Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Fünftes Kapitel

Etienne war, nachdem er in Rasseneurs Herberge eine Suppe gegessen, in die ihm angewiesene schmale Dachkammer hinaufgegangen und daselbst todmüde, völlig angekleidet, auf sein Bett gesunken. In zwei Tagen hatte er nicht vier Stunden geschlafen. Als er in der Abenddämmerung erwachte, war er eine Weile betäubt und erkannte den Ort nicht, wo er sich befand. Er fühlte ein solches Unbehagen, eine solche Schwere des Kopfes, daß er sich mühsam aufrichtete, um ein wenig frische Luft zu schöpfen, bevor er sein Abendessen einnahm und sein Nachtlager aufsuchte.

Das Wetter draußen heiterte sich immer mehr auf; der bisher tiefschwarze Himmel bedeckte sich mit kupferroten Wolken, die mit einem jener lang andauernden Regen beladen waren, wie sie in Nordfrankreich häufig sind; der Regen kündete durch die feuchte Wärme der Luft seine Nähe an. Die Nacht brach schnell herein und hüllte die verschwimmenden Fernen der Ebene in tiefe Finsternis. Über diesem unermeßlichen Meer von rötlichen Feldern schien der tief hängende Himmel in schwarzem Staube zu zerfließen, und nicht der leiseste Windhauch belebte die nächtliche Finsternis. Es war die stille, fahle Trübsal eines Kirchhofes.

Etienne ging geradeaus vor sich hin; er hatte keinen andern Zweck, als sein Fieber abzuschütteln. Als er bei dem Voreuxschachte vorbeikam, der dunkel in seiner Vertiefung lag, und wo noch keine Lampe angezündet war, blieb er einen Augenblick stehen, um den Auszug der Tagarbeiter mit anzusehen. Ohne Zweifel war sechs Uhr vorüber; Karrenschieber, Verlader, Pferdewärter kamen gruppenweise heraus, dazwischen auch Mädchen vom Sichtungswerke, deren undeutliche Gestalten sich im Dunkel entfernten.

Zuerst erschien die Brulé mit ihrem Schwiegersohn Pierron. Sie zankte ihn aus, weil er sie in einem Streite, den sie mit einem Aufseher wegen ihrer Arbeitsleistung gehabt, nicht unterstüzt hatte.

»Du bist ein Schwächling! Wie kann ein Mann sich so ducken vor einem dieser Saukerle, die uns das Mark aus den Knochen saugen!«

Pierron folgte ihr ruhig, ohne zu antworten. Schließlich sagte er:

»Hätte ich vielleicht Händel mit ihm anfangen sollen? Ich danke für solchen Verdruß.«

»Ja, halte ihm nur den Hintern hin!« schrie sie. »Herrgott! Wenn meine Tochter mir gehorcht hätte! ... Ist es nicht genug, daß sie mir den Mann getötet; soll ich mich bei ihnen etwa noch bedanken? Nein, wahrhaftig, wenn ich ein Mann wäre, ich würde sie schinden!«

Ihre Stimmen verloren sich. Etienne sah die Alte sich entfernen mit ihrer Adlernase, ihrem fliegenden, weißen Haar, ihren mageren, langen Armen, die wütend herumfuchtelten. Doch jetzt ward er auf das Gespräch von zwei jungen Leuten aufmerksam, die hinter ihm herkamen. Er erkannte Zacharias, der hier auf seinen Freund Mouquet gewartet hatte.

»Bist du da?« fragte dieser. »Wir wollen rasch essen und dann zum »Vulkan« gehen.«

»Sogleich; ich habe zu tun.«

»Was denn?«

Er wandte sich um und bemerkte Philomene, die aus dem Sichtungswerke kam. Er schien zu begreifen.

»Ach so! ... Gut, ich gehe voraus.«

»Ja, ich komme nach.«

Als Mouquet ging, begegnete er seinem Vater, dem alten Mouque, der ebenfalls aus dem Voreuxschachte kam; die beiden Männer sagten einander gute Nacht, dann ging der Sohn auf der Straße fort, während der Vater längs des Kanals dahineilte.

Zacharias drängte Philomene – trotz ihres Widerstrebens – nach demselben abgelegenen Wege. Sie habe Eile, sagte sie: ein andermal. Dann zankten sie wie zwei Leute, die seit langer Zeit zusammenlebten. Es sei gar nicht ergötzlich, klagte sie, sich nur außer dem Hause zu treffen, besonders im Winter nicht, wenn die Erde naß sei und man sich nicht in die Getreidefelder legen könne.

