knie niedersinken.
Alle schauten einander an. Der Vater Bonnemort spie in sein Taschentuch, während Maheu seine kalte Pfeife anzubrennen vergaß. Alzire hörte zu, zwischen Leonore und Heinrich sitzend, die am Tische eingeschlafen waren. Katharina, das Kinn auf die Hand gestützt, schaute mit ihren großen Augen unverwandt auf Etienne, wenn er voll Unmut sein Glaubensbekenntnis hersagte und die zauberische Zukunft seines sozialen Traumes erschloß. In den Häusern ringsumher ging man zur Ruhe; man hörte nichts mehr als das ferne Weinen eines Kindes oder das Gezänk eines verspäteten Trunkenboldes. Die Kuckucksuhr im Saale ließ ihr langsames Ticktack vernehmen; von den mit Sand bestreuten Fliesen stieg trotz der schwülen Luft eine kühle Feuchtigkeit auf.
»Das sind auch wieder solche Gedanken!« sagte der junge Mann. »Braucht ihr einen guten Gott und sein Paradies, um glücklich zu sein? Könnt ihr nicht selbst euch das Glück hienieden verschaffen?«
Endlos floß die eifrige Rede von seinen Lippen. Der geschlossene Horizont öffnete sich plötzlich, und es ward mit einem Schlage hell in dem düsteren Dasein dieser armen Leute. Die ewige Wiederkehr des Elends, die tierische Arbeit, das Schicksal des Viehes, das seine Wolle hergibt, um schließlich getötet zu werden, all der Jammer verschwand, wie hinweggescheucht durch einen ungeheuren Sonnenstrahl; und in einem blendenden Feenglanze stieg die Gerechtigkeit vom Himmel hernieder. Da der gute Gott tot war, mußte die Gerechtigkeit das Glück der Menschen sichern, indem sie die Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen ließ. Eine neue Gesellschaft wuchs an einem Tage heran – wie in den Träumen – eine neue, ungeheure Stadt von wunderbarem Glanze, in der jeder Bürger von seiner Beschäftigung lebte und seinen Anteil an den gemeinsamen Vergnügungen hatte. Die alte, vermoderte Welt war in Staub zerfallen; eine Menschheit, geläutert von ihren Sünden, bildete ein einziges Volk von Arbeitern, welches die Losung hatte: jedem nach seinem Verdienst und jedem Verdienst nach seinen Werken. Dieser Traum breitete sich immer mehr aus und ward immer schöner; und je höher er in die Unmöglichkeit hinanstieg, desto verführerischer ward er.
Von einem dumpfen Entsetzen ergriffen, wollte Frau Maheu anfänglich nichts hören. Nein, nein, es sei zu schön, man dürfe sich solchen Gedanken nicht hingeben; sie würden das Leben nachher nur noch abscheulicher erscheinen lassen, und man würde dann alles niedermetzeln, um glücklich zu sein. Als sie Maheus Augen funkeln sah, der verwirrt und so gut wie gewonnen war, unterbrach sie beunruhigt Etienne:
»Lieber Mann, höre ihn nicht an! Du siehst wohl, daß er uns Märchen erzählt ... Werden die Spießbürger jemals arbeiten wollen wie wir?«
Doch allmählich wirkte der Zauber auch auf sie. Sie lächelte schließlich, als ihre Einbildungskraft erweckt war und sie in das Feenreich der Hoffnung einzog. Es war so lieblich, eine Stunde lang die traurige Wirklichkeit zu vergessen. Wenn man lebt wie die Tiere, bis zur Erde gebeugt, muß man doch wohl einen Lügenwinkel haben, wo man sich Dinge gönnt, die man nie besitzen wird. Was sie in leidenschaftliche Aufregung und in Übereinstimmung mit dem jungen Manne brachte, war der Gedanke der Gerechtigkeit.
»Sie haben recht!« rief sie. »Für eine gerechte Sache könnte ich mich in Stücke hacken lassen ... Es wäre nur gerecht, wenn auch für uns endlich bessere Tage kämen.«
Da wagte auch Maheu sich zu begeistern.