»Nein, nicht davon ist die Rede«, brummte er ungeduldig. »Ich habe dir etwas zu sagen.«

Er hielt sie umschlungen und führte sie mit sanfter Gewalt hinweg. Als sie sich im Schatten des Hügels befanden, wollte er wissen, ob sie Geld habe.

»Wozu denn?« fragte sie.

Er geriet in Verwirrung und redete etwas von einer Schuld von zwei Franken, die seiner Familie schwere Sorgen verursache.

»Schweig! ... Ich habe Mouquet gesehen; du gehst wieder nach dem »Vulkan«, wo die schmutzigen Bänkelsängerinnen sind.«

Er verteidigte sich, schlug sich an die Brust und gab sein Ehrenwort. Als sie zu alldem nur mit den Achseln zuckte, sagte er plötzlich:

»Komm mit uns, wenn es dir Vergnügen macht ... Du siehst wohl, daß du mir nicht im Wege bist. Was will ich denn auch mit diesen Bänkelsängerinnen? ... Kommst du?«

»Und der Kleine?« erwiderte sie. »Mit einem Kinde, das ewig heult, kann man sich nicht rühren ... Laß mich nach Hause gehen; ich wette, daß man dort vor Geschrei sein eigen Wort nicht mehr hört.«

Allein er hielt sie zurück und bat, Sie möge Vernunft annehmen; es sei nur, um nicht vor Mouquet als Tölpel zu erscheinen, dem er mitzutun versprochen habe. Ein Mann könne nicht jeden Abend mit den Hühnern schlafen gehen. Endlich überwunden schlug sie einen Schoß ihres Leibchens zurück, trennte mit dem Nagel die Naht auf und zog aus einer Ecke des Saumes mehrere Zehnsousstücke hervor. Aus Furcht, von ihrer Mutter bestohlen zu werden, verbarg sie den Lohn der Überstunden, die sie in der Grube machte.

»Ich habe fünf, wie du siehst und will dir drei davon geben, sagte sie ... Doch mußt du mir schwören, daß du deine Mutter bestimmst, daß wir uns heiraten. Ich habe dieses Leben im Freien satt. Überdies wirft mir meine Mutter jeden Bissen vor, den ich esse ... Schwöre, schwöre zuerst!«

Sie sprach zu ihm mit der weichen Stimme eines großen, kränklichen, leidenschaftslosen Mädchens, das seines Daseins überdrüssig geworden. Er schwor und beteuerte, die Sache sei gelobt und daher heilig; als er seine drei Geldstücke hatte, küßte er Philomene, kitzelte sie, brachte sie zum Lachen und wäre bis ans Ende gegangen – in diesem Winkel des Hügels, der ihr Winterzimmer war – wenn sie ihm nicht wiederholt hätte, daß sie nicht wolle, weil es ihr kein Vergnügen mache. Sie kehrte allein nach dem Arbeiterdorfe zurück, während er querfeldein ging, um seinen Kameraden einzuholen.

Etienne war ihnen mechanisch von ferne gefolgt, ohne zu begreifen, in dem Glauben, es handle sich um ein bloßes Stelldichein. Die Mädchen in den Bergwerken waren frühzeitig reif; er erinnerte sich der Arbeiterinnen von Lille, denen er hinter den Fabriken auflauerte, dieser Schwärmer von Mädchen, die in der Verlassenheit ihres Elends schon mit vierzehn Jahren verderbt waren. Aber eine andere Begegnung überraschte ihn noch mehr, und er hielt auf seinem Wege inne.

Am Fuße des Hügels, in einem schluchtartigen Spalt voller Steine, die aus der Höhe herniedergekollert waren, saß der kleine Johannes und zankte sehr heftig mit Lydia und Bebert, die rechts und links von ihm saßen.

»Was sagt ihr? ... Ich werde jedem von euch noch eine Maulschelle verabreichen, wenn ihr nicht zufrieden seid ... Von wem ist der Einfall?«

In der Tat hatte Johannes einen Einfall gehabt. Nachdem er sich, mit den beiden anderen eine Stunde lang in den Feldern längs des Kanals herumgetrieben und Löwenzahn gesammelt hatte, kam er angesichts des Salathaufens auf den Gedanken, daß man zu Hause unmöglich soviel Salat werde essen können; aber anstatt nach dem Arbeiterdorfe zurückzukehren, war er noch Montsou gegangen, hatte Bebert als Aufpasser bei sich behalten und Lydia genötigt, bei den Bürgersleuten anzuläuten und Löwenzahnsalat zum Kauf anzubieten. Er war erfahren in solchen Dingen und sagte, die Mädchen könnten alles verkaufen, was sie wollten. Im Eifer dieses Handels wurde der ganze Bund Salat verkauft, die Kleine brachte elf Sous zusammen, und jetzt wollten sie den Erlös teilen.

»Das ist ungerecht«, erklärte Bebert. »Das Geld muß in drei gleiche Teile geteilt werden ... Wenn du sieben Sous für dich behältst, entfallen auf uns beide nur je zwei Sous.«

»Warum ist das ungerecht?« entgegnete Johannes wütend. »Vor allem habe ich mehr Salat gepflückt.«

Gewöhnlich unterwarf sich der andere mit einer furchtsamen Bewunderung und einer Leichtgläubigkeit, die ihn stets das Opfer sein ließ. Obgleich älter und stärker als Johannes, ließ er sich von diesem sogar ohrfeigen. Allein das viele Geld reizte ihn diesmal zum Widerstande.

»Nicht wahr, Lydia, er betrügt uns? ... Wenn er nicht gleichmäßig teilen will, sagen wir es seiner Mutter.«

Als Johannes dies hörte, streckte er dem andern die Faust unter die Nase.

»Sag das noch einmal! Ich werde zu euch gehen und erzählen, daß ihr den Salat, der für die Mutter bestimmt war, verkauft habt ... Und dann, Tölpel, kann man denn elf in drei gleiche Teile aufteilen? Versuche es einmal, wenn du gar so pfiffig bist ... Da hat jeder von euch seine zwei Sous. Nehmt sie rasch, sonst stecke ich sie wieder ein.«

Bebert war besiegt und nahm die zwei Sous. Die zitternde Lydia hatte nichts gesagt; sie hatte vor Johannes die Angst und Zärtlichkeit einer geprügelten kleinen Frau. Als er ihr die zwei Sous reichte, streckte sie mit einem unterwürfigen Lachen die Hand aus. Allein er überlegte sich plötzlich die Sache.

»Was willst du mit dem vielen Gelde anfangen?« fragte er. »Deine Mutter wird es dir sicher abnehmen, wenn du es nicht zu verstecken weißt ... Es ist besser, ich behalte es bei mir. Wenn du Geld brauchst, verlange von mir welches.«

Damit verschwanden die neun Sous. Um sie stille zu machen, hatte er sie lachend umfangen und wälzte sich mit ihr am Boden. Sie war sein Frauchen; sie versuchten in den dunkeln Winkeln die Liebe, die sie zu Hause hinter den dünnen Wänden und zwischen den Türritzen sahen und hörten. Sie wußten alles, aber sie konnten noch nicht, denn sie waren zu jung und tasteten daher nur und spielten stundenlang wie lasterhafte junge Hunde. Er nannte dies »Vater und Mutter spielen« und wenn er sie hinwegführte, lief sie mit ihm und ließ ihn gewähren, mit dem köstlichen Schauer des Instinktes, oft verletzt, aber immer wieder nachgebend, in Erwartung irgendeiner Sache, die nicht kam.

Da Bebert zu solchen Vergnügungen nicht hinzugezogen wurde, vielmehr Kopfnüsse erhielt, wenn er Lydia betasten wollte, war er verlegen und wütend, wenn die anderen zwei sich herzten, was sie völlig ungezwungen in seiner Gegenwart taten. Darum hatte er denn nur einen Gedanken: sie zu erschrecken und zu stören, indem er ihnen zurief, daß man sie sehe.

»Aufgepaßt! Ein Mann schaut zu!«

Diesmal log er nicht; es war Etienne, der sich entschloß, seinen Weg fortzusetzen. Die Kinder sprangen empor und liefen davon; er selbst ging weiter um den Hügel herum und dann den Kanal entlang, erheitert durch den Schrecken dieser kleinen Schelme. Gewiß war es zu früh in ihrem Alter; allein sie sahen und hörten soviele Sachen, daß man sie hätte binden müssen, um sie zurückzuhalten. Im Grunde ward Etienne jedoch traurig gestimmt.