»Donner Gottes!« rief er; »ich bin nicht reich, aber ich würde hundert Sous dafür geben, wenn ich es noch vor meinem Tode erleben könnte. Welch eine Umwälzung! Wird es bald sein? Und wie wird man die Sache anfassen?«
Etienne begann wieder zu sprechen, Die alte Gesellschaft krache in allen Fugen und könne nur mehr einige Monate dauern, behauptete er kühn. Über die Mittel der Durchführung äußerte er sich weniger bestimmt, mengte alles durcheinander, was er in den Büchern gelesen, erging sich vor diesen unwissenden Leuten ohne Scheu in Erklärungen, in die er selber sich schließlich verlor. Dabei kamen alle Systeme an die Reihe, gemildert durch die Sicherheit eines leichten Sieges, durch den Friedenskuß, der schließlich die Mißverständnisse der Klassen lösen solle; das schließe allerdings nicht aus, daß man die störrischen Köpfe unter den Besitzern und Spießbürgern zur Vernunft bringen müsse. Die Maheu schienen zu begreifen, stimmten ihm zu, fanden die wunderbaren Lösungen möglich mit dem blinden Glauben von Neubekehrten, gleich den ersten Christen, die das Erstehen einer vollkommenen Gesellschaft auf den Ruinen der alten Welt erwarteten. Die kleine Alzire fing einzelne Worte auf, dachte sich das Glück in der Gestalt eines stets warmen Hauses, wo die Kinder spielen und essen könnten, soviel sie wollten. Katharina saß stumm da, den [*Anmerkung des Korrektors: Tippfehler von "denn" in "den" korrigiert] Kopf auf die Hand gestützt und schaute immer auf Etienne. Als dieser zu sprechen aufhörte, fuhr sie zusammen und ward ganz bleich, wie von einem Schauer ergriffen.
Doch jetzt blickte Frau Maheu auf die Kuckucksuhr.
»Schon neun Uhr vorüber!« rief sie. »Ist's möglich? Wir werden morgen nicht aufstehen können.«
Sie erhob sich vom Tische in unbehaglicher, beinahe verzweifelter Stimmung. Es war ihnen, als seien sie reich geworden und sänken nun mit einemmal wieder ins Elend zurück. Der Vater Bonnemort, der zur Grube ging, brummte, daß solche Geschichten die Suppe nicht besser machten. Die anderen gingen – einer hinter dem andern – hinauf und bemerkten die feuchten Mauern und die drückende, schlechte Luft. Wenn Katharina als letzte zu Bett gegangen war und die Kerze ausgelöscht hatte, hörte Etienne in der tiefen Stille, die in dem schlafenden Dorfe herrschte, wie das Mädchen sich in fieberhafter Erregung lange Zeit auf seinem Lager wälzte, ehe es seine Ruhe finden konnte.
Bei diesen abendlichen Gesprächen waren oft auch Nachbarn anwesend; Levaque, den die Idee der Teilung begeisterte; Pierron, der die Vorsicht übte, schlafen zu gehen, sobald die Gesellschaft angegriffen wurde. Dann und wann kam auch Zacharias auf einen Augenblick; allein die Politik langweilte ihn; er zog es vor, bei Rasseneur einen Schoppen zu trinken. Chaval überbot alle und forderte Blut. Fast jeden Abend verbrachte er eine Stunde bei den Maheu, und in dieser Beharrlichkeit lag eine uneingestandene Eifersucht, die Furcht, daß man ihm Katharina nehmen könne. Dieses Mädchen, dessen er schon überdrüssig wurde, war ihm teuer geworden, seitdem ein Mann in ihrer Nähe schlief und sie bei Nacht ihm nehmen konnte.
Etiennes Einfluß gewann an Ausdehnung; er brachte allmählich das ganze Bergdorf in Aufruhr. Es war eine stille Propaganda, und um so sicherer, als Etienne in aller Achtung höher stieg. Wenngleich als kluge Hausfrau noch mißtrauisch, behandelte die Maheu ihn rücksichtsvoll als einen jungen Mann, der pünktlich zahlte, weder trank noch spielte, die Nase immer in die Bücher steckte; und sie verschaffte ihm bei den Nachbarinnen den Ruf eines wohlunterrichteten jungen Mannes, und die Nachbarinnen mißbrauchten, dies, indem sie sich ihre Briefe von ihm schreiben ließen. Er war eine Art Geschäftsagent geworden, den man bei den Korrespondenzen der Familien in allen schwierigen Fällen zu Rate zog. Im Monat September war es ihm endlich auch gelungen, seine Unterstützungskasse zu gründen. Wohl stand sie noch auf schwachen Füßen, weil sie nur die Bewohner des Dorfes zu ihren Mitgliedern zählte; allein er hoffte auf den Anschluß der Bergleute sämtlicher Gruben, besonders wenn die Gesellschaft, die bisher gleichgültig geblieben war, auch fernerhin keine Schwierigkeiten machte. Man hatte ihn zum Sekretär des Unterstützungsvereins gewählt, und er bezog sogar ein kleines Gehalt für die Besorgung der Schreibsachen. Dadurch ward er fast wohlhabend. Ein verheirateter Bergmann kann sich kaum sein Leben gestalten; ein lediger jedoch, der keine anderen Laster hat, kann einen Spargroschen zurücklegen.