Hundert Schritte weiter stieß er wieder auf Liebespaare. Er hatte Réquillart erreicht, und hier strichen rings um das alte, verfallene Bergwerk alle Mädchen von Montsou mit ihren Liebhabern herum. Es war das gemeinsame Stelldichein, dieser entlegene und öde Winkel, wo die Schlepperinnen ihr erstes Kind machten, wenn sie nicht den Mut hatten, es in dem Schuppen zu tun. Die zerbrochenen Palisaden eröffneten jedem einen Zugang zu dem ehemaligen Werkhofe, aus dem jetzt ein wüstes Feld geworden, angefüllt mit den Trümmern zweier eingestürzter Schuppen und dem Gerippe der großen, aufrecht gebliebenen Gerüste. Außer Gebrauch gesetzte Karren standen umher; alte, halb verfaulte Hölzer waren zuhauf geschichtet, während ein üppiges Wachstum diesen Fleck Erde überwucherte und sich in Gestalt von dichtem Grase ausbreitete, in Gestalt von kräftigen, jungen Bäumen in die Höhe schoß. Jedes Mädchen war hier gleichsam zu Hause; es gab abseits gelegene Winkel für alle; ihre Liebsten brachten sie auf den Balken, hinter den Hölzern, in den Karren zu Falle. Man suchte Unterschlupf, wo man konnte und kümmerte sich nicht um die anderen. Es schien, als sei dieses Treiben rings um die erloschene Maschine, neben dem Schachte, der es müde geworden, die Kohle auszuspeien, eine Vergeltung der Schöpfung, die freie Liebe, die von dem Instinkt angetrieben, Kinder in die Leiber dieser halbwüchsigen Mädchen pflanzte.

Indes wohnte ein Wächter da, der alte Mouque, dem. die Gesellschaft zwei, fast unter dem niedergerissenen Schachtturme gelegene Stuben überließ, die der stetig zu gewärtigende Einsturz der letzten Balken zu zermalmen drohte. Er hatte einen Teil der Decke stützen müssen und lebte da sehr behaglich mit seiner Familie, er und Mouquet in der einen Stube, die Mouquette in der anderen. Da es in den Fenstern keine einzige Scheibe mehr gab, hatte er sich entschlossen, sie mit Brettern zu vernageln; dies machte die Stuben dunkel, aber auch recht warm. Im übrigen hatte dieser Wächter nichts zu bewachen; er wartete die Pferde im Voreuxschachte und kümmerte sich nicht um die Ruinen der Réquillartgrube, deren Einfahrt man nur offen ließ, um sie als Lüftungsschacht für die benachbarte Grube zu benutzen.

So verlebte Vater Mouque hier seine alten Tage, umgeben von Liebeshändeln. Schon mit zehn Jahren hatte die Mouquette es in allen Winkeln dieser Trümmer getrieben, nicht als scheues, grünes Gassenmädchen wie Lydia, sondern als eine schon entwickelte Dirne, gut für bärtige Jungen. Der Vater konnte nichts einzuwenden haben, denn sie betrug sich ihm gegenüber mit geziemender Achtung und brachte niemals einen Liebhaber ins Haus. Er war übrigens an diese Dinge gewöhnt. Wenn er nach dem Voreuxschachte ging oder von dort zurückkehrte, sooft er eben sein Nest verließ, konnte er keinen Schritt tun, ohne auf ein Pärchen zu stoßen, das im Grase lag; noch schlimmer war es, wenn er am andern Ende des eingefriedeten Raumes Holz sammeln wollte, um seine Suppe zu kochen oder Klebekraut für seine Kaninchen; dann sah er alle Mädchen von Montsou nacheinander die lüsternen Nasen heben und mußte aufpassen, um nicht über die Beine zu straucheln, die sich bis hart an die Pfade streckten. Allmählich ward durch solche Begegnungen niemand mehr gestört, weder er, der nur achthatte, daß er nicht fiel, noch die Dirnen, die er ruhig ihre Sache beenden ließ, indem er sich still davonschlich als wackerer Mann, den die Dinge der Natur ruhig ließen. Allein gleichwie sie ihn kannten, hatte auch er sie schließlich kennengelernt, wie man die kecken Elstern kennenlernt, die auf den Obstbäumen des Gartens Unzucht treiben. Wie diese Jugend sich gütlich tat! Zuweilen nickte er mit stillem Bedauern und wandte den Kopf weg von den Dirnen, die in ihren dunkeln Winkeln gar zu laut schnauften. Bloß eine Sache verdroß ihn: zwei Verliebte hatten die üble Gewohnheit, sich hinter der Wand seiner Stube zu umarmen. Nicht als ob ihn dies am Schlafen hinderte; aber sie stießen so heftig an, daß sie auf die Dauer die Wand erschütterten.

Jeden Abend erhielt der alte Mouque den Besuch seines Freundes, des Vaters Bonnemort, der vor dem Abendessen regelmäßig denselben Spaziergang machte. Die beiden Alten redeten nicht viel, tauschten kaum zehn Worte während der halben Stunde aus, die sie zusammen verbrachten. Aber es freute sie, sich so zusammenzufinden, an die Dinge von einst zu denken, die sie gemeinsam neu durchlebten, ohne davon zu reden. Zu Réquillart setzten sie sich auf einen Balken Seite an Seite, ließen von Zeit zu Zeit ein Wort fallen und versanken dann wieder in ihre Träumerei, die Blicke zu Boden gesenkt. Ohne Zweifel verjüngten sie sich. Rings um sie her kosten Burschen mit ihren Schätzen; es gab ein Geräusch von Küssen und Lachen, ein warmer Weibergeruch stieg aus dem zerdrückten, frischen Grase auf. Hinter dieser Grube hatte vor dreiundvierzig Jahren der Vater Bonnemort sich sein Weib geholt, eine Schlepperin, die so schwächlich war, daß er sie in einen Karren setzte, um sie bequem umarmen zu können. Das war schon lange her! Die beiden Alten schüttelten die Köpfe und trennten sich endlich, oft ohne sich auch nur »Gute Nacht!« zu sagen.

Diesen Abend jedoch sagte, eben als Etienne ankam, der Vater Bonnemort, indem er sich vom Balken erhob, um heimzukehren, zu seinem Kameraden Mouque:

»Gute Nacht, Alter! ... Sprich, hast du die »Brenzliche« gekannt?«

Mouque blieb einen Augenblick stumm und zuckte nur mit den Achseln; dann sagte er, ins Haus zurückkehrend:

»Gute Nacht! Gute Nacht, Alter!«

Jetzt ließ sich Etienne auf dem Balken nieder. Seine Traurigkeit wuchs, ohne daß er wußte weshalb. Der Greis, dessen Rücken er verschwinden sah, erinnerte ihn an seine Ankunft am Morgen und die vielen Worte, die der ärgerliche Wind dem stillen Alten erpreßt hatte. Wieviel Elend! Alle diese Mädchen, die, von der Arbeit erschöpft, noch dumm genug waren, des Abends Kinder zu machen, Geschöpfe in die Welt zu setzen, deren Schicksal harte Arbeit und Elend war! Das nahm nie ein Ende, wenn sie sich immer wieder die Leiber mit Hungerleidern anfüllen ließen. Sollten sie sich nicht lieber den Bauch verstopfen und die Schenkel zusammenpressen, wie bei der Annäherung eines Unglücks? Vielleicht hing er nur deshalb solchen trüben Gedanken nach, weil es ihn verdroß, allein zu sein, während die anderen jetzt zu zwei und zwei ihres Weges gingen und sich vergnügten. Das milde Wetter drückte auf ihn; einzelne Regentropfen fielen auf seine fiebernden Hände. Jawohl, alle diese Mädchen fielen der Leidenschaft zum Opfer; sie war stärker als die Vernunft.

Wie Etienne im Dunkel unbeweglich dasaß, kam eben ein Paar von Montsou her an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken, und betrat das wüste Feld des Réquillartschachtes. Das Mädchen, sicherlich noch eine Jungfrau, wehrte sich, weigerte sich und bat leise um Schonung, während der Bursche sie wortlos nach einem dunkeln Schuppen drängte, der noch aufrecht stand und unter dem altes, schimmeliges Tauwerk in einem Haufen lag. Es war Katharina mit dem langen Chaval. Etienne hatte sie nicht erkannt, als sie vorübergingen, und folgte ihnen mit den Augen, er lauerte auf das Ende der Geschichte, von einer Sinnlichkeit ergriffen, die seinen Gedanken eine andere Richtung gab. Warum hätte er sich einmengen sollen? Wenn die Mädchen sich weigern, wollen sie genötigt werden.