Von da ab vollzog sich bei Etienne eine langsame Umwandlung. Es erwachten in ihm Anwandlungen von Nettigkeit und Wohlstand, die in seiner Armut geschlummert hatten; er kaufte Tuchkleider und ein Paar feine Stiefel. Mit einem Schlage wurde er Führer; das ganze Dorf scharte sich um ihn. Es war eine köstliche Befriedigung seiner Eigenliebe; er berauschte sich an den ersten Freuden der Volkstümlichkeit. Daß er, noch so jung, vor kurzem noch ein Handlanger, als Gebieter an der Spitze der anderen stand: das erfüllte ihn mit Stolz, nährte seinen Traum von einer nahen Revolution, in der er eine Rolle spielen sollte. Sein Gesicht veränderte sich; er ward ernst und hörte sich gern reden, während sein wachsender Ehrgeiz seine Anschauungen fieberhaft durchglühte und ihn zum Kampfe drängte.
Indessen kam der Spätherbst; die Oktoberkälte hatte die kleinen Gärten des Arbeiterdorfes mit Rost überzogen. Hinter den dürren Fliederbüschen suchten Schlepper und Schlepperinnen nicht mehr Zuflucht, um auf dem Dache des Schuppens sich gütlich zu tun; es waren nur mehr die Wintergemüse übrig, Kohlköpfe, mit den Perlen weißen Reifes überzogen, Lauch und Spätsalat. Wieder peitschte der Regen die roten Ziegeldächer und ergoß sich geräuschvoll in die Fässer unter den Dachtraufen. Die Öfen in den Häusern kühlten nicht mehr aus und schwängerten die Luft in den Stuben mit Kohlendünsten. Eine Jahreszeit des Elends hub wieder an.
In einer der ersten kalten Oktobernächte konnte Etienne nicht einschlafen, weil er noch in großer Erregung war nach dem Vortrage, den er unten in der Wohnstube gehalten hatte. Er hatte Katharina unter die Bettdecke schlüpfen und dann die Kerze auslöschen sehen. Auch sie schien in großer Erregung, von einer jener Züchtigkeitsregungen gequält, in denen sie zuweilen so hastig und ungeschickt sich entkleidete, daß sie sich nur noch mehr entblößte. Unbeweglich, wie tot, lag sie in der Finsternis in ihrem Bette; aber er merkte dennoch, daß sie nicht schlief. Er fühlte es, daß sie an ihn denke, gleichwie er an sie dachte; niemals hatte dieser stumme Austausch ihrer Wesen sie mit einer solchen Verwirrung erfüllt. Es vergingen Minuten, weder er noch sie bewegten sich; nur ihr Atem floß zusammen trotz ihrer Anstrengungen, ihn zurückzuhalten. Zweimal war er auf dem Sprunge, sich zu erheben und Besitz von ihr zu ergreifen. Es war doch töricht, so großes Verlangen nacheinander zu tragen und es nicht zu befriedigen. Warum ihren Begierden trotzen? Die Kinder schliefen; sie war bereit; er war sicher, daß sie seiner mit stockendem Atem harrte, daß sie stumm, mit zusammengepreßten Zähnen die Arme um ihn schlingen würde. So verfloß nahezu eine Stunde. Er ging nicht hin, um sie in Besitz zu nehmen; sie wandte sich nicht um aus Furcht, daß sie ihn rufen könne. Je mehr sie Seite an Seite lebten, desto mehr erhob sich zwischen ihnen eine Scheidewand von Scham, Widerstreben, freundschaftlicher Zartheit, welche sie sich selbst nicht erklären konnten.