Das Dorf der Zweihundertvierzig verlassend, war Katharina immer auf der Straße nach Montsou gegangen. Seit ihrem zehnten Jahre, nämlich seitdem sie ihren Lebensunterhalt in der Grube erwarb, streifte sie so in der Gegend umher in der vollen Freiheit, welche die Grubenarbeiterfamilien genossen; wenn mit fünfzehn Jahren noch kein Mann sie gehabt, so hatte sie dies dem später Erwachen ihrer Mannbarkeit zu danken, deren Krise sie noch erwartete. Bei dem gesellschaftlichen Werkhofe angekommen, ging sie quer über die Straße und trat bei einer Wäscherin ein, wo sie die Mouquette sicher zu finden hoffte; denn diese lebte in Gesellschaft von Weibern, die vom Morgen bis zum Abend da herumsaßen und sich gegenseitig Kaffeetäßchen zahlten. Allein zu ihrem Verdruß mußte sie erfahren, daß die Mouquette soeben die Gesellschaft reguliert hatte und folglich ihr die versprochenen zehn Sous nicht leihen konnte. Vergebens bot man ihr, um sie zu trösten, ein Glas heißen Kaffee an. Sie wollte auch nicht, daß ihre Kameradin von einem anderen Frauenzimmer die zehn Sous entlehne. Eine Regung der Sparsamkeit kam über sie, eine Art abergläubischer Furcht, die Gewißheit, daß das Band, wenn sie es jetzt kaufe, ihr Unglück bringen werde.

Sie beeilte sich, den Heimweg einzuschlagen, und war schon bei den letzten Häusern von Montsou, als ein Mann, der auf der Schwelle der Herberge Piquettes stand, sie anrief:

»He, Katharina, wohin so geschwind?«

Es war der lange Chaval. Sie war verdrossen über diese Begegnung, nicht weil er ihr mißfiel, sondern weil sie nicht zum Spaßen gelaunt war.

»Komm herein, etwas trinken ... Ein Gläschen Süßen, – willst du?«

Sie lehnte artig ab; die Nacht sei da, man erwarte sie zu Hause. Er war näher gekommen bis mitten in die Straße und bat sie mit leiser Stimme. Er trug sich schon lange mit der Absicht, sie zu bestimmen, in das Zimmer zu kommen, das er im ersten Stockwerke der Herberge Piquettes bewohnte, ein schönes Zimmer mit einem so großen Bette, daß ein Ehepaar darin Platz gefunden habe. Habe sie denn Furcht vor ihm, daß sie sich weigere? fragte er. Sie lachte gutmütig und erwiderte, sie werde in der Woche kommen, in der keine Kinder wachsen. Dann von einer Sache zur andern kommend, sprach sie von dem blauen Bande, das sie nicht hatte kaufen können.

»Ich will dir eines kaufen«, rief er.

Sie errötete, weil sie fühlte, daß sie wohl daran tue, noch immer abzulehnen; im Grunde ward sie aber dennoch von dem Verlangen geplagt, ihr Band zu haben. Sie kam wieder auf den Einfall eines Anlehens und nahm schließlich sein Anerbieten an unter der Bedingung, daß sie ihm zurückgebe, was er für sie ausgeben solle. Das gab wieder Anlaß zu Scherzen; sie kamen überein, daß sie ihm das Geld zurückerstatte, wenn sie nicht mit ihm schlafe. Eine neue Schwierigkeit ergab sich, als er davon sprach, daß sie das Band bei Maigrat kaufen solle.

»Nein, nicht bei Maigrat; die Mutter hat es mir verboten.«

»Laß das; man muß nicht immer erzählen, wohin man geht ... Maigrat hält die schönsten Bänder in Montsou.«

Als Maigrat den langen Chaval und Katharina in seinen Laden eintreten sah wie zwei Verliebte, die ihr Hochzeitsgeschenk kaufen, ward er sehr rot und zeigte seine blauen Bänder mit der Wut eines Menschen, den man verhöhnt. Sobald er die jungen Leute bedient hatte, stellte er sich auf die Schwelle, um ihnen nachzuschauen, wie sie in dem Abenddunkel sich entfernten; als seine Frau kam, um eine Aufklärung zu verlangen, fiel er mit Schimpfreden über sie her und schrie, daß eines Tages die schmutzige Welt, die ihm den Staub von den Füßen lecken müßte, für Ihren Undank büßen solle.

Der lange Chaval gab auf der Straße Katharina das Geleite. Mit hängenden Armen ging er neben ihr her, aber er stieß sie an die Hüfte und führte sie so, ohne es merken zu lassen. Plötzlich wurde sie gewahr, daß er sie genötigt hatte, die Heerstraße zu verlassen, und daß sie zusammen den schmalen Weg nach Réquillart einschlugen. Doch sie fand nicht Zeit, deshalb zu grollen: er hatte sie schon um den Leib gefaßt und betäubte sie mit einer Flut von Schmeichelworten. Sie sei doch einfältig, sich zu fürchten; wolle er ihr denn Schlimmes zufügen, der lieben Kleinen, die so fein sei wie Seide und zart zum Fressen! Er blies ihr hinter das Ohr, in den Hals, daß eine Gänsehaut sie überlief. Ihr versagte die Stimme, sie fand kein Wort. Es schien in der Tat, als ob er sie liebe. Gerade letzten Sonnabend, nachdem sie ihre Kerze ausgelöscht, hatte sie sich gefragt, was geschehen werde, wenn er sie so ergreife; dann war sie eingeschlafen und hatte geträumt, daß sie, entwaffnet durch das Vergnügen, nichts mehr dagegen eingewendet habe. Warum empfand sie heute bei demselben Gedanken ein Widerstreben, gleichsam ein Bedauern? Während er mit seinem Schnurrbart den Nacken kitzelte, so lieblich, daß sie dabei die Augen schloß, zog in dem Dunkel ihrer geschlossenen Augenlider der Schatten eines anderen Mannes vorüber, des jungen Menschen, den sie am Morgen gesehen.

Plötzlich blickte Katharina um sich. Chaval hatte sie unter die Ruinen von Réquillart geführt, und sie schauderte zurück vor der Finsternis des eingestürzten Schuppens.

»O nein, nein!« murmelte sie. »Laß mich los, ich bitte dich!«

Die Furcht vor dem Manne raubte ihr die Sinne, jene Furcht, die in instinktmäßiger Abwehr die Muskeln erstarren läßt, selbst wenn die Mädchen wollen und die überwältigende Annäherung des Mannes fühlen. Ihre Jungfräulichkeit, die doch nichts mehr zu lernen hatte, war entsetzt, als drohe ihr ein Streich, eine Verwundung, deren noch unbekannten Schmerz sie fürchtete.

»Nein, nein, ich will nicht! Ich sage dir, daß ich zu jung bin ... Später, gewiß, wenn ich reif bin ...«

Darauf entgegnete er brummend:

»Närrchen, dann hast du doch nichts zu fürchten ... Was liegt daran?«

Doch er redete nichts mehr. Er hatte sie fest umschlungen und drängte sie unter den Schuppen. Sie fiel rücklings auf das alte Tauwerk hin, gab den Widerstand auf und erlag dem Manne noch vor dem Alter mit jener ererbten Unterwerfung, welche die Mädchen ihres Stammes schon im Kindesalter unter Gottes freiem Himmel sich hinwerfen ließ. Ihr angstvolles Stammeln erlosch; man hörte nichts mehr als das heiße Keuchen des Mannes.

Etienne hatte gelauscht, ohne sich zu rühren. Wieder eine, die zu Falle kam! Und nun, da er die Komödie gesehen, erhob er sich, erfüllt von Mißbehagen, Eifersucht und Zorn. Er tat sich keinen Zwang mehr an und schritt über die Balken hinweg; denn diese beiden waren jetzt zu sehr beschäftigt, um sich stören zu lassen. Er war denn auch sehr überrascht, als er nach etwa hundert Schritten auf der Straße sich umwandte und sah, daß sie schon auf den Beinen waren und, gleich ihm, den Weg nach dem Dorfe einzuschlagen schienen. Der Mann hatte das Mädchen wieder um den Leib gefaßt, drückte sie mit dankbarer Miene an sich und redete eifrig zu ihr; sie aber schien Eile zu haben und wollte rasch heimkehren, hauptsächlich wegen der Verspätung verdrossen scheinend.

Da wurde Etienne von dem Verlangen gequält, ihre Gesichter zu sehen. Es war albern, und er beschleunigte seine Schritte, um der Versuchung nicht nachzugeben. Doch seine Füße verlangsamten ihre Schritte von selbst; bei der ersten Laterne verbarg er sich im Schatten. Er war starr von Betroffenheit, als er in den Vorbeikommenden Katharina und den langen Chaval erkannte. Er zweifelte zuerst. War sie es wirklich, dieses Mädchen im blauen Kleide mit dem Häubchen, war dies der Junge, den er am Morgen mit der Hose und der Leinwandkappe bekleidet gesehen hatte? Deshalb hatte sie sich an ihn schmiegen können, ohne daß er in ihr das Mädchen erkannte. Doch er zweifelte nicht länger; er hatte ihre Augen wiedererkannt, die grünliche Durchsichtigkeit dieser klaren, tiefen Quelle. Welche Dirne! Er fühlte ein wütendes Bedürfnis, sich an ihr zu rächen, ohne Beweggrund, bloß aus Verachtung. Sie mißfiel ihm übrigens in ihrer Mädchenkleidung; er fand sie abscheulich.

Katharina und Chaval waren langsam vorübergegangen. Sie ahnten nicht, daß sie in solcher Weise bespäht wurden; er hielt sie einen Augenblick zurück, um sie hinter dem Ohr zu küssen, während sie stehen blieb, um seine Liebkosungen zu genießen, die sie zum Lachen brachten. Etienne war zurückgeblieben, mußte ihnen aber dennoch folgen, ärgerlich darüber, daß sie ihm den Weg verstellten, und die Dinge mit ansehen, die ihn erbitterten. So war es denn wahr, was sie ihm am Morgen geschworen hatte: sie war noch niemandes Geliebte; und er hatte es nicht geglaubt, hatte sich ihrer beraubt, um nicht so zu tun wie der andere, hatte sie sich vor der Nase wegfischen lassen und die Albernheit soweit getrieben, sich in unflätiger Weise an ihrem Anblick zu erheitern. Das raubte ihm schier die Sinne; er ballte die Fäuste und hätte diesen Mann zerreißen können in einem jener Anfälle von Mordgier, in denen ihm rot vor den Augen ward.

Der Spaziergang dauerte eine halbe Stunde. Als Chaval und Katharina sich dem Voreuxschachte näherten, verlangsamten sie ihren Gang noch mehr, blieben zweimal am Kanal, dreimal am Fuße des Hügels stehen, in heiterem, zärtlichen Getändel sich vergessend. Auch Etienne mußte jedesmal stehen bleiben, damit sie ihn nicht bemerkten. Er bezwang sich, um nichts mehr als ein brutales Bedauern zu fühlen; das sollte ihm eine Lehre sein, wie er künftig aus Wohlanständigkeit die Mädchen schone. Jenseits des Voreuxschachtes, wo er endlich unbehindert zu Rasseneur hätte zurückkehren können, um sein Abendessen einzunehmen, folgte er ihnen noch immer, begleitete sie zum Dorfe, blieb da eine Viertelstunde im Schatten verborgen stehen und wartete, bis Chaval endlich Katharina heimkehren ließ. Als er sich vergewissert hatte, daß sie nicht mehr beisammen waren, nahm er seinen Gang wieder auf und wanderte sehr weit auf die Straße gen Marchiennes hinaus, an nichts denkend, zu gedrückt und zu traurig, um sich in einem Zimmer einzuschließen.

Erst eine Stunde später gegen neun Uhr durchschritt Etienne wieder das Dorf, indem er sich sagte, er müsse zu Nacht essen und schlafen gehen, wenn er am nächsten Morgen um vier Uhr wieder wach sein wolle. Das Dorf schlief schon ganz schwarz in der nächtlichen Finsternis. Kein Lichtschein sickerte durch die Fensterläden; die langen Häuserreihen waren in den tiefen Schlaf der schnarchenden Kasernen versunken. Bloß eine Katze lief durch die leeren Gärten. Der Tag war zu Ende; die Arbeiter sanken vom Tische in das Bett, erdrückt von Müdigkeit und Sättigung.

In der beleuchteten Wirtsstube Rasseneurs fand er einen Maschinisten und zwei Tagarbeiter bei ihrem Bierschoppen. Bevor er eintrat, warf Etienne noch einen letzten Blick in die dunkle Nacht hinaus. Er fand dieselbe schwarze Unermeßlichkeit wie am Morgen, als er, vom Sturm gejagt, hier ankam. Vor ihm hockte der Voreuxschacht, einem bösartigen Tiere gleich, undeutlich, bloß da und dort das winzige Licht einer Laterne zeigend. Die drei Kohlenfeuer brannten frei auf dem Hügel wie blutrote Monde, von denen sich dann und wann die ins Ungemessene vergrößerten Schattenrisse des Vaters Bonnemort und seines gelben Gaules abhoben. Darüber hinaus in der flachen Ebene hatte der Schatten alles verschlungen: Montsou, Marchiennes, den Wald von Vandame, das weite Meer der Rüben- und Getreidefelder, wo nur mehr – fernen Leuchtfeuern gleich – die blauen Feuer der Hochöfen und die roten Feuer der Koksöfen glänzten. Immer dichter senkte die nächtliche Finsternis sich herab; jetzt fiel der Regen, langsam und andauernd, und hüllte die Nachtlandschaft in seine eintönige Flut ein. Nur eine einzige Stimme blieb hörbar: der kräftige, langsame Atemzug der Fördermaschine, die Tag und Nacht im Gange blieb.


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